Buchkritik

01. Nov. 2015

Krieg der Knöpfe

Was uns aus dem Netz droht: zwei Warnungen

Vor mehr als 50 Jahren, im Jahre 1961, warnte der scheidende US-Präsident Eisenhower in seiner Abschiedsrede vor der Herausbildung eines „militärisch-industriellen Komplexes“, der die Freiheit bedrohe. Haben wir es heute mit einem weiterführenden, einem militärisch-industriellen-internetbasierten Komplex zu tun? Zwei Neuerscheinungen.

Im Zentrum eines neuen Komplexes aus Militär, Industrie und Digitalwirtschaft sehen die Autoren der hier zu besprechenden Bücher die 1952 unter Präsident General Dwight D. Eisenhower gegründete National Security Agency (NSA). Einst als „No Such Agency“ bekannt, deren Existenz die Regierung jahrelang geheim hielt, hat sich die NSA seit den Snowden-Enthüllungen 2013 den zweifelhaften Ruf des wohl berüchtigtsten Geheimdiensts des digitalen Zeitalters erworben. Wie wir aus internen, von Snowden veröffentlichten Dokumenten wissen, arbeitet der Dienst auf kein geringeres Ziel als das der „informationellen Vorherrschaft“ in der Welt hin.

„@War“ von Shane Harris, Daily Beast-Chefkorrespondent für nationale Sicherheit und langjähriger -Experte für amerikanische Sicherheitspolitik, digi-tale Kriegführung und Internetüberwachung, ist jedoch kein Buch über die NSA und den „Überwachungsstaat“ USA.

Vielmehr entschlüsselt „@War“ die Symbiose von Militär, Geheimdiensten, Rüstungsindustrie, Finanzinstitutionen und den großen Tech-Giganten im Kampf um die Kontrolle über den digitalen Raum. Sie alle sind Teil des amerikanischen „Military-Internet Complex“, der die digitale Kriegführung vorantreibt. Wie in kaum einem anderen politischen Bereich stehen bei der digitalen Sicherheit wichtige politische und wirtschaftliche Interessen auf dem Spiel – gerade weil es sich um neues Terrain handelt. Im gleichen journalistisch-nüchternen Ton wie in seinen zahlreichenArtikeln zum Thema zeichnet Harris ein vielschichtiges und komplexes Bild des digitalen „Cyber“-Sicherheitsapparats in den USA.
 

Fünfte Dimension des Krieges

Für rund drei Milliarden Nutzer weltweit bedeutet der Zugang zum Internet die Möglichkeit, über Grenzen hinweg zu kommunizieren, auf Informationen zuzugreifen und frei mit Waren und Dienstleistungen zu handeln. Für Militärs, Geheimdienste und auch private Firmen aber, so Harris, ist das Internet vor allem eines: ein „Schlachtfeld“, die „fünfte Dimension“ der Kriegführung.

In diesem „Cyberkrieg“ verschwimmen die Grenzen zwischen Geheimdiensten und Militär, zwischen Spionage und Gefecht, schreibt Harris. Dies werde auch in der Zusammenführung der Zuständigkeitsbereiche für die digitale Kriegführung in den USA deutlich: Primär sind sowohl der Geheimdienst NSA als auch die militärische Einheit United States Cyber Command zuständig. Geleitet werden beide vom Direktor der NSA.

Zwar lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass die Bedrohungen im digitalen Raum, von digitalen Angriffen auf kritische Infrastrukturen bis hin zum Ausforschen von Unternehmen und Volkswirtschaften, ernst zu nehmen seien. Allerdings macht er deutlich, dass sich auch die US-Regierung ähnlicher Werkzeuge bediene, um ihre Gegner zu bekämpfen. Man denke an den höchstwahrscheinlich von Amerikanern und Israelis entwickelten digitalen „Stuxnet“-Angriff auf die iranische Atomanlage Natanz. 

Zudem beschreibt Harris, wie die NSA geheime und hochqualifizierte Hacking-Einheiten betreibe, die sich in gegnerische Netzwerke und Computer einhackten, wie sie verdeckt an der Schwächung von Internetsicherheitsstandards mitwirke und wie sie ein weltweites elektronisches Überwachungsnetzwerk schaffe. Vieles davon ist durch die Snowden-Enthüllungen bekannt, anderes schildert Harris auf der Grundlage von Interviews mit bekannten und geheimen Quellen.

Harris schildert, wie sich Regierungsmitarbeiter und Vertreter von Privatunternehmen nicht selten einer dramatisierenden, die Bedrohungen aus dem digitalen Raum überzeichnenden Rhetorik bedienen, etwa in der Warnung vor einem „Cyber 9/11“, um die Ausweitung ihrer Kompetenzen voranzutreiben. 

Um das Thema „digitale Sicherheit“ rankt sich eine schnell wachsende Cybersicherheitsindustrie, in der sich sowohl etablierte Rüstungsunternehmen als auch Silicon Valley-Start-ups und Beratungsunternehmen tummeln. Dabei übernimmt die digitale Sicherheitsindustrie für private Firmen, Banken oder Regierungen Aufgaben, die ursprünglich in der Kompetenz von Staaten lagen, wie die Entwicklung und Ansammlung von Malware-Arsenalen und Sicherheitslücken oder die Identifizierung von staatlichen Angreifern.

Die NSA wiederum bietet Banken und Unternehmen Schutz vor staatlichen Angreifern aus China oder Russland. Selbst große Silicon- Valley-Firmen wie Google kooperieren laut Harris mit der NSA, um sich vor digitalen Angriffen aus China zu schützen. Im Gegenzug gewähren sie der NSA Zugriff auf ihre Netzwerke.
 

Das Unternehmen hackt zurück

Viele private Firmen, vor allem Banken, nehmen die Verteidigung ihrer Netzwerke mittlerweile in die eigene Hand. Immer öfter schließt das das so genannte „Zurück-Hacken“ („hacking back“) von gegnerischen Netzwerken ein. Doch anders als der Regierung fehlt privaten Unternehmen die nötige rechtliche Befugnis, um in andere Netzwerke einzudringen. Sie agieren in einer legalen Grauzone. Ein „privater“ Cyberkrieg sei wahrscheinlich unvermeidbar, so Harris. Und wenn ein Konflikt zwischen privaten Firmen im digitalen Raum erst einmal eskaliere, müssten Regierungen höchstwahrscheinlich eingreifen, um die Krise schlimmstenfalls mit Gewalt zu entschärfen. 

Man merkt es „@War“ an, dass sein Autor Zugang zu einer Vielzahl von Quellen aus dem Sicherheitsapparat hat. Harris schreibt stets in sachlichem Ton, lässt den Leser aber auch konstant spüren, welche Gefahren die von ihm geschilderten Entwicklungen für die amerikanische Demokratie und das freie Internet bedeuten. 

In mancherlei Hinsicht habe die NSA mit ihren Aktivitäten wie dem Hacken fremder Netzwerke oder der Schwächung von Verschlüsselungsstandards „das Internet unsicherer gemacht“. Die Folgen könnten der Verlust von Anonymität und die fortschreitende Fragmentierung des Internets sein. 

So überzeugend sich das liest, so bleiben doch Zweifel an Harris’ These bestehen. Denn tatsächlich distanzierten sich ja, gerade nach den Snowden-Enthüllungen, führende Technologieunternehmen sehr deutlich von der amerikanischen Regierung. Unternehmen wie Apple und Google stellen mittler-weile gegen den Widerstand der Sicherheitsbehörden Möglichkeiten zur standardmäßigen Verschlüsselung von Geräten und Kommunikationsmitteln zur Verfügung.

Die Situation in autoritär regierten Staaten, insbesondere in China und im Iran, klammert Harris aus seiner Analyse aus. Die nahezu vollständige Überwachung, Kontrolle und Fragmentierung des Internets dort wären aber zumindest einen Exkurs wert.

Hinzu kommt, dass Harris die miteinander verflochtenen Aspekte des „Military-Internet Complex“ oft sprunghaft und unnötig kompliziert beschreibt, was es für den Leser nicht immer einfach macht, das Gesamtbild im Blick zu behalten. 

Und es würde die Lektüre auch weniger verwirrend machen, wenn der Autor stärker zwischen den verschiedenen Aspekten des „Cyberkriegs“ differenzieren würde. In „@War“ bezeichnet er einfach alles als Cyberkrieg – von der Überwachung über Spionage bis hin zur Sabotage. Insgesamt ist „@War“ aber sowohl für Einsteiger in das Thema als auch für Kenner der Materie ausgesprochen lesenswert.
 

Zahlende Zombies

Mit der Zusammenarbeit zwischen privaten Internetkonzernen, staatlichen Geheimdiensten und dem Militär beschäftigen sich auch der ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust und der stellvertretende Stern-Chefredakteur Thomas Ammann. In „Digitale Diktatur“ warnen sie vor einem Überwachungsstaat, der Orwells „1984“ verblassen lasse. 

Dessen Big Brother hat für Aust und Ammann heute die Gestalt von Facebook, Google, Apple, Amazon und Konsorten angenommen. Die Snowden-Enthüllungen zeigten, so die Autoren, wie digitale Kommunikationstechnik in der Hand von „Regierungen, Geheimdiensten und Konzernen zu einem allumfassenden Überwachungsinstrument geworden [ist], dessen Ausmaße und Konsequenzen kaum erahnt werden können“.

Wie die Autoren sich die digitale Infrastruktur der drohenden Diktatur vorstellen, zeigt folgendes Zitat: „Mit dem Smartphone tragen wir selbst den eifrigsten Spion ständig mit uns in der Tasche herum. Er sendet unter anderem permanent den Standort, liefert Mails, Fotos, persönliche Notizen und Listen aller Kontakte -inklusive der dazugehörigen Daten. Ungebetenen Lauschern kann er als jederzeit an- und abschaltbares Mikrofon dienen. Und die Ortung mobiler Geräte ist eines der wichtigsten Inst-ru-mente für die Fahndung nach Zielpersonen – auch beim ‚Targeted Killing‘, dem gezielten Töten mit Drohnen, in Afghanistan oder im Irak.“

Diese digitalen Begleiter senden einen nie endenden Strom an Informationen, ohne dass wir davon etwas bemerken. Oder, wie es ein NSA-Analyst in einer geheimen Präsentation im Jahr 2011 vor Kollegen ausdrückte: „Sie sind alle Zombies, und sie zahlen sogar noch dafür.“ Vor allem die jüngere Generation, an der „die große Diskussion um Datenschutz und Privatsphäre spurlos vorübergegangen“ zu sein scheine, trage durch ihre sorglose Beteiligung an sozialen Netzwerken zum Funktionieren dieses Systems bei. 

In der Logik des amerikanischen und anderer Sicherheitsapparate gehe es nicht mehr darum, die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden, sondern darum, das Volk möglichst effizient zu managen. Mit den modernen Methoden zur Analyse von Big Data ließe sich verdächtiges Verhalten, nämlich jenes, das von der gesellschaftlichen Norm abweiche, leicht identifizieren. Die Definition dieser Norm liege im alleinigen Ermessen der Programmierer der datenverarbeitenden Algorithmen aus dem Silicon Valley und den staatlichen Sicherheitsbehörden. 

Vor dieser Diktatur wollen die Autoren warnen und bieten in ihrem Buch einen umfassenden Überblick über alles, was mit dem Thema Überwachung im digitalen Raum zu tun hat, freilich im Kontext westlicher Demokratien. Den Einsatz von Technolo-gien zur Datenverarbeitung und Überwachung in autoritär regierten Ländern erwähnen sie, wie Harris auch, nur am Rande. 
 

Spionage vor 9/11

So beschreiben Stefan Aust und Thomas Amman die Geschichte der NSA und der Entwicklung ihrer Überwachungsprogramme nach dem 11. September 2001. Je ein Kapitel widmen sie den NSA-Whistleblowern Thomas Drake, William Binney und Edward Snowden. Die Snowden-Enthüllungen bilden die Grundlage für die meisten der im Buch referierten Informationen; mit Drake und Binney haben die Autoren auch Interviews geführt. Darüber hinaus ist es ein Verdienst der Autoren, dem Leser auch Spionage- und Überwachungsaffären aus der Zeit vor dem 11. September in Erinnerung zu rufen, etwa das über Jahrzehnte von den Amerikanern unter anderem aus dem bayerischen Bad Aibling betriebene „Echelon“-Abhörsystem. 

Die für den Leser wohl spannendsten Kapitel sind jene, die die Geschichte der Hackerszene und des 1984 in Deutschland gegründeten Chaos Computer Clubs erzählen, sowie die Abschnitte über die Geschichte von „Hacktivisten“ und Gruppen wie Anonymous und Wikileaks. Diese historische Perspektive fehlt in vielen anderen Büchern zum Thema -Internetüberwachung. Insgesamt bietet „Digitale Diktatur“ einen gut geschriebenen und recherchierten Überblick über die Gefahren der Welt von Big Data. In großen Teilen unterscheidet sich das Buch jedoch nur marginal von zuvor erschienenen Büchern über die Snowden-Enthüllungen wie „Der NSA-Komplex“ von Marcel Rosenbach und Holger Stark und „No Place to Hide“ von Glenn Greenwald. Kenner dieser Bücher werden in „Digitale Diktatur“ nicht viel Neues finden. Auch auf die Rolle der deutschen Regierung und Geheimdienste gehen die Autoren viel zu wenig ein.
 

Das digitale Ich

In zwölf der dreizehn Buchkapitel zeichnen Aust und Ammann das düstere Bild eines Überwachungsstaats. An Vorschlägen und Forderungen in Richtung Politik, was konkret zu ändern sei, bleibt das Buch jedoch recht dünn. „Wir brauchen für den Umgang mit dem Internet neue Regeln, individuelle wie gesellschaftliche“, schreiben die Autoren. Das „digitale Ich“ solle vergleichbare Rechte genießen wie das „reale Ich“. Dazu müsse das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auf europäischer Ebene durch eine bessere Datenschutzgesetzgebung gestärkt werden, meinen die Autoren. Außerdem fordern sie eine stärkere Kontrolle von Internetmonopolen wie Google und ein „Recht auf Vergessenwerden“ für Internetnutzer. 

Doch im Detail gehen sie auf keinen dieser ja derzeit durchaus kontrovers diskutierten Vorschläge und die damit verbundenen Dilemmata ein. Material dazu gäbe es genug für mehrere Bücher. Die neue europäische Datenschutzverordnung steht kurz vor ihrer Verabschiedung und sorgt seit Monaten für viel Diskussionsstoff zwischen Regierungen, Europäischem Parlament und Bürgerrechtsorganisationen. 

Auch auf das wettbewerbsrechtliche EU-Verfahren gegen Google und die Debatte um die Implementierung des „Right to be forgotten“ durch Suchmaschinenbetreiber gehen die Autoren nicht ein. Dabei handelt es sich in letzterem Fall um einen fundamentalen Konflikt zwischen den Grundrechten des Schutzes der Privatsphäre einerseits und der freien Meinungsäußerung andererseits.

Die Diskussion um die zukünftige Entwicklung des Internets, Überwachung und Datensicherheit wird die Politik, Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft noch lange in Atem halten. Sowohl Harris’ „@War“ als auch -Austs und Ammanns „Digitale Diktatur“ sind wichtige und in gewisser Weise auch typische Beiträge zur laufenden Debatte. 

Beide Bücher zeigen, wie wichtig ein tiefgreifendes Verständnis der Thematik ist, um eine fundierte Kritik der Militarisierung des Internets und der Gefahren für das offene Netz zu leisten, ohne selbst in eine dramatisierende und in Angstmacherei mündende Rhetorik abzudriften. Während Harris das gelingt, verfehlen Aust und Amman diesen schmalen Grat.

Isabel Skierka ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Global Public Policy Institute (GPPi) in Berlin.

Shane Harris: „@War – The Rise of the Military-Internet Complex“. Boston: Houghton Mifflin Harcourt Publishing Company 2014, 232 Seiten, 27,00 

Stefan Aust und Thomas Ammann: Digitale Diktatur. Totalüber-wachung, Datenmissbrauch, Cyberkrieg. Berlin: Econ 2014, 352 Seiten, 19,99 €

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 134-138

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