Licht ins Dickicht der UN
Das Standardwerk von Gareis/Varwick ist neu aufgelegt worden
Das Buch ist mit viel Schwung und einer eleganten Rhetorik geschrieben. Das lässt sich über die vierte aktualisierte und erweiterte Auflage des erfolgreichen Standardwerks „Die Vereinten Nationen“ von Sven Bernhard Gareis und Johannes Varwick ebenso sagen wie über die vorangegangenen Auflagen, die schnell eine große Leserschaft gefunden haben. Das Buch liest sich gut, man liest es durch: Das ist ein Vorzug bei Büchern über ein Gebiet, das mehr öffentliche Aufmerksamkeit, mehr Wissen und ein vertieftes Problemverständnis gut gebrauchen kann, das aber wegen seiner Komplexität oft dazu verleitet, schwer verständliche Kompendien zu verfassen, die nur Fachleuten etwas sagen. Man sollte deshalb das Buch jedem Journalisten in die Hand drücken, mit der Empfehlung, es möglichst zügig durchzuarbeiten. Dann – so kann man sicher sein – hat er etwas Wesentliches über die UN verstanden.
Die Stärke des Buches liegt im politikwissenschaftlichen Zugang zum Thema, in der Synopse von institutionellen Strukturen und politischen Prozessen des Wandels, die auf jene Strukturen einwirken und ihren langsamen Wandel bewirken, oft aber schon längst vorher eine geänderte Praxis herbeigeführt haben, die von allen Beteiligten geduldet oder sogar stillschweigend gebilligt wird, ohne dass es dafür eine völkerrechtlich verbindliche Änderung der UN-Charta gegeben hätte.
Vor allem in den Kapiteln über Friedenssicherung, Menschenrechtsschutz, Entwicklungszusammenarbeit und Umweltschutz entfaltet diese Perspektive ihre Vorzüge: Die Autoren bieten ein detailreiches Bild der Arbeit der Vereinten Nationen in diesen Bereichen: So verbinden sie z.B. die Darstellung der Menschenrechtsschutzinstrumente mit dem Blick auf die kontroversen Positionen der UN-Mitgliedstaaten im Hinblick auf das jeweilige Verständnis von Menschenrechten und die sich daraus ergebenden Probleme beim Menschenrechtsschutz. Das ist vorzüglich gelungen.
Es gibt jedoch Kapitel, für die sich diese Darstellungsweise nicht so gut eignet, weil sie – auf dem knappen Raum, der in einem Einführungsbuch zur Verfügung steht – die Thematik zu verdichtet darstellt und damit wichtige Sachverhalte zu knapp erörtert werden. Das ist bei den Kapiteln über das System der Vereinten Nationen und über die Reformbemühungen der Fall: Wenn man die Generalversammlung auf zwei Druckseiten darstellen will – was den Autoren durchaus gelingt –, kann man zwar alle wichtigen Probleme und Entwicklungen andeuten, doch worin die eigentliche politische und auch psychologische Bedeutung der Generalversammlung für die Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten besteht und warum sie oft als „Forum der Welt“ bezeichnet wird, bleibt unklar.
Beim Thema Sicherheitsrat kommt der Wandel der Arbeitsmethoden seit Anfang der neunziger Jahre, der zu einer größeren Beteiligung von Nichtmitgliedern des Rates, zu Mitwirkungsmöglichkeiten für nichtstaat-liche Organisationen (NGOs) und zu mehr Transparenz gegenüber der Öffentlichkeit geführt hat, in der Darstellung zu kurz; ein Wandel, dem der Resolutionsentwurf, den die Schweiz und ihre Kosponsoren im März 2006 eingereicht haben, eine festere Form geben möchte.
Im Abschnitt über die nichtstaatlichen Akteure wird durch die knappe Skizze nicht genügend deutlich, dass die (NGOs) bisher durch ihre Akkreditierung nur beim Wirtschafts- und Sozialrat sowie bei Weltkonferenzen und bei Sondertagungen der Generalversammlung Teilnahme- und Mitwirkungsmöglichkeiten haben, jedoch nicht bei den regulären Tagungen der Generalversammlung und beim Sicherheitsrat. Das ist schade, denn die Autoren konstatieren zutreffend die wachsende Bedeutung der NGOs. Es müsste dem Leser aber der Widerstand in Teilen der Generalversammlung gegen stärkere NGO-Beteiligung verdeutlicht werden.
Im Kapitel über die Reform der UN beeindruckt das Buch durch die Kunst der geschickten Raffung des Themas; es werden alle wichtigen Aspekte erörtert, der Leser bekommt einen guten Überblick über das Thema. Ein kritischer Einwand gilt hier lediglich dem Abschnitt über die Reform des Sicherheitsrats: Positionen und Interessenlagen sowie mögliche Konsequenzen des Scheiterns der Reform werden in knappen Formulierungen skizziert, jedoch auf einem hohen Abstraktionsniveau. Die Interessen der einzelnen Regionalgruppen, aber auch der ständigen Ratsmitglieder kommen zu kurz, ebenso wie die Frage, ob hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit des Rates und seiner Akzeptanz eine Reform der Arbeitsmethoden nicht der erfolgversprechendere Weg sein könnte.
Mit anderen Worten: Den Autoren wäre in den Kapiteln „System der Vereinten Nationen“ (Teil A, Kapitel 1) und „Reformansätze“ (Teil E, Kapitel 1) an einigen Stellen mehr Ausführlichkeit zu wünschen, die ihnen der Verlag in späteren Auflagen zugestehen sollte.
Ein weiterer Wunsch: Es wäre schön, wenn die Autoren in einer weiteren Auflage dem sehr nützlichen Anhang mit seinem ausführlichen Literaturverzeichnis, Diskussionsfragen und Lektüreempfehlungen noch einen Abschnitt über Internet-Informationsquellen hinzufügen könnten: Es gibt seit einigen Jahren neben der UN-Homepage www.un.org ausgezeichnete Informationsseiten von NGOs über die Vereinten Nationen, z.B. die Webseite des Global Policy Forum www.globalpolicy.org.
Es ist dem Buch, das dem Leser differenzierte Einsichten in die Möglichkeiten und Probleme der Vereinten Nationen vermittelt, zu wünschen, dass es vielen Menschen die Arbeit der UN verständlich macht. Die beiden Autoren haben mit der aktualisierten und erweiterten Neuauflage ihres Buches allen denjenigen, die sich vielleicht seit dem Weltgipfel 2005 stärker für die Vereinten Nationen interessieren, eine exzellente Einführung zur Verfügung gestellt.
Sven Bernhard Gareis/Johannes Varwick: Die Vereinten Nationen. Aufgaben, Instrumente und Reformen. 4., aktual. und erw. Auflage. Verlag Barbara Budrich (UTB), Opladen & Farmington Hills 2006. 381 Seiten, € 18,90.
Dr. Helmut Volger ist Koordinator des Forschungskreises Vereinte Nationen.
Internationale Politik 8, August 2006, S. 132-134