Krampf ums Kosovo
Der Masterplan, der keiner ist: UN und EU garantieren Unabhängigkeit – aber bieten noch keine Perspektive
Trotz ihrer Loslösung von Belgrad erfahren die Kosovaren, dass andere über ihren Staat bestimmen: Serbien, das weiter Teile des Territoriums kontrolliert, die Westmächte, die in Pristina regieren. Doch die Entschärfung des Konflikts drängt, um dem Balkan Stabilität zu bringen – durch Anerkennung der faktischen Teilung Kosovos, durch Rückführung des Protektorats.
Am 11. Mai hat Serbien wieder einmal „Schicksalswahlen“ absolviert. Zum dritten Mal innerhalb von anderthalb Jahren (man erinnert sich: Januar 2007 Parlamentswahlen, November 2007 Präsidentschaftswahlen, Mai 2008 vorgezogene Parlamentswahlen). Dabei ging es nach gängiger Meinung um die Weichenstellung zwischen West- und Ostorientierung des Landes, die Wahl zwischen einer europäischen Zukunft oder dem Rückfall in die Isolation und die Entscheidung für wirtschaftlichen Aufschwung oder Stagnation. Zum dritten Mal hat Serbien eine klare Antwort verweigert. Die beiden Blöcke um die liberale Demokratische Partei (DS) von Staatspräsident Boris Tadic und um die nationalistische Radikale Partei Serbiens (SRS) unter Tomislav Nikolic sind und bleiben etwa gleich stark. Die Regierungsbildung hängt auch diesmal vom Zünglein an der Waage ab – mit Genuss gespielt von der Sozialistischen Partei, die nach dem Tod ihres Übervaters MiloäeviŤ erstmals die Chance zu einer Neuprofilierung erhält. Gleichgültig wie das Feilschen um die Regierungskoalition ausgeht, Serbien ist ein geteiltes Land und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben.
Man fahre nach einem Rundgang durch Belgrad nach Süden, zur mazedonischen Grenze. In der Hauptstadt ist in den letzten Jahren ein Bauboom im Gang. Vor allem in Neu-Belgrad, aber auch in der Innenstadt werden Geschäftshäuser hochgezogen, die Infrastruktur hat sich rasant verbessert, Parkanlagen werden erneuert. Viele Belgrader sind stolz auf das neue Gesicht ihrer Stadt. Goran, ein Mittdreißiger, ist vor drei Jahren aus Australien in seine Heimatstadt zurückgekehrt und führt mit einem Partner ein renommiertes Speiselokal in der Beogradska-Straße. Zur Mittagszeit tummeln sich bei ihm die Geschäftsleute aus der Nachbarschaft. „Der Anfang ist gemacht“, sagt er. „Wenn die Politik nicht reinpfuscht, wird das ein Erfolg.“ Goran wählt DS, denn er hat einiges zu verlieren.
Die Fahrt Richtung Mazedonien bestätigt das alte jugoslawische Sprichwort, mit dem das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd beschrieben wurde: „Je südlicher, desto trauriger.“ Dort, in den Provinzstädtchen wie Vranje oder Leskovac begegnet man dem andern Serbien. Die Textilindustrie, die diesen Landstrich ernährte, ist zusammengebrochen, der wichtigste Arbeitgeber die überbelegte Staatsverwaltung. In den kleinen, düsteren Kaffeehäusern hockt breitbeinig die männliche Jugend, die Schädel kurz rasiert. Unterbeschäftigt und wütend auf die smarten Belgrader Krawattenträger, die immerfort von Europa sprechen. „In acht Jahren haben die nichts erreicht“, sagt Nenad, der bis vor zwei Jahren bei „Radteks“ Webmaschinen reparierte. „Weshalb sollen es jetzt nicht mal die Radikalen versuchen?“
Der Aufschwung in Serbien ist höchst ungleich verteilt: Es gibt die Sieger und die Verlierer des Transformationsprozesses, jene, die neue Chancen erblicken und jene, die den Kampf aufgegeben haben. Es gibt das selbstbewusste Belgrad, das schmucke Novi Sad in der Vielvölkerprovinz Vojvodina, und es gibt die Provinzstädtchen, aus denen sich die Industrie verabschiedet hat, die Seitentäler, die sich entvölkern. Es gibt zwei Serbien – und dennoch zeigen die Umfragen, dass eine klare Mehrheit der Bevölkerung an der EU-Annäherung festhält, verspricht sie doch Wohlstand und mehr persönliche Sicherheit. Wird der Kurs nach Europa beibehalten, werden die damit verbundenen Reformen des Rechts, der Justizbehörden und der Staatsverwaltung durchgeführt und wächst die Wirtschaft weiter, rückt das Ziel einer „Europäisierung“ Serbiens bald in Sichtweite.
Ungelöste Frage
Auf diesem Weg gibt es allerdings einen Stolperstein, der Serbien markant von den anderen Transformationsländern des Westbalkans unterscheidet: das Kosovo. Zwar kann das Thema nicht mehr beliebig zur nationalistischen Mobilisierung benutzt werden, wie in den achtziger und neunziger Jahren. Und die Maiwahlen haben zudem gezeigt, dass Koätunicas Vorschlag, dem Kampf ums Kosovo die EU-Perspektive zu opfern, nicht mehrheitsfähig ist. Doch die Kränkung über den Verlust verfliegt nicht einfach. Auf absehbare Zeit wird keine Mainstream-Partei die Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen. Das Thema bleibt virulent und dient den Nationalisten als Zündstoff in Krisensituationen. Im noch ungünstigeren Fall kommt es zu Zusammenstößen zwischen Serben und Albanern im Kosovo, die zu heftigen politischen Ausschlägen führen. Davon profitiert das nationalistische, ressentimentgeladene Serbien, das der Zukunft im Wege steht.
Und wenn schon, könnte man sagen. Serbien hat 1999 den Krieg gegen die NATO verloren, soll es sich doch so viel Zeit wie nötig nehmen, um sich dessen bewusst zu werden. Doch widerspricht das Argument nicht nur dem von der NATO ins Feld geführten Kriegsgrund (Verhinderung humanitärer Katastrophe), viel wichtiger ist: Das jetzige Arrangement ist auch für die junge Republik Kosovo nicht nachhaltig. Kurz: Die Kosovo-Frage ist ungelöst.
Der von den Westmächten entworfene und durchgesetzte „Masterplan“ für das Kosovo weist keineswegs den Weg zu dauerhafter Stabilisierung, Befriedung und Fortschritt. Weder für Serbien, noch für das Kosovo. Zwar hat sich Pristina am 17. Februar unabhängig erklärt und eine Verfassung verabschiedet, die Mitte Juni in Kraft treten soll. Der Text allerdings wurde weitgehend diktiert, handelt es sich im Kern doch um den „Ahtisaari-Plan“ vom März 2007, der eine international überwachte Unabhängigkeit skizziert und der serbischen Minderheit im Kosovo extensive Autonomierechte einräumt. Doch droht diese Verfassung, die, wie ein kosovo-albanischer Kommentator in einer Mischung aus Stolz und Bitterkeit schreibt, die „weitestgehenden Minderheitenrechte in Europa garantiert“, zur Makulatur zu werden. Faktisch unterstehen die von Serben besiedelten Enklaven und vor allem der Nordzipfel des Kosovo nämlich nicht der Souveränität Pristinas, sondern werden von Belgrad kontrolliert. Hier fahren die Autos mit serbischen Kennzeichen, ist der Dinar die gültige Währung und die Anzahl serbischer Flaggen pro Einwohner nirgendwo höher als in Nord-Mitrovica. Doch ist Serbien nicht nur symbolisch präsent: Belgrad übt jene Politik aus Solidarität und Zwang aus, die den schätzungsweise 150 000 Serben das Gefühl gibt, nach wie vor Subjekte dieses Staates zu sein. So hat das Ministerium für Kosovo eine Zweigstelle in Nord-Mitrovica, wo Investitionspläne entworfen und Sitzungen mit den Gemeindebehörden der Enklaven abgehalten werden. Ein kleiner Personenkreis aus dem „Serbischen Nationalkongress“ verteilt Gelder. Es gibt die Fakultäten der „Universität Pristina mit provisorischem Sitz in Mitrovica“, ein Krankenhaus, Schulen – alles von Belgrad finanziert. Die Löhne sind doppelt so hoch wie in Serbien selber: „Manche Kollegen in Belgrad nennen uns Berufsserben“, sagt eine Ärztin, die in der Ambulanz der Universität arbeitet. Natürlich gibt es auch die serbische Polizei, allerdings in Zivil. Die Einheimischen nennen sie „die neuen Gesichter“. Das Ziel dieser Politik, die im Grundsatz von allen serbischen Parteien (außer den Liberal-demokraten) geteilt wird, ist die möglichst enge Anbindung des „serbischen“ Kosovo ans Mutterland. Nordkosovo und in beschränkterem Umfang die Enklaven führen damit ein Eigenleben, das mit der kosovarischen Souveränität unvereinbar ist – und eine Karikatur der ethnischen Dezentralisierung à la Ahtisaari darstellt.
Diese sieht zwar ebenfalls eine weitgehende Selbstverwaltung der serbischen Gebiete vor, die zudem enge Beziehungen mit dem Mutterland pflegen dürfen und deren Bewohnern die Doppelbürgerschaft des Kosovo und Serbiens eingeräumt wird. Aber die finanziellen und institutionellen Beziehungen zwischen Belgrad und den Kosovo-Serben müssten laut Plan über Pristina laufen – und daran denken weder die Kosovo-Serben noch Belgrad im Traum. Die EU-Verwaltungsbehörde und die UN-Mission im Kosovo (UNMIK) stehen dieser faktischen Doppelsouveränität, die der deklarierten Unabhängigkeit ins Gesicht schlägt, hilflos gegenüber. Weil Russland beim Entwerfen des Kosovo-Masterplans nicht einbezogen wurde und sich voll auf den serbischen Standpunkt stellte, bleibt die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 in Kraft, die den Vereinten Nationen die Verwaltungshoheit über das Kosovo überträgt. Ihre Ablösung durch die EU-Verwaltung ist dadurch rechtlich nicht gedeckt – ob es die Unabhängigkeit des Kosovo ist, darüber streiten sich die Völkerrechtler. Und so sitzt Joachim Rücker, der ehrbare deutsche Chef der UNMIK, im hoch gesicherten Hauptquartier – und wartet auf Instruktionen aus dem UN-Sitz in New York. Eigentlich möchte er seinen Posten abgeben und das Feld dem energischen EU-Verwaltungschef Pieter Feith überlassen. Aber soweit dehnen lässt sich „1244“ nicht – schon gar nicht, solange UN-Generalsekretär Ban Ki-moon schweigt. Rücker spricht von der „Rekonfiguration“ der Mission und der Notwendigkeit, die Fakten „on the ground“ anzuerkennen. Doch „on the ground“ ist ein Seilziehen um die Kontrolle der serbischen Siedlungsgebiete in Gang, inmitten eines dicken Nebels rechtlicher Unklarheiten.
„Fuzzy State“
Kosovo ist zwar kein failed state, aber es ist ein „fuzzy state“ mit unklaren Grenzen, mehreren Jurisdiktionen und (zu) vielen internationalen Akteuren. Dies hat ernsthafte Konsequenzen für die Entwicklung des Landes. Vor allem, weil die Festigung des Rechtsstaats als Voraussetzung für Demokratie nur möglich ist, wenn klar wird, welcher Staat für das Recht zuständig ist. Je länger dieser Zustand anhält (die serbische Parallelherrschaft existiert seit dem Ende des Krieges im Sommer 1999), desto stärker werden informelle und kriminelle Strukturen, die in diesem Rechtsvakuum gedeihen. Die politische Stabilisierung und wirtschaftliche Entwicklung sowohl Serbiens als auch Kosovos sind somit nur möglich, wenn das ideologische wie praktische Störpotenzial der parallelen Enklavenherrschaft ausgeräumt wird. Die Westmächte haben zwei Optionen: Erstens die Übernahme der serbischen Gebiete und die Etablierung der EU-Verwaltungsbehörde als Besatzungsmacht. Doch der Versuch, dies auf friedlichem Weg zu erreichen, scheiterte im Februar dieses Jahres. Die Demonstrationen und Krawalle im Nordkosovo haben gezeigt – und dies war ihr Ziel – dass die Etablierung der EU-Verwaltungsbehörde (und jene Pristinas) nur mit militärischer Macht möglich sein würde. Die KFOR-Truppen, bisher von den Serben als Schutzmacht gegen albanische Übergriffe akzeptiert, gerieten damit in die Rolle von Besatzern. Die EU-Verwaltungsbehörde müsste unter ihrem Schutz operieren und KFOR wohl auch Polizeiaufgaben ausführen.
Die zweite Option sind Verhandlungen über den künftigen Status der serbischen Siedlungsgebiete. Dies mag vielen als Ankündigung eines Albtraums erscheinen. Doch die jetzige Situation ist bereits einer: Ohne Kooperation des serbischen Bevölkerungsteils lässt sich die Verfassung des Kosovo nicht durchsetzen, der permanente politische Kleinkrieg zwischen den beteiligten Akteuren (Kosovo-Serben, Regierung in Pristina, UNMIK, ICO, Belgrad) verhindert jeden Fortschritt und wird – früher oder später – gewaltsam eskalieren.
Das Resultat dieser Verhandlungen wäre wohl eine institutionelle Trennung des Nordteils Kosovos von Pristina. Damit würde der Status quo legalisiert. Ähnliches gälte wohl für die größeren Enklaven (Gracanica, Strpce), während die kleineren Siedlungen aussterben oder voll in den kosovarischen Staat integriert würden. Könnten dies die Kosovo-Albaner, die sich am Ende eines hundertjährigen Unabhängigkeitskampfes sehen, je akzeptieren? Ja, stellte man ihnen dafür die Aussicht auf einen funktionalen Staat und den Abbau der Protektoratsstrukturen in Aussicht. Das jetzige Arrangement ist für die Kosovo-Albaner nämlich alles andere als günstig: Sie kontrollieren nicht das ganze Territorium, sie unterstehen einem Protektorat, das in allen Fragen das letzte Wort hat und ihr Staat wird, mangels Einigung im Sicherheitsrat, nur von einem Teil der Staatengemeinschaft anerkannt. Dies steht der Möglichkeit zum Beitritt wichtiger Organisationen (von Fifa bis UN) im Weg. Schon jetzt greift die Katerstimmung nach den Unabhängigkeitsfeiern immer stärker um sich – mit der Bewegung „Vetevendosje“ (Selbstbestimmung) hat das Kosovo eine politische Kraft, welche die Unzulänglichkeiten der bestehenden Ordnung scharf kritisiert. Wenige hundert Meter vom UNMIK-Komplex sitzt Albin Kurti, ihr junger und charismatischer Führer, in einem baufälligen Häuschen. Eloquent zeigt er die großen Linien auf: „Das Kosovo ist nicht unabhängig. Unsere Politiker sind nicht den Bürgern, sondern dem Protektorat verpflichtet, die Verfassung haben nicht Volksvertreter, sondern Ahtisaari geschrieben, und Serbien ist auf einem Viertel unseres Territoriums präsent. Das Kosovo ist eine Kolonie. Nur die Besatzer lösen sich ab.“
Mitgliedschaft 2.Klasse
Die Kritik mag überzogen erscheinen, zu offensichtlich sind die Unterschiede zwischen dem Belgrader Repressionsregime der neunziger Jahre und dem milliardenteuren „empire lite“ (Ignatieff), dass die UN errichtet haben. Aber es ist richtig, dass unter dem Regime des Protektorats, das überall dort, wo es „drauf ankommt“ (Verfassung, Justiz, Minderheiten), das letzte Wort behält, die Entstehung einer verantwortlichen politischen Elite unwahrscheinlich ist. Gerade deshalb, weil sie die Verantwortung nicht hat. Der Öffentlichkeit wird dann das „blame game“ vorgeführt: Internationale Funktionäre und lokale Politiker werfen sich gegenseitig die Schuld am „Staatsversagen“ vor – an der Energieknappheit, den schlechten Straßen, der mangelnden Rechtssicherheit. Auch wenn das Protektorat im Kosovo in der unmittelbaren Nachkriegszeit ohne Alternative war – als längerfristig wirksame Modernisierungsagentur ist es wohl kaum geeignet. Der Handel zwischen Kosovo-Albanern, Serben und der „internationalen Gemeinschaft“ könnte etwa so aussehen: -Aufgabe des Souveränitätsanspruchs Pristinas über die serbischen Siedlungsgebiete gegen den Rückbau der Protektoratsstrukturen, die nur noch Überwachungs-, aber keine Exekutivkompetenz mehr hätten.
Damit würden Tatsachen anerkannt: Kosovo war nie ein multiethnisches Gebilde und wird es auf absehbare Zeit auch nicht sein. Die Unterstellung des Nordkosovo unter die Souveränität Pristinas ist illusorisch – ebenso wie es die Reintegration des Kosovo nach Serbien ist. Das Tabu, dass im Zerfallsprozess Jugoslawiens die Grenzen der Teilstaaten nicht angetastet werden dürfen, ist mit der Unabhängigkeit des Kosovo gefallen. Folglich geht es darum, sie so zu ziehen, dass ein funktionales Staatswesen entsteht. Mit der Aufhebung des Protektorats zollte man der Tatsache Tribut, dass die Entwicklung stabiler Staatsstrukturen und einer emanzipierten Bürgerschaft aus der Gesellschaft selber kommen muss. Dem Nationbuilding durch ein Protektorat bleiben enge Grenzen gesetzt.
Dennoch würden das Kosovo und Serbien nicht allein gelassen, und selbstverständlich bliebe die EU der wichtigste Ordnungsfaktor. Nicht als Fernziel, sondern als Akteur eines energischen „Member-State Building“, wie es von der Internationalen Balkan-Kommission schon 2005 als Alternative zur bisherigen Erweiterungspolitik vorgeschlagen wurde. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, dass die Beitrittskandidaten den Acquis communautaire so schnell und vollständig wie möglich übernehmen. Man hilft ihnen vielmehr beim Aufbau von Verwaltungen, welche die Gesetze auch tatsächlich anwenden können. Der Annäherungsprozess wird in kleine Entwicklungsschritte aufgeteilt, Erfolg wird umgehend belohnt. Zentrale Bedeutung kommt dem Aufbau eines funktionierenden Justizwesens zu. Wichtig ist, dass dieser Prozess schnell geht: Besser eine Mitgliedschaft 2. Klasse in fünf Jahren als eine Vollmitgliedschaft in zehn Jahren. Aus der Perspektive der Konfliktprävention auf dem Westbalkan ist die Erweiterung der EU ungleich wichtiger als deren Vertiefung.
Damit wird klar, dass die Rede nicht mehr bloß von Serbien und dem Kosovo ist. Es geht um die ganze Region. Weil ethnische und staatliche Grenzen auseinanderfallen (und keineswegs zwingend zur Deckung gebracht werden müssen), strahlen Krisen aber auch Erfolge aus. Albanien, Bosnien, Mazedonien und Montenegro haben allesamt Interesse an einer stabilen Nachbarschaft. Auch deshalb muss der letzte offene Konflikt im jugoslawischen Zerfallsprozess, die Kosovo-Frage, dauerhaft entschärft werden. Dies gelingt nur mit einer von beiden Konfliktparteien akzepzierten Lösung. Der bestehende Masterplan, den die Westmächte ohne die Betroffenen unter sich ausmachten, genügt nicht. Es braucht den massiven Druck der Mächte auf beide Seiten, um eine Einigung zu erreichen – aber ebenso die konkrete Unterstützung für eine schnelle Integration der Länder in die EU.
Mit der Beilegung des Streites um sein Territorium erhielte das Kosovo erstmals die Chance, sich von seinen äußeren wie inneren Blockaden zu befreien und seinen postkolonialistischen Komplex zu überwinden. Die Lösung der Kosovo-Frage würde aber auch Serbien den Weg frei machen: dem weltoffenen, zur Veränderung fähigen und eines Tages vielleicht auch selbstkritischen Serbien. Dem verstockten, rückwärtsgewandten Serbien wäre jedenfalls das Lieblingsthema abhandengekommen.
ANDREAS ERNST, geb. 1960,
ist Korrespondent der NZZ am Sonntag in Belgrad.Als Historiker arbeitet er
zudem an einem Forschungsprojekt zum Staatsbildungsprozess im Kosovo seit 1999.
Internationale Politik 6, Juni 2008, S. 37-43
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