Titelthema

30. Dez. 2024

Multilateralismus in der Ära Trump: Verfrühter Abgesang

Auch in Trumps zweiter Amtszeit werden viele multilaterale 
Institutionen ohne die USA auskommen müssen. Das Ende des Multilateralismus bedeutet das aber noch lange nicht. 

Die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus sorgt in Deutschland und Europa für große Besorgnis; viele fürchten um die Zukunft der regelbasierten multilateralen Ordnung. Im US-Wahlkampf kritisierte Trump zahlreiche multilaterale Institutionen hart. So stellte er die Beistandsklausel der NATO infrage und drohte sogar mit dem Rückzug der USA aus dem Bündnis. Aus dem Pariser Klimaabkommen will Trump erneut austreten und nationale Klimaschutzpläne zurückdrehen. Und mit der Androhung von hohen Zöllen verstößt Trump direkt gegen die Freihandels­prinzipien der Welthandelsorganisation (WTO) – und schreckt dabei auch nicht vor den transatlantischen Partnern in der EU oder seinen Nachbarn in Mexiko und Kanada zurück.

Mit welcher Außenpolitik unter Trump 2.0 zu rechnen ist, zeigen auch die Pläne des America First Policy Institute und des Project 2025 für die neue US-Regierung. Laut diesen soll internationale Zusammenarbeit nicht auf langfristige und diffuse Gegenseitigkeit ausgerichtet sein, sondern auf dem Austausch konkreter Zugeständnisse basieren. Zudem wird explizit gefordert, dass die USA ihre Unterstützung für multilaterale Institutionen überprüfen und Zahlungen oder sogar ihre Mitgliedschaft einstellen sollen, falls diese mit amerikanischen Zielen in Konflikt stehen. Das Project 2025 diskutiert explizit eine ganze Reihe von multilateralen Institutionen, darunter die NATO, die WTO, den UN-Bevölkerungsfonds, den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die Weltbank, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das Pariser Klimaabkommen. 

Diese Drohkulisse weckt dunkle Erinnerungen an Tumps erste Amtszeit, in der sich die USA aus zahlreichen internationalen Abkommen und Organisationen zurückgezogen hatten. Was können wir also von Trump 1.0 über die künftige Abkehr der USA vom Multilateralismus und deren Folgen lernen? Um diese Frage zu beantworten, gilt es zunächst, mit einigen verbreiteten Mythen über Trumps erste Amtszeit aufzuräumen. Daraus ergeben sich wichtige Lehren, wie die Verfechter des Multilateralismus auf Trump 2.0 antworten sollten.


Strategischer US-Rückzug

Ein erster Mythos besagt, dass Trumps Rückzug aus multilateralen Institutionen irrational und erratisch war. In der Tat kritisierte Trump eine Vielzahl multilateraler Institutionen so brachial, dass dies in der Geschichte der USA beispiellos ist. Kein US-Präsident vor ihm hat sich öffentlich so stark gegen die Prinzipien des Multilateralismus gestellt.

Jedoch zeigt ein Blick hinter Trumps Rhetorik ein Muster hinter den Handlungen der USA. Der Rückzug unter Trump 1.0 folgte klaren strategischen Überlegungen: In multilateralen Institutionen, in denen die USA Gestaltungsmacht besaßen, beschränkte sich die Trump-Regierung auf öffentliche Forderungen und Kritik. Dieser Einfluss kann auf der großen Abhängigkeit einer Institution von US-Beiträgen, entsprechend gewichteten Abstimmungs­-
regeln oder der Besetzung wichtiger Posten in der Bürokratie internationaler Organisationen durch Amerikaner basieren.

So beschränkte sich Trump im Fall der NATO auf Drohungen und Reformforderungen, die von den Alliierten rasch mit Zugeständnissen beantwortet wurden. Auch Trumps Kritik an der Weltbank verstummte, nachdem diese den USA mit Zugeständnissen wie der Einrichtung des „Ivanka Fund“ und der Wahl des von Trump favorisierten David Malpass zum Präsidenten entgegengekommen war.

Dort, wo die USA durch ihre Mitgliedschaft zumindest Verhinderungsmacht über unliebsame institutionelle Entscheidungen besaßen, blieben die USA unter Trump 1.0 Mitglied. Ein Beispiel ist die WTO, aus der Trump trotz grundsätzlicher Kritik nicht austrat. Vielmehr nutzten die USA ihre privilegierte Position, um das Streitschlichtungsverfahren zu blockieren und damit verbindliche Urteile gegen die eigene protektionistische Handelspolitik zu verhindern.

Die USA unter Trump 1.0 verließen nur solche Institutionen, wo sie keine Verhinderungsmacht besaßen

Auch ihre ständige Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat und damit ihr Vetorecht gaben die USA unter Trump nicht auf, obwohl sie bei eigenen Initiativen scheiterten, wie etwa der Wiedereinsetzung von UN-Sanktionen gegen den Iran. Denn durch ihr Vetorecht konnten sie zumindest unliebsame Entscheidungen verhindern, beispielsweise gegen Israel.

Nur in multilateralen Institutionen, in denen ihre Mitgliedschaft den USA kaum Vorteile bot, traten sie unter Trump 1.0 aus. Ein Beispiel ist der UN-Menschenrechtsrat, in dem Trump unliebsame Mehrheitsentscheidungen gegen Israel nicht verhindern konnte und daher die Teilnahme der USA beendete. Trump kündigte auch die US-Mitgliedschaft im Pariser Klimaabkommen auf, da die USA die darin verankerten und als unfair empfundenen Regelungen nicht alleine verhindern oder gar ändern konnten. Schließlich veranlasste Trump den Austritt aus der WHO, in der wichtige Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip oder durch ihre unabhängige Bürokratie getroffen werden. 

Die USA unter Trump 1.0 eskalierten ihre Kritik also nur in solchen Institutionen bis zum Rückzug, in denen sie nicht einmal Verhinderungsmacht besaßen. Je mehr Optionen die USA zur Verfügung hatten, unliebsame Regeln und Entscheidungen innerhalb einer Institution zu verändern oder zumindest zu blockieren, desto mehr begrenzten sie ihre Angriffe. 

Diese Erkenntnis legt nahe, dass sich die USA auch unter Trump 2.0 nicht blind aus internationalen Organisationen und Verträgen verabschieden werden. Blickt man auf die von Trump und ihm nahestehenden Thinktanks kritisierten Institutionen, so ist ein US-Rückzug aus dem IWF, der Weltbank, der NATO sowie dem Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mexiko und Kanada eher unwahrscheinlich – hier haben die USA großen Einfluss. Gleiches gilt für die WTO und die OECD, in denen die USA zumindest über komfortable Blockademöglichkeiten ­verfügen.

In anderen Fällen wie dem Pariser Klimaabkommen und der WHO, in denen die USA keine Verhinderungsmacht besitzen, ist eine Eskalation bis zum Rückzug deutlich wahrscheinlicher. Auch die erneute Einstellung der finanziellen Unterstützung für das UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) und den UN-Bevölkerungsfonds sind realistisch.


Multilateraler Kollaps vermeidbar

Ein zweiter Mythos besagt, dass multilaterale Institutionen nach dem Rückzug der USA zum Scheitern verurteilt sind. Die Vereinigten Staaten waren maßgeblich an der Gründung zahlreicher multilateraler Institutionen beteiligt und leisten zumeist die größten Beiträge. Durch ihren Rückzug stellen sie nicht nur die Gültigkeit der jeweiligen Institution grundsätzlich infrage, sondern schwächen auch deren Wirksamkeit, indem sie wichtige Beiträge zurückhalten. Daraus ergibt sich die verbreitete Annahme, dass der Rückzug der USA das Todesurteil für multilaterale In­sti­tutionen und damit für die regelbasierte multilaterale Ordnung sei.

Es stimmt, dass einige Institutionen nach dem US-Rückzug unter Trump 1.0 kollabiert sind. Nachdem Trump beispielsweise die finanziellen Beiträge der USA für UNRWA eingestellt hatten, war dieses kaum mehr fähig, seine staatsähnlichen Dienstleistungen für Palästinenserinnen und Palästinenser fortzusetzen. Das Atom­abkommen mit dem Iran scheiterte ohne die Unterstützung Amerikas – die Regierung in Teheran ist der Anreicherung von waffenfähigem Uran heute näher denn je. Und als die USA aus dem Vertrag über den Offenen Himmel (Open Skies Treaty) ausstiegen, der den NATO-Mitgliedern und den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes Überwachungsflüge über den jeweiligen Hoheitsgebieten erlaubt, kündigte auch Russland seine Teilnahme auf, was den Zweck des Abkommens infrage stellte.

Andere Institutionen zeigten sich jedoch resilienter gegenüber dem US-Rückzug unter Trump 1.0. Als Trump etwa die finanziellen Beiträge der USA für den UN-Bevölkerungsfonds einstellte, blieben andere Staaten der Organisation treu und erhöhten ihre Beiträge sogar. Auch als Trump den US-Ausstieg aus dem Pariser Klimaabkommen verkündete und eine konträre Energiepolitik verfolgte, hielten die übrigen Mitglieder nicht nur an ihren Zusagen fest, sondern verstärkten ihre Anstrengungen. Als resilient erwies sich auch die WHO, nachdem Trump zunächst finanzielle Beiträge zurückhielt und dann die Mitgliedschaft der USA beendete. 

Der Fortbestand multilateraler Institutionen ist also nicht notwendigerweise von der Unterstützung der USA abhängig. Auch wenn sich die USA unter Trump 2.0 wahrscheinlich erneut aus internationalen Organisationen und Verträgen verabschieden werden, ist deren Verfall nicht unausweichlich. Vielmehr liegt das Schicksal multilateraler Institutionen in den Händen ihrer Mitglieder.


Wer füllt das Machtvakuum?

Ein dritter Mythos besagt, dass Mächte wie China, Russland oder Indien den Rückzug der USA nutzen, um multilaterale Institutionen nach ihren eigenen illibe­ralen Vorstellungen umzubauen. Eine weit verbreitete Annahme ist, dass revisionistische Kräfte das von den USA hinterlassene Machtvakuum füllen und eine Führungsrolle übernehmen wollen.

Natürlich profitierten nichtwestliche Mächte von der Abkehr der USA vom Multilateralismus. Während Trumps erster Amtszeit konnte sich etwa China als Verfechter des Freihandels und des globalen Klimaschutzes inszenieren. Zudem lieferten die USA illiberalen Staaten willkommene Vorwände, sich gegen unliebsame internationale Regeln zu stellen. So nutzte Russland den US-Rückzug aus dem Open-Skies-Vertrag, um den eigenen Austritt zu rechtfertigen; Brasilien drohte unter Jair Bolsonaro mit dem Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen; und China wies Kritik im UN-Menschenrechtsrat mit Verweis auf westliche Doppelstandards zurück.

Auch wenn sich die USA unter Trump 2.0 wahrscheinlich erneut aus internationalen Organisationen und Verträgen verabschieden werden, ist deren Verfall nicht unausweichlich

Dennoch schreckten nichtwestliche Mächte davor zurück, eine Führungsrolle in den von Trump verlassenen multilateralen Institutionen zu übernehmen. Versuche, Koalitionen von Staaten zu schmieden und die jeweiligen Institutionen für illiberale Zwecke umzugestalten, waren stark begrenzt.

Vielmehr wurde das entstandene Machtvakuum vorwiegend von westlichen Mächten gefüllt. Nach dem Rückzug der USA unter Trump übernahmen vor allem europäische Regierungen und die EU eine wichtige Führungsrolle. Dabei kam ihnen ihre im Vergleich zu vielen nichtwestlichen Mächten hohe Glaubwürdigkeit als Verfechterinnen des Multilateralismus zugute. Dank ihrer ausgeprägten Soft ­Power konnten sie Partner gewinnen, um gemeinsam die von den USA hinterlassenen Lücken zu füllen und die verlassenen Institutionen zu erhalten. 

So übernahm die EU etwa eine Führungsrolle in der WTO. Sie ­organisierte erfolgreich eine Koalition wichtiger Handelsmächte, um die US-Blockade des Streitschlichtungsverfahrens zu umgehen. Auch nach Trumps Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen übernahm die EU die Führung. Um den Vertrag auch ohne die USA am Leben zu erhalten, setzte sie auf eine enge Zusammenarbeit mit China und nutzte ihre Handelsmacht, um Brasilien an das Abkommen zu binden. Außerdem arbeiteten europäische Mitgliedstaaten eng mit dem WHO-Sekreta­riat zusammen, um die Organisation gegen Trumps Kritik zu verteidigen und die Corona-Pandemie auch ohne die Vereinigten Staaten zu bekämpfen.


Europas Verantwortung

Damit die regelbasierte multilaterale Ordnung auch Trump 2.0 übersteht, müssen europäische Regierungen nachhaltig mehr Verantwortung in multilateralen Institutionen übernehmen.

Dabei haben sie die Wahl zwischen zwei Antwortstrategien: Einerseits können sie mit Zugeständnissen an Trump innerhalb multilateraler Institutionen versuchen, den US-Rückzug zu verhindern. Um die Eskalation von Trumps Kritik zu begrenzen, können sie anbieten, selbst größere Beiträge zu leisten, um die Vereinigten Staaten zu entlasten. Oder sie können sich dafür einsetzen, den USA mehr Einflussmöglichkeiten in unliebsamen Institutionen zu gewähren – sei es durch besondere Vetorechte oder die Besetzung wichtiger Positionen in der Bürokratie ­internationaler Organisationen. 

Andererseits können europäische Regierungen versuchen, multilaterale Institutionen gegen die Kritik Trumps zu verteidigen und einen möglichen Ausfall der US-Unterstützung zu kompensieren. Um multilaterale Institutionen ohne die USA zu erhalten, sind sie darauf angewiesen, Koalitionen der Willigen zu organisieren und diese gemeinsam an die neue Lage anzupassen. 

Unabhängig davon, für welche der beiden Antwortstrategien sich Europa entscheidet, muss es geschlossen auf der internationalen Ebene auftreten und mit einer Stimme sprechen. Ob für Zugeständnisse an Amerika oder für die Kompensation eines US-Rückzugs: In beiden Fällen müssen die europäischen Regierungen ihre eigenen Fähigkeiten – von Rüstung über Handel bis zur Finanzwirtschaft – bündeln und ausbauen. Nur gemeinsam haben sie genug Hard Power, um inter­nationale Probleme anzugehen.

Schließlich müssen europäische Staaten alles daransetzen, ihren verhältnismäßig guten Ruf als Verfechterinnen des Multilateralismus zu bewahren. Denn es ist ihre Soft Power, mit der sie auch nichtwestliche Partner für eine gemeinsame Antwort auf Trump 2.0 gewinnen und multilaterale Institutionen stützen können. Nur wenn Europa willens und fähig ist, mehr internationale Verantwortung zu übernehmen, kann die regelbasierte multilaterale Ordnung auch in Zukunft fortbestehen.          

Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Verfrühter Abgesang " erschienen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2025, S. 35-39

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Dr. Tim Heinkelmann-Wild ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Geschwister-
Scholl-Institut für Politikwissenschaft der LMU München.

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