Titelthema

18. Nov. 2022

Konfuzius’ Welterfolg

Die Wissenschaftskooperation mit dem autokratischen System Chinas wirft Fragen auf

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Bild: Zeichnung eines geschlossenen Konfuzius-Instituts
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Irgendwann während seines Aufenthalts in Berlin von 1997 bis 2001 keimte im Kopf des ehemaligen chinesischen Botschafters in Deutschland, Lu Qiutian, die Idee zur Gründung eines Instituts für chinesische Sprache und Kultur auf. Bald darauf wurde ein Treffen arrangiert, bei dem Qiutian seine Idee vorstellte. Allerdings nicht dem Chinesischen Rat für Sprache (Hanban) oder anderen Vertretern der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), sondern ausgewählten deutschen Wissenschaftlern. „Ich habe mich mit ein paar Leuten von der Universität Leipzig zusammengesetzt und wir haben die Idee entwickelt“, erzählte Qiutian 2016 dem Sinologen Falk Hartig und erinnerte daran, dass der Name „Konfuzius-Institut“ ursprünglich eine Idee des Ostasien-Instituts war. Das Institut unterhielt ein Forschungszentrum, das sich speziell mit dem vor 2573 Jahren geborenen chinesischen Philosophen befasste.



Rückblickend war die Begegnung zwischen der Universität Leipzig und Lu Qiutian ein Erfolg. Was ursprünglich als reiner „Ideenaustausch“ gedacht war, wie mir Ralf Moritz erzählte, der damals als Professor am Ostasien-Institut tätig war, ist heute ein zentrales Kapitel chinesischer Globalisierungsgeschichte. „Ich habe also jemandem im Außenministerium von dieser Idee erzählt, und anscheinend hat man sie aufgegriffen“, schilderte Qiutian Hartig den weiteren Verlauf. Drei Jahre später wurde das erste Konfuzius-Institut in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul aus der Taufe gehoben.



Angesichts der bemerkenswerten Erfolgsgeschichte der deutschen Sprach- und Kulturinstitute überrascht es wenig, dass Qiutian sich dafür interessierte, wie aus Konfuzius ein neuer Goethe werden könnte. Es ging ihm allerdings auch von Anfang an darum, die chinesische Vision eines weltweiten autokratischen Bildungswegs an westlichen Universitäten zu normalisieren. Er wollte sein Konzept so eng wie möglich an das anlehnen, was die Europäer ohnehin bereits überall auf der Welt taten, die Beschreibung von Ralf Moritz seiner Begegnung mit dem chinesischen Botschafter als „Ideenaustausch“ ist in gewisser Weise naiv.



Wir wissen zwar nicht viel über den konkreten Inhalt der außergewöhnlichen Besprechung an der Universität Leipzig, aber wir wissen, dass Qiutian einige gute Ratschläge erhielt. Diese trugen unter anderem dazu bei, dass das Geflecht der Konfuzius-Institute (KI) heute zu den größten Kulturnetzwerken der Welt zählt. Mit 525 Instituten, die in 146 Ländern tätig sind, und 369 Konfuzius-Klassenzimmern in 96 Ländern übertreffen sie die Zahl der Goethe-Institute, die in 98 Ländern vertreten sind, deutlich. Derzeit gibt es allein 190 KIs in der EU, von denen 19 an deutschen Universitäten angegliedert sind.



Nicht darüber sprechen

Im Oktober 2021 wandte sich ein weiterer chinesischer Diplomat an eine deutsche Universität, doch dieses Mal blieb der Austausch ergebnislos. Der chinesische Konsul in Düsseldorf, Feng Haiyang, hatte von einer bevorstehenden Online-Veranstaltung erfahren, bei der eine neue Biografie mit dem Titel „Xi Jinping: Der mächtigste Mann der Welt“ vorgestellt werden sollte. Gastgeber war die Universität Duisburg-Essen. Der Konsul schaltete sich ein, um die Veranstaltung zu stoppen. „Über Xi Jinping kann man nicht mehr wie über einen normalen Menschen reden, man darf ihn nicht diskutieren“, soll ein Konfuzius-Institut-Mitarbeiter dem Piper Verlag, der die von den Journalisten Stefan Aust und Adrian Geiges verfasste Biografie herausgibt, klargemacht haben.



Wie bei vielen anderen Zensurmaßnahmen, die von der chinesischen KP angeregt und von den Konfuzius-Instituten durchgeführt wurden, folgt auf eine versuchte Einflussnahme in der Regel eine gewisse öffentliche Empörung: „Eine Diktatur versucht hier nicht nur, den Westen wirtschaftlich zu überholen, sondern auch ihre Werte international durchzusetzen – Werte, die sich gegen unsere Freiheit richten“, so Stefan Aust über die Absage durch das KI (die Lesung wurde dann vom Ostasien-­Institut der Universität durchgeführt). Andere wurden noch deutlicher: „Dieser Vorfall sollte jedem deutschen Hochschulpräsidenten klar machen, dass Konfuzius-Institute an deutschen Hochschulen und allen anderen der akademischen Freiheit verpflichteten Einrichtungen nichts zu suchen haben“, sagte Thorsten Benner, Direktor des Global Public Policy Institute in Berlin, kurz darauf der Presse.



Rund 13 Jahre zuvor kam es in Israel zu einem ganz ähnlichen Vorfall. Im Winter 2008 veranstaltete die Zentralbibliothek der Universität Tel Aviv eine Ausstellung über die verbotene chinesische spirituelle Praxis „Falun Gong“, die ebenfalls abrupt abgebrochen wurde. Obwohl die Ausstellung ursprünglich von Yoav Ariel, Professor und damaliger Leiter der Ostasien-Abteilung, genehmigt worden war, ordnete ausgerechnet er den ­Abbruch an. Ariel gab an, er habe mehrere anonyme E-Mails von israelischen Studenten in China erhalten, in denen sich diese darüber beschwerten, die Ausstellung würde China mit Nazi-Deutschland gleichsetzen, was Antisemitismus fördern könne. Daraufhin habe er die Entscheidung zum Abbruch getroffen.



Der wahre Grund für seine Entscheidung wurde erst ein Jahr später bekannt, nachdem eine Klage gegen die Universität wegen Verletzung der Redefreiheit eingereicht wurde. Offenbar erhielt Ariel einen Tag vor seiner Entscheidung einen Überraschungsbesuch des chinesischen Kulturattachés in Israel. Der Attaché äußerte seine Unzufriedenheit mit der Ausstellung, die aus seiner Sicht eine „falsche, gegen China gerichtete Propaganda“ darstellte. Die anonymen E-Mails, die als harte Beweise verkauft worden waren, wurden dem Gericht nie vorgelegt. Wie der Richter selbst andeutet, hat es sie wahrscheinlich nie gegeben. „Der chinesische Druck hatte Wirkung“, schlussfolgerte der Richter zugunsten der Kläger.



„Nach den Gräueln des Nazi-Regimes und der Verfolgung jüdischer Intellektueller ist es für mich einfach unverständlich, dass deutsche Universitäten ihren Namen für ein neototalitäres Land hergeben, in dem nachweislich ein schleichender Völkermord stattfindet“, sagte mir der Politikwissenschaftler und scharfe Kritiker der Konfuzius-Institute, Andreas Fulda, Professor an der Universität Nottingham. „Es gibt keinen Free Lunch“, so Fulda. „Wenn die Institute erst einmal in einer deutschen Universität eingebettet sind, müssen die Hochschulen Kompromisse eingehen, das ist unvermeidlich. Natürlich werden sie so der KPCh gegenüber nachsichtiger und schweigen zum Beispiel zur tibetischen Frage. Indem sie das tun, untergraben sie die akademische Freiheit. Das geht zu weit in einem Land, das gerne vorgibt, ein aufgeklärtes zu sein.“



Fulda verweist auch auf die negative Reaktion in der Öffentlichkeit auf den 2017 enthüllten Vertrag der Freien Universität Berlin mit dem dort neugegründeten Konfuzius-Institut. In dem Vertrag, der zunächst vertraulich blieb, wurde vereinbart, dass die KPCh den Fünf-Jahres-Vertrag jederzeit kündigen kann (nach „chinesischem Recht“). Der Freien Universität steht dieses Recht jedoch nicht zu, sofern sie jedes Jahr pünktlich 100 000 Euro von der KPCh erhält. Die sich auf eine halbe Million Euro belaufenden Gelder ermöglichten es dem Sinologen Andreas Guder, seine bisherige Position als Ko-Direktor des Konfuzius-Instituts an der Universität Göttingen gegen eine ordentliche Professur an der Freien Universität einzutauschen.



Es scheint, als bildeten diese Art von Verträgen ein sehr attraktives Muster. Trotz Deutschlands mangelndem Engagement für die Informationsfreiheit können uns andere Quellen die restlichen Teile des Puzzles liefern. Laut Anfragen nach dem Freedom of Information Act im Vereinigten Königreich hat die KPCh zwischen 2006 und 2021 insgesamt 24 Millionen Pfund für 17 britische Universitäten bereitgestellt, was im Durchschnitt etwa 100 000 Pfund pro Jahr für jede Universität bedeutet.



In den Vereinigten Staaten lassen sich ähnliche Trends feststellen. Ein pensionierter Anthropologe der University of Chicago, Marshall Sahlins, enthüllte 2013, dass jedes Konfuzius-Institut mit 100 000 Dollar „Startkosten“ ausgestattet wird, gefolgt von fünf jährlichen Zahlungen in ähnlicher Höhe. Dazu kommen Gehaltszahlungen für die chinesischen Fakultätsmitglieder. 2019 sahen sich elf australische Universitäten gezwungen, ihre Verträge mit KIs zu widerrufen. Vier dieser Verträge enthielten dieselbe Klausel, die die Gast­universität dazu verpflichtete, „die Bewertung des Hauptsitzes der Institute zur Lehrqualität“ zu akzeptieren.



Mangelnde Transparenz macht es schwer, die Praxis deutscher und israelischer Universitäten bei diesen Vereinbarungen zu beurteilen, die sie noch immer als vertretbar einschätzen. Wenn die Universitäten ihr „Amtsgeheimnis“ mit der KPCh nicht offenlegen, müssen wir vom schlimmsten Szenario ausgehen. Die Universitäten stünden dann in der Schuld der KPCh. Von ihren ursprünglichen Absichten zur Verwendung der Mittel – der Intensivierung von Forschung – entfernen sie sich immer weiter. Auf diese Weise machen sich auch deutsche und israelische Universitäten den undemokratischen Slogan „Nicht darüber sprechen“ zu eigen, wenn es um ihre Konfuzius-Institute geht.



Auf möglichst viele Arten und Weisen

Israels Regierung ist sich schon seit einiger Zeit bewusst, dass die Aufnahme chinesischer Wissenschaftler an ihren Universitäten das Land vor große Herausforderungen stellt. In einem Knesset-Protokoll von 2003 wird Yigal Caspi, der ehemalige israelische Botschafter in der Schweiz (der seinen Hut nehmen musste, nachdem er die Opposition auf Twitter mit einem Hermann-Göring-Zitat abgekanzelt hatte) mit den Worten zitiert: „In China hat Bildung höchste Priorität, insbesondere im Bereich von Wissenschaft und Technologie, wie die Zahl der chinesischen Studenten zeigt, die mit Stipendien an unseren Universitäten studieren. Auch wenn manche meinen, es handele sich um eine einseitige Wissensgewinnung, so erfahren wir doch aus der akademischen Praxis, dass es gegenseitig verläuft. Nach Ansicht einiger Professoren ist es eine Investition in die Zukunft, wenn ein chinesischer Doktorand Informationen aus Israel gewinnt und diese dann wieder in das chinesische Bildungssystem einbringt, da es uns eine zukünftige Verbindung zu etablierten Akademikern garantiert. Die Zusammenarbeit wird von uns sehr positiv bewertet, und wir sind bestrebt, sie auf möglichst viele Arten und Weisen weiterzuentwickeln.“



Und genau das wurde getan. 2007 eröffnete die Universität Tel Aviv das erste Konfuzius-Institut in Israel, gefolgt von der Hebräischen Universität Jerusalem zwei Jahre später. 2013 eröffneten das Technion Institute of Technology und die Shantou-Universität mit Hilfe einer 130-Millionen-­Dollar-Spende des reichsten Mannes Hongkongs, Li Ka-Shing, ein gemeinsames Forschungszentrum für Wissenschaft und Technologie (die Stadt Shantou selbst steuerte ebenfalls 147 Millionen Dollar bei). Ein Jahr später richteten die Universität Tel Aviv und die Tsinghua-Universität in Peking ein 300-Millionen-Dollar-schweres Innovationszen­trum ein, das der Präsident der Tsinghua-Universität als „die umfassendste Kooperation“ bezeichnete, „die Tsinghua jemals eingegangen ist“.



„In manchen Vorlesungen saß ein Vertreter des Konfuzius-Instituts neben uns und machte sich in einem kleinen Büchlein Notizen“, erzählte mir Tuvia Gering, der am Konfuzius-Institut der Hebräischen Universität Jerusalem studierte und später auch lehrte. Jetzt arbeitet er als Analyst am Jerusalem Institute for Strategy and Security (JISS). „Hunderte von eingeschriebenen chinesischen Studenten sind allerdings täglich in diese Art von Spionage verwickelt. Die wirkliche Gefahr besteht darin, dass die Eröffnung des Konfuzius-Instituts dem Präsidenten der Hebräischen Universität als Gegenleistung für eine wichtige Zusammenarbeit mit Chinas Universitäten im Technologiebereich aufgezwungen wurde. Wir haben dafür allerdings keine konkreten Beweise“, sagte mir Gering.



Laut Gering ist „die Existenz von Konfuzius-Instituten an israelischen Universitäten alles andere als ideal, und wir sollten Chinas humanitäres Fehlverhalten verurteilen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass China kein Feind ist und die Vorteile einer Kooperation die Nachteile bei Weitem überwiegen.“ Als ich ihn daran erinnerte, dass eine ähnliche Haltung gegenüber Russland direkt nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine in sich zusammenbrach, wiederholte er, dass „wir uns daran erinnern müssen, dass Israel nicht gerade das beliebteste Land der Welt ist. Es ist für ein kleines Land nicht von Vorteil, vorschnell zu handeln und alle Brücken zu China abzubrechen, wie es etwa Australien und Litauen getan haben. Es besteht kein Zweifel daran, dass diese Länder die Gerechtigkeit auf ihrer Seite haben, aber ich kann Ihnen versichern, dass es nicht zu ihrem Besten war.“



Vom Aufstieg zum Fall?

In jüngster Zeit läuft es für die Konfuzius-Institute im Westen nicht mehr so gut. Von den 118 KIs, die es einst in den Vereinigten Staaten gab, haben 104 bereits wieder geschlossen oder sind gerade dabei. Verschiedene KIs in Belgien, Schweden, Dänemark, Norwegen, Kanada, Japan und Frankreich wurden aufgrund von versuchter Zensur, Spionagewarnungen oder öffentlichen Debatten bereits geschlossen oder stehen vor dem Aus. In Deutschland haben die Universitäten Düsseldorf und Hamburg ihre KI-Partnerschaften beendet. Die Institute sind allerdings weiterhin aktiv, nur ohne das Universitätslogo auf ihren Websites.



„Die KIs sollten von deutschen Universitäten abgekoppelt werden“, sagt Andreas Fulda. „Staatliche Eingriffe sind völlig legitim. Der Staat sollte den Hochschulen ein deutliches Signal geben, dass sie die Kooperation mit ihren Instituten nicht fortführen sollten. In diesem Fall geht es nicht darum, den Menschen vorzuschreiben, was sie denken oder schreiben sollen, sondern darum, Transparenz und Rechenschaftspflicht zu gewährleisten“, so Fulda.



In einem seiner Artikel appelliert er an Deutschland, eine eigene Version des amerikanischen ­Foreign Agents Registration Act zu verabschieden und Universitäten, die chinesische Gelder annehmen oder kein adäquates Risikomanagement betreiben, die Mittel zu streichen. In der Realität ist solch ein Gesetz allerdings weitgehend wirkungslos. Ein kürzlich veröffentlichter Bericht der National Association of Scholars zeigt, dass viele Konfuzius-Institute an amerikanischen Universitäten nach ihrer Auflösung in neuer Form wieder aufgetaucht sind: Von den 104 aufgelösten KIs wurden 28 durch ähnliche Programme ersetzt; 58 Universitäten haben enge Beziehungen zu ihren früheren KPCh-Partnern aufrechterhalten und fünf haben ihre KIs an einen neuen Träger übertragen, was sie am Leben hält (bei drei weiteren ist eine solche Übertragung zwar nicht offiziell bestätigt, aber wahrscheinlich).



Ähnliche Fälle gab es auch in Europa. Die Universität Leeds in England bestätigte, dass die Finanzierung ihres Instituts seit 2020 über eine chinesische Partneruniversität und nicht mehr über den chinesischen Staat direkt läuft. Auch die Universität von Aberdeen in Schottland erhielt 2021 Gelder von der Universität Wuhan und bekommt somit keine Mittel mehr direkt vom chinesischen Bildungsministerium.



Es ist nicht überraschend, dass der Foreign Agents Registration Act gescheitert ist, hat er doch viele Universitäten dazu verpflichtet, Gelder von der KPCh zurückzuzahlen – manchmal mehr als eine Million Dollar –, ohne echte Alternativen zur Abfederung der finanziellen Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, zur Hand zu haben. Dies war offenkundig keine ideale Lösung und hat die Suche nach Schlupflöchern befördert.



„Ich persönlich halte es für die falsche Entscheidung, die Konfuzius-Institute und gemeinsame Forschungsprogramme mit China ganz zu verbieten“, sagte mir Katja Drinhausen vom ­Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin, an dem sie als Senior Analyst tätig ist. „Sich wie die KPCh zu verhalten und Verbindungen zwischen Akademikern noch weiter zu unterbinden, wäre grundfalsch. Stattdessen können verstärkte Transparenz- und Sorgfaltspflichten helfen, den Erhalt akademischer Freiheit und ethischer Standards zu gewährleisten.“



„Verglichen mit anderen hochdotierten Forschungsvorhaben sind die Investitionen des chinesischen Staates in die deutschen KIs wirklich Peanuts“, so Drinhausen weiter. „Meiner Meinung nach sind die Institute ein leichtes Ziel, aber sie lenken letztlich von viel problematischeren Bereichen der Forschung ab, die in ganz Deutschland ablaufen.“ Ihre Argumentation untermauert sie durch einen kürzlich erschienenen Bericht mit dem Titel „China Science Investigation“, für den 350 000 wissenschaftliche Arbeiten aus den vergangenen zwei Jahrzehnten untersucht wurden. Die Studie zeichnet ein düsteres Bild, was die moralischen Standards in der deutschen Wissenschaftscommunity angeht.



Nach diesem Bericht wissen wir nun, dass viele deutsche Wissenschaftler eng mit chinesischen Kollegen zusammengearbeitet haben. Fast 350 gemeinsame Studien wurden durchgeführt, von denen viele sensible Felder wie Künstliche Intelligenz berührten. Die Verschmelzung von Künstlicher Intelligenz mit moderner Kriegsführung bildet heute das Zentrum aller fortschrittlichen Verteidigungstechnologien. China, Deutschland, Israel und die Vereinigten Staaten nutzen bereits Echtzeit-KI-Visualisierungen aktiver Schlachtfelder.



Wie wir wissen, wird Künstliche Intelligenz sowohl für Kriegsführung und Verteidigung als auch zur nationalen Überwachung eingesetzt, die sich während der Coronavirus-Pandemie in beträchtlichem Maße weiterentwickelt und standardisiert hat. Erst kürzlich wurde berichtet, dass Chinesen, die in der Provinz Henan gegen einen Banken­skandal demonstrieren wollten, der Zugang zu ihren Häusern verwehrt wurde, nachdem ihre Covid-App, deren Daten von der Polizei verwendet werden, rot aufleuchtete. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie all die oben genannten gemeinsamen Forschungsprojekte für totalitäre, diskriminierende Zwecke und auch zur Organisation eines Völkermords eingesetzt werden könnten.



Wie wir bisher gesehen haben, mögen manche die Zusammenarbeit mit autokratischen Regimen als moralisch unproblematisch ansehen; andere halten sie für unmoralisch. In dieser moralischen Schwebe, in der wir uns befinden, schlugen einige Wissenschaftler einen nuancierteren, wenn auch nur begrenzt anwendbaren Ansatz vor: „Die Angst um die Sicherheit und Freiheit eines Kollegen, Freundes oder Verwandten in China ist beispielsweise in der Regel ein besserer Grund für Selbstzensur als der Wunsch, eine Stelle als Gastwissenschaftler zu behalten, mit der die eigenen teuren akademischen Reisen und Forschungsaufenthalte bezahlt werden“, schreibt Eva Pils, Professorin am King’s College London, in einem kürzlich erschienenen Artikel über intrinsisches Fehlverhalten demokratischer Akteure und wie dieses zu Chinas Erfolg beiträgt.



Aber was passiert, wenn es bestimmte Ziele gibt, die Autokratien und Demokratien gleichermaßen verfolgen? Wenn Künstliche Intelligenz oder jeder andere technologische Fortschritt das menschliche Leben sowohl verbessern (zum Beispiel in der Medizin) als auch existenziell bedrohen kann, ist es äußerst schwierig, Wissenschaftlern und Universitäten irgendeine praktische moralische Anleitung für den Austausch mit autokratischen Systemen an die Hand zu geben.



Und nicht nur das: Wenn liberale Länder bereit sind, ihre eigenen liberalen Werte im Namen des wirtschaftlichen und geopolitischen Wachstums oder auch nur für den wissenschaftlichen Fortschritt zu riskieren, warum sollten Universitäten es ihnen dann nicht gleichtun?



Eine neue Generation

Ein deutscher Gelehrter, dessen Buch über Konfuzius-Institute eine aufschlussreiche Quelle für diesen Artikel war, hat die akademische Welt vor vier Jahren verlassen und arbeitet jetzt als Manager in der Unternehmenskommunikation bei Porsche. Auf meine E-Mail mit der Bitte um ein Interview antwortete er: „Es wäre ziemlich kompliziert, von meinem Arbeitgeber die Erlaubnis zu erhalten, über ein Thema zu sprechen, das nichts mit meiner aktuellen Tätigkeit zu tun hat.“



Es ist in der Tat kompliziert, kritisch über China zu sprechen, wenn man in der Automobilindustrie arbeitet. Schließlich handelt es sich um eine Industrie, die die Öffentlichkeit gelegentlich gern damit erschreckt, dass „Deutschland ganz anders aussehen würde“, sollte es China den Rücken kehren, um es mit den Worten von Ex-Volkswagen-Chef Herbert Diess vom Juni 2021 zu sagen (Audi hat fragwürdigerweise sein eigenes internes Konfuzius-Institut unter der Leitung von Peter Augsdörfer, Professor an der Technischen Hochschule Ingolstadt, die öffentliche Fördergelder erhält). Und in der Tat würden Deutschland und Israel in einem solchen Fall wohl ganz anders aussehen: Beide wären viel näher an dem liberalen Bild, das sie weltweit zu vermitteln versuchen.



Liberale Staaten haben oft wechselnde Ideale, wenn es um Redefreiheit und die akademische Unabhängigkeit geht. Um ihre eigenen demokratischen Glaubenssätze zu untergaben, brauchen sie oft nicht einmal die Hilfe Chinas oder anderer Autokratien. Es war kein chinesischer Parteichef, der die freie Presse als „den wahren Volksfeind“ bezeichnete, sondern der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, Donald Trump. Kürzlich hob der Oberste Gerichtshof Israels einstimmig die Entscheidung des ehemaligen Bildungsministers Yoav Gallant auf, der verhindert hatte, dass der wichtigste Exzellenzpreis Israels („Israel-Preis“) an Oded Goldreich, Informatiker und Professor am israelischen Weizmann-Institut, verliehen wurde, weil dieser angeblich „Boykotte gegen Israel“ unterstütze.



„Auch Israel wendet Zensur an, manchmal sogar noch effektiver“, sagte mir Jonathan Elkobi, der am Konfuzius-Institut an der Hebräischen Universität Jerusalem studiert hat. „Das Konfuzius-Institut in Jerusalem ist keine Forschungseinrichtung, sondern eine Sprach- und Kultureinrichtung. Ganz im Unterschied zu KIs in Afrika, wo neue Arbeitskräfte ausgebildet werden. Das Ausmaß der Zensur hängt also ganz von der Natur des jeweiligen Instituts ab. Meinen Professoren kam es seltsam vor, dass ich mein Studium nicht in China fortsetzen wollte. In der jüngeren Vergangenheit konnten nur wenige Akademiker nach China einreisen, so dass ein Großteil der Literatur über China aus der Außenperspektive verfasst wurde. Heute, durch Twitter und andere soziale Netzwerke, kann ich dasselbe tun, ohne mich den Einschränkungen vor Ort aussetzen zu müssen“, erzählte er mir von seinen Zukunftsplänen.



Die Entfernung ist ein wirksames Mittel, um dem langen Arm Chinas zu entgehen; das aber ist von nur begrenzter Wirksamkeit, da die Daten, die man aus China erhält, vorsichtig formuliert, nicht immer genau sind. Nichtsdestotrotz macht sich die nächste Generation von Sinologen bereits Gedanken über die immensen Kosten der Abhängigkeit von China. Vielleicht ist es an der Zeit, ihnen Gehör zu schenken, bevor sie in einer neuen Tätigkeit für immer verstummen, die viel lukrativer ist und weniger moralische Probleme mit sich bringt.



Aus dem Englischen von John-William Boer

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 07, November 2022, S. 62-69

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Roy Zunder ist ein in Berlin lebender israelischer Sozial­wissenschaftler und Journalist. Zuvor hat er seinen Bachelor- und Masterabschluss in Kunstgeschichte und Anthropologie an der Universität Tel Aviv absolviert. Seit 2020 schreibt er für die israelische Zeitung Haaretz über Kunst, Kultur und Geschichte.