Multilateralismus First
Der Amtsantritt von US-Präsident Joe Biden bietet die Chance für eine Neubegründung des transatlanischen Verhältnisses. Die Europäer sollten sie beherzt nutzen.
Die neue US-Regierung wird nicht da anknüpfen, wo Präsident Barack Obama vor vier Jahren aufgehört hat. Natürlich erkennen Joe Biden und sein Team die transatlantische Partnerschaft als Anker für Stabilität und Wohlstand an, aber sie stehen gleichzeitig für eine Politik, die der amerikanischen Mittelklasse zugutekommen soll. Dementsprechend kann Europa sich darauf einstellen, dass die neue amerikanische Regierung einerseits das transatlantische Vertrauensverhältnis wiederherstellt, andererseits aber auch mehr globale Verantwortung an die europäischen Partner delegieren wird. Und Berlin wird dabei der wichtigste Partner Washingtons sein.
Nach vier langen Jahren, in denen der „Dealmaker“ Donald Trump das transatlantische Bündnis strapaziert hat, ist es nicht überraschend, dass die europäischen Staaten misstrauisch geworden sind. Viele fragten sich zuletzt, ob etwas weniger Nähe zu Washington und etwas mehr „strategische Autonomie“ von Vorteil sein könnten. Doch anstatt sich auf diese Debatte zu versteifen, sollte sich der Großteil der politischen Energie in den Hauptstädten Europas auf die Zusammenarbeit mit der neuen US-Regierung – und mit den Republikanern im US-Kongress – konzentrieren. Tatsächlich hat die EU-Kommission mit ihren Vorschlägen für eine zukunftsorientierte transatlantische Agenda zuletzt einen ersten konstruktiven Schritt in diese Richtung getan.
Die Politik Bidens und seines außen- politischen Teams (siehe Kasten nächste Seite) dürfte Balsam für die geschundenen transatlantischen Beziehungen sein. Der neue US-Präsident wird bestrebt sein, die in den vergangenen Jahren entstandenen politischen Gräben wieder zuzuschütten. Bündnisse gelten wieder als sicherheitspolitischer Zugewinn und nicht als Kostenfaktor. Biden signalisierte dies mit der Ankündigung, die USA und „unsere Verbündeten wieder auf die gleiche Wellenlänge zu bringen“.
Washington wird sich unter Biden auf die traditionellen Grundsätze der US-Außenpolitik zurückbesinnen und gleichermaßen um die Aufrechterhaltung der globalen Ordnung und um die Gunst der Wählerinnen und Wähler in den USA bemüht sein. Die Mannschaft des Präsidenten ist machterprobt und sich der weiterhin brodelnden Stimmung und Skepsis gegenüber der politischen Elite bewusst. Ein Zurück zu einer Politik der „endlosen Kriege“ und der bedingungslosen Globalisierung ohne gezielte Investitionen in das eigene Land und in den unterfinanzierten Wohlfahrtsstaat wird es deshalb nicht geben.
Rückkehr zum Multilateralismus
Zwar wird Biden die USA wieder als einen verlässlichen Partner auf der Weltbühne und als Unterstützer des Multilateralismus positionieren. Immerhin hat er bereits den Wiedereintritt in das Pariser Klimaabkommen und in die WHO angekündigt. Doch gleichzeitig wird Biden gegenüber seinen europäischen Kollegen auch auf mehr Zusammenarbeit dringen, wenn es etwa darum geht, die NATO zu stärken oder China und Russland die Stirn zu bieten.
Auch wenn die USA der europäischen Politik derzeit das Bild eines höchst polarisierten Landes bieten, sollte sie dies nicht als Hindernis für die transatlantischen Beziehungen werten. Denn das enge Verhältnis zu Europa wird parteiübergreifend unterstützt. Laut der jüngsten Ausgabe von TransatlanticTrends sind 72 Prozent der Demokraten und 71 Prozent der Republikaner der Meinung, dass die USA sich aktiv mit der Sicherheitslage in Europa beschäftigen sollten. Zwar werden beide Parteien weiterhin Druck auf die Europäer ausüben, wenn es darum geht, die eigenen Verteidigungsausgaben zu erhöhen und die Beziehungen zu Russland und China auf den Prüfstand zu stellen. Gleichzeitig erkennen beide Seiten aber auch bereitwillig an, dass Amerikas Verbündete zuletzt ein ordentliches Schleudertrauma erlitten haben.
In der Trump-Ära starrten die Transatlantiker direkt in den Abgrund. Zum ersten Mal bezeichnete ein amerikanischer Präsident die EU offen als „einen Feind“ und versuchte, der NATO den Boden unter den Füßen wegzuziehen. 2019 verabschiedete das Repräsentantenhaus deshalb in einer Solidaritätsbekundung den sogenannten NATO Support Act – mit überwältigender parteiübergreifender Unterstützung.
In ihrer Presseerklärung zur US-Präsidentschaftswahl betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass Deutschland mehr Verantwortung übernehmen müsse (ein nicht mehr ganz neues Lied) und fügte hinzu, dass sie die gestiegenen amerikanischen Erwartungen an Deutschland verstehen könne und daran arbeiten wolle, sie zu erfüllen. Für eine Politikerin, die ihre Worte sorgfältig wählt, war das durchaus eine Überraschung. Tatsächlich hat Merkel erkannt, dass eine gerechtere Lastenteilung bei den Verteidigungsausgaben nicht mehr auf die lange Bank geschoben werden kann. Seit der Wahl von Donald Trump vor vier Jahren ist deutlich zu spüren, dass die USA ihrer militärischen Omnipräsenz überdrüssig geworden sind. Gerade das deutsch-amerikanische Verhältnis hat deshalb aber nicht an Bedeutung verloren.
Deutsche Schlüsselrolle
Die Interessen Washingtons und Berlins überschneiden sich sowohl kurz- als auch langfristig. Für das Wiederankurbeln der Weltwirtschaft und die Eindämmung der Corona-Pandemie sind schnelle Konsultationen notwendig: sei es, um die Aufhebung von Strafzöllen zu diskutieren oder um die globale Verteilung des Corona-Impfstoffs (insbesondere an ärmere Länder) zu organisieren. In erster Linie werden diese Verhandlungen natürlich auf europäischer Ebene geführt werden. Als größte europäische Volkswirtschaft wird Deutschland jedoch sowohl in Impfstofffragen als auch im Hinblick auf die Konjunkturentwicklung der europäischen Wirtschaft eine Schlüsselrolle einnehmen. Und an einer zügigen Verbesserung der transatlantischen Handelspartnerschaft wird beiden Seiten gelegen sein.
Dabei könnten die Beziehungen zu Russland und China Punkte sein, die die transatlantischen Beziehungen prägen werden – entweder im positiven oder im negativen Sinne. Während Trump die republikanische Parteilinie verließ, indem er Autokraten wie Wladimir Putin und Xi Jinping mit Lob überschüttete, unterstützten sowohl die Demokraten als auch die Republikaner Sanktionen gegen Russland und betrachten die Nord-Stream-2-Pipeline als strategischen Fehler. China steht das politische Establishment in den USA derweil zwiegespalten gegenüber: Einerseits wird die antagonistische Haltung Pekings in politischen und wirtschaftlichen Fragen kritisch gesehen. Andererseits macht es der globale Einfluss Chinas schwer, das Land im Hinblick auf Themen wie den Klimawandel, die Corona-Pandemie und die Weltwirtschaft auszugrenzen.
Die Biden-Regierung wird sich in Sachen Russland- und China-Politik eng mit dem Kongress abstimmen. Gleichzeitig wird sie in ihrem Vorgehen gegen revisionistische Kräfte und Gefährder der Weltordnung mehr Solidarität von Europa einfordern und daran erinnern, dass diese nicht nur die amerikanische, sondern auch die europäischen Demokratien bedrohen. In diesem Sinne wäre es auch für Deutschland und Europa auf lange Sicht von Vorteil, sich auf die Seite der Vereinigten Staaten zu schlagen – als westliches Bollwerk gegen diese Störmächte. Die allen bekannten heiklen Fragen, die aber derzeit niemand anspricht, sind die Nord-Stream-2-Pipeline und die Beteiligung des chinesischen Konzerns Huawei am 5G-Netzausbau. Von diesen Vorhaben zurückzutreten, könnte die Verhandlungsmasse bilden, mit deren Einsatz Berlin andere Ziele erreichen könnte, darunter transatlantische Datensicherheit, die Regulierung von globalen Technologiekonzernen und die Stärkung des multilateralen Prinzips.
Klima, Iran, WHO, WTO
Ein wichtiger Bestandteil der transatlantischen Beziehungen wird der von Deutschland stets gepriesene Multilateralismus sein. Denn unter Biden werden die USA wieder an der Lösung globaler und grenzübergreifender Probleme arbeiten wollen. Für die Europäer dürfte es dabei zunächst eine Erleichterung sein, dass die Bekämpfung des Klimawandels in Washington tatsächlich oberste Priorität hat. Immerhin setzt Biden nicht nur auf das Pariser Abkommen, sondern auch auf innenpolitische Veränderungen. Sein Plan ist es, die amerikanische Stromerzeugung bis 2035 CO2-frei zu gestalten und bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen. Dafür sollen insgesamt bis zu zwei Billionen Dollar investiert werden.
Biden hat zudem signalisiert, dass er das Nuklearabkommen mit dem Iran wieder aufsetzen und – im Vergleich zur ersten Fassung des Abkommens – noch weiter verbessern will. Hierbei wird jedoch vor allem die Zustimmung der Republikaner vonnöten sein, die einen Deal mit dem Iran in vier Jahren sonst rein theoretisch wieder rückgängig machen könnten, sollten sie dann den Präsidenten stellen. Nicht zuletzt deshalb sollten die Europäer ihre Kontakte zu den Republikanern im Kongress ausweiten, um eine Grundlage für die gemeinsame Aushandlung internationaler Vereinbarungen zu schaffen.
In internationalen Foren und auf politischen Gipfeln wird die Biden-Regierung wieder sichtbarer sein – und an den Verhandlungstischen werden die USA einmal mehr das Ruder übernehmen, um die amerikanischen Interessen durchzusetzen, sei es mithilfe der WHO oder der WTO. Laut einer Umfrage des Chicago Council on Global Affairs sagen 62 Prozent der Amerikaner, dass die Corona-Pandemie ihnen gezeigt hat, wie wichtig die internationale Zusammenarbeit in Gesundheitsfragen ist. Und tatsächlich können es sich die USA heute nicht leisten, isolationistisch zu denken. Dabei wird die Biden-Regierung eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen, wie es schon unter Obama der Fall war. Die Rechnung ist einfach: Wenn die US-Regierung mit anderen Ländern zusammenarbeitet, kann sie den Einsatz eigener Ressourcen minimieren und gleichzeitig mehr Energie auf die enormen innenpolitischen Herausforderungen verwenden.
Die Europäer machen sich darüber längst keine Illusionen mehr. Sie sind sich bewusst, dass sie zukünftig mehr Geld für die NATO in die Hand nehmen und bei Einsätzen in der europäischen Nachbarschaft bald schon selbst eine Führungsrolle übernehmen müssen. In Berlin ist man sich im Klaren darüber, dass man dem Balkan, dem Nahen Osten und Nordafrika sowie den östlichen Grenzen Europas mehr Aufmerksamkeit wird schenken müssen – insbesondere dann, wenn Washington sein strategisches Augenmerk weiterhin verstärkt auf den Pazifik legt. Eine derartige Aufteilung der sicherheitspolitischen Rollen wird viel Koordination erfordern; ein handlungsfähiges Europa wäre dabei für beide Seiten von Vorteil.
Die Sicherheits- und die Handelspolitik waren bisher stets die Pfeiler der transatlantischen Beziehungen. Gleichzeitig stehen jedoch mittlerweile neue Kernthemen auf der Agenda, etwa der Klimawandel und die Cybersicherheit. Darüber hinaus drängen sich weitere politische Debatten auf wie eine Grundsatzdiskussion über die Gefährdung der Demokratie an sich. Denn sowohl in Europa als auch in den USA ist längst offensichtlich, dass Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und der Schutz von Minderheiten bröckeln. Gerade deshalb müssen die Regierungen zusammen mit der Zivilgesellschaft neue Ideen formulieren, um die Demokratie für die Automatisierung, die Desinformation und die politische Polarisierung zu rüsten. Viel zu lange wurde der transatlantische Dialog in den Denkmustern der Welt nach 1989 gepflegt. Die Auswirkungen der Finanzkrise wurden dabei übersehen. Nun wäre es an der Zeit, Themen in den Dialog aufzunehmen, die uns zweifelsohne auch nach Covid-19 weiter beschäftigen werden.
Biden möchte, dass die Vereinigten Staaten auf der internationalen Bühne nicht nur mit Machtpolitik glänzen, sondern auch mit der Macht des amerikanischen Vorbilds. Die Auswahl seiner Regierungsmannschaft, bislang weniger von politischem Kalkül als vielmehr von Sachverstand geprägt, ist dabei ein Schritt in die richtige Richtung. Viele von Bidens Expertinnen und Experten werden allein schon aufgrund ihrer Kontakte und ihrer Vertrautheit mit der Materie reibungslos mit ihren europäischen Kollegen zusammenarbeiten können. Ein Großteil war bereits in der Obama-Regierung tätig und hat die enge Kooperation zwischen Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Obama miterlebt. Zwar waren die transatlantischen Beziehungen auch damals nicht perfekt, im Vergleich zu dem unterkühlten Verhältnis unter Trump jedoch mehr als zufriedenstellend. Jetzt gilt es, das Momentum der Biden-Präsidentschaft zu nutzen, um die Beziehungen nachhaltig neu zu gestalten.
Sudha David-Wilp ist Senior Transatlantic Fellow und stellvertretende Direktorin des Berliner Büros des German Marshall Fund (GMF).
Aus dem Amerikanischen von Kai Schnier
Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 63-68
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