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26. März 2014

Merkels fragiles Europa

Die Ukraine-Krise offenbart europäische Schwäche, die Deutschland geschuldet ist

Auch wenn die deutsche Kanzlerin die Euro-Krise bislang gut gemeistert hat: Gerade bei neuen Herausforderungen wie der russischen Annexion der Krim zeigt sich, wie labil der alte Kontinent weiterhin ist. Das liegt vor allem am Fehlen einer umfassenden Vision in Merkels Außen- und Europapolitik. Und auch der Koalitionspartner SPD scheut die wirtschaftlichen Schritte auf europäischer Ebene, die nun notwendig wären.

Acht Kanzler standen seit 1949 an der Spitze Deutschlands – viele von ihnen waren erstklassige Führungspersönlichkeiten, auch auf internationaler Ebene. Konrad Adenauer ist die Stabilisierung Westdeutschlands zu verdanken, er führte das Land nach zwei Weltkriegen auf einen Pfad des Friedens und der Demokratie. Willy Brandt mit der Ostpolitik, Helmut Schmidt und Helmut Kohl, der „Kanzler der Einheit“, zeichneten sich durch Führungskraft und Visionen aus. Und Gerhard Schröder werden heute zumindest jene harten Reformeinschnitte zugute gehalten, die die Wettbewerbsfähigkeit und Exportstärke Deutschlands wiederhergestellt haben.

Wie schlägt sich Angela Merkel im Vergleich zu ihren Vorgängern, deren Porträts im Kanzleramt hängen? Nach acht Jahren im Amt hat die Kanzlerin immer noch Schwierigkeiten, eine umfassende Vision oder auch nur die eigenen Vorstellungen auf eine Weise zu artikulieren, mit der sich die diversen Ebenen deutscher und europäischer Politik unter einen Hut bringen ließen. Ihre größte Leistung war es bisher, während der turbulenten Krise der Euro-Zone eine verlässliche Führungsrolle gespielt zu haben. Während des anfänglichen Chaos der griechischen Staatsschuldenkrise strahlte sie Sicherheit aus und stärkte wieder das Vertrauen in die Finanzmärkte. Die Sparpolitik mit dem Ziel der Schuldenkonsolidierung als ein Mittel, das Boot in rauer See zu beruhigen, war zu Beginn der Euro-Krise durchaus angebracht.

Doch neue Herausforderungen wie die russische Annexion der Krim stellen Merkels Führung und den außenpolitischen Kurs nicht nur Deutschlands, sondern Europas insgesamt, fortwährend auf die Probe. Tatsächlich ist Merkel die erste deutsche Regierungschefin seit dem Zweiten Weltkrieg, die keine weitreichende Vorstellung davon zu haben scheint, wie Europäer noch stärker geeint oder Deutschland weiter europäisiert werden könnte. Die Politik der verstärkten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Russland, die von ihrem Vorgänger Schröder mit dem Ziel eingeleitet wurde, die Beziehungen zu stärken, liegt in Scherben. Merkels Markenzeichen des „So-wenig-wie-möglich-Machens“ steht im Gegensatz zu den mutigen Vorstellungen ihrer Vorgänger, die dem europäischen Projekt und der Weltpolitik Führung und Schwung gaben. 

Richten es die Sozialdemokraten?

Mit der Neuauflage der Großen Koalition hofften viele, die SPD könne als Antriebsrakete die Regierung wieder auf die Umlaufbahn ihrer historischen Führungsrolle bringen. Seit den Zeiten Brandts und Schmidts ist die SPD beständig proeuropäisch gewesen. Da Frank-Walter Steinmeier sein Amt als Außenminister bereits zum zweiten Mal bekleidet, ist er für Merkel schwerer zu kontrollieren als dessen Vorgänger von der FDP. Tatsächlich bezog Steinmeier bereits mehrfach Positionen, z.B. zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei („die Tür muss offen bleiben“), die denen der CDU widersprechen. Sigmar Gabriel pocht ebenfalls auf eine bedeutende Rolle in der EU-Politik und begleitete, anders als sein Vorgänger, Finanzminister Wolfgang Schäuble bereits zu Treffen der Euro-Zone. Könnte die SPD also Merkels Außenpolitik beeinflussen und ihr eine andere Richtung geben?

Die Vorstellungen der SPD für die vielfältigen Herausforderungen im Euro-Raum sowie ihr Verständnis von der deutschen Führungsrolle scheinen sich allerdings von denen Merkels nicht substanziell zu unterscheiden. Zwar kündigte Steinmeier Anfang Februar eine engagiertere Außenpolitik an, agierte bei der Krise in der Ukraine aber eher mit Merkel-typischer Vorsicht. Ich bin der Überzeugung, dass erst Merkels grundlegende Skepsis (und die anderer europäischer Regierungschefs) gegenüber einer weiteren EU-Erweitung und ihre ambivalente Haltung gegenüber der Ukraine Russland Möglichkeiten eröffnete, die zur aktuellen Krise führten.

„Durchwurschteln“ mag ausgereicht haben, um Europa durch den schlimmsten Teil der Wirtschaftskrise zu navigieren. Nur entwickelt es kaum Ideen, wie ein dynamisches Deutschland und Europa des 21. Jahrhunderts entstehen könnten.

Schwerfällige Wirtschaftspolitik

Deutschlands Beharren auf einer Politik, die vor allem darauf gerichtet ist, die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die Schuldenstände sowie die Inflation zu senken, führte bisher nur zu geringem Wachstum, hoher Arbeitslosigkeit und noch höheren Schuldenständen in vielen Staaten. Ein Großteil Europas stagniert oder geht rückwärts, während Merkel sich nicht um die langfristigen Folgen und die daraus entstehende Spaltung zwischen Nord und Süd zu kümmern scheint.

Während sich Deutschland, Schweden und andere Staaten im Norden Europas über Bilanzüberschüsse freuen können, leiden andere Mitgliedstaaten an den Folgen der Sparpolitik. Italien, Spanien, Griechenland und andere Länder waren gezwungen, das Unmögliche zu tun: ihre wachsende Schuldenlast zu bedienen, während die eigene Wirtschaft schrumpft. Was auch immer die ursprünglichen Vorteile der Haushaltskonsolidierung und Sparpolitik waren – nun droht die deutsche Sparpolitik, die fragile Erholung Europas zu gefährden.

Natürlich hat Merkel Recht damit, dass Regierungen nicht unbegrenzt Schulden machen können. Ihre europäischen Kollegen stimmen ihr dabei zu, sogar Griechenland, das vergangenes Jahr zum ersten Mal seit zehn Jahren einen Jahreshaushaltsüberschuss verzeichnen konnte. Aber es gibt auch die Kehrseite der Medaille. Obgleich zum Beispiel die inländische Abwertung Griechenlands und Spaniens zu einem Zuwachs der Wettbewerbsfähigkeit von etwa 5 Prozent gegenüber Deutschland führte, ist der Euro um ca. 5 Prozent gegenüber dem Dollar und anderen internationalen Währungen im Wert gestiegen. Der Wertzuwachs des Euro hat somit verhindert, dass Griechenland und Spanien als Folge ihrer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit auch vermehrt Waren exportieren konnten.

Dabei liegen die Handlungsalternativen zur Sparpolitik heute auf der Hand. Zielgerichtete Ausgaben zur Wachstumssteigerung (um das Wachstum innerhalb der Euro-Zone anzukurbeln), mehr Föderalismus (einschließlich eines Finanzausgleichs unter den Mitgliedstaaten und die Vergemeinschaftung von Schulden in Form von Euro-Bonds), eine robuste Bankenunion (die Spareinlagen garantiert und den negativen Kreislauf zwischen nationalen Banken und Regierungen durchbricht) sowie eine Politik, die ausgeglichenere Handelsbilanzen zielt. Aber dazu scheint der politische Wille zu fehlen – auch auf Seiten der Sozialdemokraten.

Gewiss liegt Merkel richtig, wenn sie sagt, dass Haushaltsdisziplin für die Gestaltung eines nachhaltigen europäischen Wirtschaftsmodells notwendig ist. Doch selbst hier haben sie und Finanzminister Wolfgang Schäuble es bislang verpasst, eine für Europa erfolgreiche, überzeugende wirtschaftliche Zukunftsvision zu entwickeln. Dabei ist Passivität an diesem Punkt absolut unangemessen. Für Spanien, Italien, Portugal, Griechenland, Irland und jetzt auch die Niederlande ist es ein immer schlechteres Geschäft, mit einem so unnachgiebigen Partner wie Deutschland an den „Goldstandard“ des Euro gefesselt zu sein.

Das Tauziehen mit Russland über die Ukraine zeigt, wie wichtig es ist, dass sich Europa auf einen Kurs begibt, der Stabilität, Zusammenhalt und Erfolg verspricht. Angela Merkel sollte einen scharfen Blick auf die Bilder ihrer Vorgänger in der Kanzlergalerie werfen.

Steven Hill (www.Steven-Hill.com) is u.a. Autor des Buches Europe's Promise: Why the European Way is the Best Hope in an Insecure Age.

Bibliografische Angaben

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