Kleines Wirtschaftslexikon
China von A bis Z
APEC-BLAU
CYBER-KRIEGER
GULLY-ÖL
INFRASTRUKTUR-WELTMEISTER
INTERNET PLUS
KORRUPTIONSPARADOX
PRÜFUNG ALLER PRÜFUNGEN
RESTEFRAUEN
SEIDENSTRASSEN-INITIATIVEN
WOHNSITZKONTROLLE
YUAN
ZWEI-KIND-POLITIK
APEC-BLAU
Das tiefe Blau, das anlässlich des Jahrestreffens der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) über Chinas Wolkenkratzern strahlte, war nur durch vorübergehende Eingriffe in Verkehr und Produktion möglich.
Mehr als eine Woche strahlendblauer Himmel und frische Luft. Das hatte es schon lange nicht mehr in Peking gegeben. Genauer gesagt, bis zum November 2014. Damals fand in Chinas Hauptstadt das Jahrestreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) statt, und Gastgeber Xi Jinping legte Wert darauf, dass alles perfekt sein sollte, inklusive Wetter, Himmel und Luft. Dafür ließ die Regierung schon vor dem Gipfel Fabriken und Kraftwerke vorübergehend schließen, schränkte den Autoverkehr ein und erteilte teilweise Heizverbot.
Das tiefe Blau über Pekings Wolkenkratzern war ungewöhnlich in der Stadt, die sonst unter einer Dauerdunstglocke liegt. Schnell machte in Chinas sozialen Netzwerken das Wort vom so genannten „APEC-Blau“ (APEC lan) die Runde. Viele Internetnutzer posteten Fotos vom blauen Himmel – und bemerkten gleich dazu, dass dieses Blau wohl nur von kurzer Dauer sein würde. Wie wahr: Kaum war der Gipfel zu Ende, kehrte in Peking der Smog zurück.
Und so steckte in den Diskussionen über APEC-Blau durchaus eine Spur Zynismus: Für ausländische Gäste schafft China es innerhalb weniger Tage, die Luftverschmutzung zu beseitigen. Für die eigene Bevölkerung gelingt das nicht einmal nach Jahren. Dennoch griff auch Staatschef Xi Jinping den Begriff auf: Er hoffe, „dass wir mit vereinten Anstrengungen das APEC-Blau weiter erhalten können.“ Bislang vergebens.
In Metropolen wie Peking hat das Smogproblem zu einem erheblichen Verlust von Vertrauen in die Regierung geführt. Nach Schätzungen sterben jährlich bis zu 500 000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung. Immerhin: Aufgrund des öffentlichen Protests hat die Regierung ihre Maßnahmen gegen den Smog seit 2013 deutlich intensiviert, ein Messsystem für Feinstaub (PM 2,5) eingeführt und Zielwerte für stark verschmutzte Städte festgelegt. Durch den Ausbau erneuerbarer Energien sowie die Schließung und Umrüstung von Kohlekraftwerken sank der Kohleverbrauch im Jahre 2014 erstmals – seit mehr als einem Jahrzehnt.
Zusätzlich plant die Regierung, veraltete Autos mit hohen Emissionswerten auszurangieren und die Nutzung von Elektroautos zu fördern. Viele Städte haben bereits innerstädtische Umweltzonen eingerichtet, in denen Autos mit hohem Schadstoffausstoß nicht fahren dürfen. Neben vielen sinnvollen Maßnahmen ufert der Eifer der Behörden bisweilen in abstrusen Aktionismus aus: Vielerorts versuchen die lokalen Regierungen, das Zünden von Feuerwerkskörpern und die weit verbreitete Nutzung von Straßengrills zu unterbinden.
Doch selbst wenn Peking bis 2017 seine Ziele für Feinstaubbelastung erreicht, wird diese immer noch dreimal so hoch sein wie in Berlin und sechsmal so hoch wie der von der WHO empfohlene Jahresmittelwert. Selbst wenn Peking jedes Jahr seine Feinstaubkonzentration um 25 Prozent senken würde, könnten die nationalen Standards erst im Jahr 2031 erreicht werden. Zugleich verschärft die regionale Verlagerung der Energieproduktion und Schwerindustrie die Luftverschmutzung ins Landesinnere.
Der Smog dürfte also noch für viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte ein großes Problem für Chinas Städte bleiben und damit die politische Stabilität des Landes bedrohen. Der „Krieg gegen die Verschmutzung“, den Ministerpräsident Li Keqiang 2014 ausgerufen hat, ist kein Krieg, der mit umfassender Strategie geführt wird. Die gegenwärtigen Maßnahmen verlieren sich in zahlreichen Einzelaktionen verschiedener Städte, die in absehbarer Zeit nicht an den grundlegenden Prinzipien des derzeitigen Wirtschaftsmodells rütteln werden. Die Umweltschäden sind der späte Preis für drei Jahrzehnte enormen wirtschaftlichen Wachstums. Solange dieses System bestehen bleibt, wird ein APEC-blauer Himmel nur selten zu sehen sein.
Von Jost Wübbeke, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei MERICS zu Innovation und Technologie, Energie und Rohstoffe, Umwelt und Klima sowie digitale Wirtschaft.
CYBER-KRIEGER
Auch wenn Peking dementiert: Die Indizien, dass China systematisch Cyber-Spionage betreibt, sind erdrückend. Ziel sind ausländische Unternehmen und Regierungen, aber auch Journalisten.
In einem Hochhaus in der Nähe von Schanghai soll sie sitzen, die berüchtigte Einheit 61398. Recherchen der privaten US-Sicherheitsfirma Mandiant zufolge sind Chinas Cyber-Krieger weltweit verantwortlich für Einbrüche in Informationssysteme. Sie sollen vertrauliche Daten über den neuen Kampfjet F-35, das geplante Herzstück der US-Airforce, gestohlen haben. Auch für den Diebstahl von Daten des US-Wetterdienstes und der Post werden sie verantwortlich gemacht.
Sprecher des chinesischen Außenministeriums weisen diese Anschuldigungen zurück – das Land sei im Gegenteil selbst Opfer ständiger Hackerangriffe. Dokumente aus dem Fundus des Whistleblowers Edward Snowden unterstützen diese Linie: Sie sollen beweisen, dass Neuseeland und die USA gemeinsam versucht hätten, die Kommunikation zwischen der chinesischen Botschaft in Auckland und der Zentralregierung in Peking auszuspionieren. Nach Angaben des Chefs des Nationalen Arbeitsstabs für Internet-information, Lu Wei, wurden bereits mehr als 80 Prozent der chinesischen Regierungswebseiten mindestens einmal gehackt.
Auch wenn die Regierung Spionagetätigkeiten stets dementiert: Die Indizien sind erdrückend. Unternehmen in sensiblen Bereichen wie der Luftfahrt werden besonders häufig attackiert. Außerdem schwächt die Regierung durch die Blockade von Virtuellen Privaten Netzwerken die Möglichkeiten ausländischer Unternehmen in China, ihre Betriebsgeheimnisse effektiv gegen Spionage zu schützen. Kein Wunder, dass internationale Firmen wie General Motors ihre Asien-Zentrale von China in Nachbarländer verlagern, Mitarbeiter mit „datenintensiven“ Tätigkeiten aus China abziehen und weniger in Forschung und Entwicklung investieren.
Doch es sind nicht nur Wirtschaftsunternehmen und Regierungen, die von der chinesischen Regierung ausspioniert werden. Berichten zufolge hat Peking insbesondere in Südostasien gezielt Journalisten ausspioniert, die über geopolitische Entwicklungen in der Region oder über die Kommunistische Partei Chinas berichten. Die Attacken müssen nicht immer direkt von der Regierung befohlen sein – manche Angriffe werden auch von „patriotischen Hackern“ auf eigene Initiative durchgeführt. Ähnliche Ziele verfolgt die Kommunistische Partei mithilfe bezahlter Blogger, den so genannten „50 Cent-Bloggern“, die im Internet „positive Energie“ verbreiten und die Meinungshoheit der Regierung sicherstellen sollen.
Die Auseinandersetzungen um Spionagevorwürfe belasten das Verhältnis Chinas zu wichtigen Handelspartnern, allen voran zu den USA. Chinas „Internetministerium“ gab Anfang des Jahres 2015 weitreichende Änderungen der Cyber-Security-Gesetzgebung bekannt. Um die Kommunikation chinesischer Behörden und wichtiger Wirtschaftszweige abzusichern, soll vermehrt „sichere und kontrollierte“ – chinesische – Technologie eingesetzt werden. Umgekehrt verbieten die USA den Einsatz von Produkten des chinesischen Unternehmens Huawei in ihrer öffentlichen Verwaltung. Auch die Ausfuhr bestimmter Hochleistungsprozessoren der Firma Intel für die Verbesserung chinesischer Supercomputer wird untersagt, um die Rechenkapazitäten des Gegners nicht noch weiter zu steigern.
Von Hauke Gierow, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei MERICS für Cyber Security, Bankenreform sowie Internet Diplomacy.
GULLY-ÖL
Rund 10 Prozent des SpeiseÖls in China stammen aus Speiseresten und Kadavern. Es wird aus den AbflÜssen der Restaurants abgeschöpft. Auch ansonsten gilt: Jeder Bissen bleibt, auch in den guten Restaurants, vorerst ein Wagnis.
Wer in deutschen Supermärkten nach Babymilchpulver sucht, der steht derzeit häufig vor leeren Regalen. Viele Märkte haben den Verkauf bereits eingeschränkt. Ein Grund: Viele junge Eltern aus China lassen sich von Freunden oder Kleinhändlern das Pulver kiloweise aus dem Ausland zuschicken. Die Hersteller kommen mit der Produktion kaum nach.
Chinas Familien trauen schon lange keinem Milchpulver aus landeseigener Herstellung mehr. 2008 erkrankten mehr als 300 000 Babys an verunreinigter Säuglingsmilch, sechs starben an Nierenversagen. Wie sich herausstellte, hatten mehrere Hersteller das Kunstharz Melamin beigemischt, um trotz verdünnter Milch einen hohen Proteingehalt vorzutäuschen. Die staatliche Sanlu-Gruppe, damals einer der größten Milchproduzenten Chinas, musste drei Monate nach Bekanntwerden des Skandals Konkurs anmelden.
Generell ist das Vertrauen der Bevölkerung in sichere Lebensmittel mit diesem Fall rapide gesunken. Nahezu täglich kommen neue Gruselgeschichten ans Licht: In Qingdao marinierten Hersteller Entenfleisch mit Ziegen-urin, um es als Lammfleisch verkaufen zu können. In Zhengzhou kam Gammelhühnerfleisch „aufgehübscht“ mit Färbemittel und Chemikalien wieder in den Handel. Gammelfleisch eines chinesischen Lieferanten geriet 2014 auch in ausländische Selbstbedienungsketten wie Burger King, KFC oder McDonald’s, Starbucks und Pizza Hut. Verunreinigte Lebensmittel landen mitunter auch im Ausland: In Deutschland tauchten tiefgekühlte, mit dem Norovirus verseuchte Erdbeeren aus China auf. Ganze Schulklassen und Kita-gruppen erkrankten.
Die Verunreinigung von Lebensmitteln hat Methode und folgt eiskaltem Geschäftskalkül. Etwa 10 Prozent des Speiseöls stammt aus Speiseresten und Kadavern. Es hat den Beinamen „Gully-Öl“, weil es aus den Abflüssen der Restaurants abgeschöpft wird. Für „Gully-Öl“ hat sich eine gut organisierte Wertschöpfungskette gebildet, vom Abschöpfen über die Verarbeitung bis zum Verkauf. Über die Vermischung mit legalem Speiseöl gelangt es wieder in den Handel.
Die Politik ist dabei weitgehend hilflos. Die staatliche Lebensmittelkontrolle verfügt über zu wenig Personal, und ihre Labore sind technisch nicht gut genug ausgerüstet. Da sind allenfalls sporadische Stichproben möglich. Das gilt selbst für die stark regulierte Pharmaindustrie. Die Wahrscheinlichkeit für Hersteller, ertappt zu werden, ist denkbar gering.
Da hilft es auch nichts, teilweise drakonische Strafen zu verhängen. In dem Aufsehen erregenden Melamin-Skandal von 2008 verhängten Gerichte mehrere Todesstrafen und ließen Dutzende Verantwortliche verhaften. Der Chef des staatlichen Amts für Lebens- und Arzneimittel musste seinen Hut nehmen. Auch ein neues Lebensmittelgesetz hat die Regierung verabschiedet. Das soll die Zuständigkeiten der Ministerien künftig klarer benennen, die Lebensmittelkontrolle verbessern und eine Risikobewertung einführen.
Ein Ausweg könnten stärkere zivilgesellschaftliche Kontrolle und Skandalisierung sein. Aber unabhängige Verbraucherverbände spielen bislang keine Rolle. Viele Chinesen behelfen sich damit, nur noch in „ordentlichen“ Restaurants essen zu gehen. Ein kleiner Teil der wohlhabenden urbanen Mittelschicht setzt auf Bio-Lebensmittel. Dennoch: Jeder Bissen, auch in den guten Restaurants, bleibt vorerst ein Wagnis.
Von Jost Wübbeke, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei MERICS für Innovation und Technologie, Energie und Rohstoffe, Umwelt und Klima sowie digitale Wirtschaft.
INFRASTRUKTUR-WELTMEISTER
Kein anderes Land hat den Ausbau von Verkehrs-, Wasser- und Energienetzen zuletzt so massiv vorangetrieben wie China. Neben Autobahnen durchzieht ein hochmodernes Netz von Hochgeschwindigkeits-Zugtrassen das Land.
Europäische Länder scheuen staatliche Infrastrukturgroßprojekte. In China gehören solche Baumaßnahmen zum täglichen Geschäft. Städtische Ballungsräume werden aus- und umgebaut, Flüsse aufgestaut und umgeleitet, Berge versetzt und untertunnelt, ganze Gebirgs- und Schluchtensysteme überbrückt und zuvor unzugängliche Regionen an nationale Logistiknetze und Märkte angeschlossen. Megaprojekte wie der Drei-Schluchten-Staudamm zeugen davon, wie sehr die Regierung davon überzeugt ist, dass Infrastruktur und Ingenieurskunst Schrittmacher des Fortschritts und der Wirtschaft seien.
Das Tempo, mit dem der Infrastrukturausbau vorangetrieben wird, ist schwindelerregend. So beschloss die Führung im Jahre 2006, ein Hochgeschwindigkeits-Eisenbahnnetz aus dem Nichts aufzubauen. Heute erstreckt sich dieses Netz auf einer Länge von 11 000 km, und binnen weniger Jahre dürfte es doppelt so lang sein. Um derartige Vorhaben zu finanzieren, müssen sich Staatsunternehmen häufig erheblich verschulden. Allein für den Ausbau der Hochgeschwindigkeitstrassen beläuft sich die Schuldenlast des verantwortlichen Unternehmens auf rund 5 Prozent des chinesischen BIP. Bei Zahlungsausfällen haftet die Zentralregierung. Die Risiken, die dadurch für den Staat entstehen, sind immens.
Zudem begleiten mittlerweile soziale Unruhen viele der staatlichen Bauvorhaben. Die Wut von Anwohnern über Umsiedlungen und zu geringe Entschädigungszahlungen sowie ihre Sorgen über mögliche Umweltfolgen führen immer wieder zu Verzögerungen und Baustopps. Dennoch: Der Staat setzt sich durch, wenn er sich durchsetzen will. Dafür bedient er sich sanfter ebenso wie harter Methoden: Man versucht, mit Medienkampagnen zu überzeugen, in Konsultationsverfahren Beschwerden und Forderungen aufzufangen und Entschädigungen zu zahlen. Die gewaltsame Durchsetzung mit Polizeieinsätzen und staatlichem Druck gehören allerdings ebenfalls zum Repertoire. Betroffene haben oft kaum eine andere Wahl, als sich den staatlichen Bauvorhaben zu beugen. Die Folgen für Gesellschaft und Umwelt sind enorm. Umsiedlungen entwurzeln ganze Familien, Ökosysteme werden zerstört. Das führt zu hohen Kosten, die sich auch wirtschaftlich niederschlagen.
Und so dürfte sich der Schwerpunkt der Aktivitäten in wachsendem Maße vom In- ins Ausland verlagern. Bereits heute sind Chinas große Staatsunternehmen insbesondere im Eisenbahn- und Straßenbau weltweit aktiv. Auch beim Bau von Staudämmen und Kanälen, Nuklearreaktoren, Energienetzen und Häfen steigt die internationale Präsenz chinesischer Konzerne.
Politische Programme wie die „Neue Seidenstraßen-Initiative“ unterstützen Unternehmen bei ihren Aktivitäten massiv. Denn der Ausbau von Infrastruktur im Ausland soll auch dazu beitragen, Chinas globalen politischen Einfluss auszuweiten.
Von Mirjam Meissner, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei MERICS für Zukunft des chinesischen Automobilsektors, neue und erneuerbare Energien sowie Industrie- und Infrastrukturpolitik.
INTERNET PLUS
Blutdruck messen, Taxis rufen, im Laden bezahlen – all das lässt sich per Smartphone erledigen. In China verändert das mobile Internet das Leben der Menschen besonders schnell.
Rund die Hälfte der 1,3 Milliarden Chinesen sind derzeit online. Die meisten von ihnen nutzen dafür Smartphones; neue Technologietrends wie die Vernetzung von Kühlschränken, Klimaanlagen und Fernsehern werden begeistert aufgenommen. Die chinesischen Uber-Pendants Kuaidi und Didi haben mittlerweile zusammen über 150 Millionen Nutzer. Taxi fahren mit Taxi-App ist zur Selbstverständlichkeit geworden.
Drei private Konzerne dominieren Chinas Internet: Alibaba im E-Commerce, Baidu mit der gleichnamigen Suchmaschine und Tencent mit sozialen Medien. Doch mit dem Internet Plus verschwimmen die Geschäftsfelder. Konzerne sind stetig dabei, neues Terrain zu erkunden. Das führt zu einem erbitterten Konkurrenzkampf. Am deutlichsten bekommt das im Moment der weltgrößte E-Commerce-Gigant Alibaba zu spüren: Konkurrent Tencent ist sehr erfolgreich mit seinem mobilen Instant Messenger WeChat. Ursprünglich als Abklatsch von WhatsApp gestartet, kann man mit WeChat inzwischen online shoppen, Freunde treffen, Taxis bestellen und vieles mehr. Für viele Chinesen ist WeChat das Internet geworden, in dem sich ihr gesamtes Leben abspielt.
Wie in den USA arbeiten die führenden Internetkonzerne daran, umfassende digitale Ökosysteme aufzubauen, die alle Leistungen aus einer Hand bieten. Dabei geht es für sie auch darum, neue Nutzer an sich zu binden. Das wurde im Taxi-App-Krieg 2014 zwischen Kuadi (das von Alibaba gestützt wird) und Didi (das von Tencent gestützt wird) deutlich. Beide gewährten zeitweise unter großen Verlusten großzügige Rabatte und Boni für Passagiere und Taxifahrer. Mancherorts kostete das Taxifahren kaum noch Geld.
Die digitalen Ökosysteme erstrecken sich auf immer neue Dienstleistungsbereiche. Mächtige Wirtschaftskonzerne entstehen. Als Neuankömmlinge leisten sie sich die eine oder andere Unerfahrenheit. Aber: Sie machen den etablierten Unternehmen das Leben schwer. Ihre Stärke ist, dass sie etablierte Dienstleistungsfelder mit neuen Perspektiven und Geschäftsmodellen erfassen.
Bei Finanzen ist Alipay – das chinesische Pendant zu Paypal – bereits das beliebteste Zahlungsmittel im Internet. Es gibt Pilotprojekte zur Zahlung von Arzt- und Wasserrechnungen. Chinesen können inzwischen ihr Geld auch beim virtuellen Geldmarktfonds Yuebao anlegen. Indessen baut das Google-Äquivalent Baidu an einem fahrerlosen Fahrzeug und entwickelt Big-Data-Anwendungen zur Vorhersage von Verkehrsströmen.
Mittlerweile springt auch die Regierung auf den Zug auf. Ministerpräsident Li Keqiang sprach in seinem Regierungsbericht vor dem Volkskongress im März 2015 von der „Internet Plus“-Strategie. Damit will die Regierung ihre bisherigen Digitalisierungsoffensiven bündeln. Die Kehrseite dieses Engagements sind staatliche Kontrolle und zentralisierte Überwachung des Internets.
Zwar ist bekannt, dass Chinas Internetkonzerne einen guten Draht zur Führung in Peking haben. Der Großteil der IT-Elite ist im Nationalen Volkskongress vertreten. Jetzt dürfen sich Tencent-Chef Ma Huateng und seine Kollegen auf noch mehr politische Unterstützung freuen.
Doch diese Unterstützung hat ihre Grenzen. Denn die Internetunternehmer dringen in viele Bereiche vor, die der Staat bislang monopolisiert hatte. Wenn der Regierung dieses Vordringen nicht passt, dann reagiert sie mit harter Hand – etwa mit einer rigiden Zensur gegenüber den sozialen Medien. Und auch in der Wirtschaft begrenzt die Partei zuweilen die Expansion des Internets. Im Finanzbereich lehnte die Zentralbank die Einführung virtueller Kreditkarten ab. Manche Städte verboten Taxi-Apps während der Rush-Hour, weil die Taxis für Fahrgäste ohne Smartphone kaum noch erreichbar waren.
Von Jost Wübbeke, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei MERICS zu Innovation und Technologie, Energie und Rohstoffe, Umwelt und Klima sowie digitale Wirtschaft.
KORRUPTIONSPARADOX
Ist Korruption wirklich wachstumsfeindlich? Trotz der sprichwörtlichen Gier chinesischer Kader ist die Volksrepublik zum Exportweltmeister aufgestiegen und gilt als Wachstumsmotor der Weltwirtschaft.
Korruption ist nicht gleich Korruption. Das erklärt, so der amerikanische Politologe Andrew Wedeman, das Paradox ausufernder Korruption bei gleichzeitig beeindruckenden Wachstumsraten in China. Grundsätzlich wachstumsfeindlich sei nur die „konfiskatorische Korruption“, also die systematische Abzweigung öffentlicher und privater Vermögenswerte plus Konsum oder Export der abgeschöpften Werte. „Dividenden-Eintreibung“ dagegen beruhe auf einem Tauschgeschäft. Politiker fordern Teile des Profits von Unternehmen für sich ein und verbessern im Gegenzug die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Diese Form der Korruption setze mitunter positive Impulse für Wirtschaftswachstum.
Aufgrund der engen Verflechtung zwischen Unternehmern, Partei- und Staatsapparat ist in China eher die „Dividenden-Eintreibung“ von Bedeutung. Die Politik will die Wirtschaft nur so weit regulieren, als sie Anreize für unternehmerische Expansion schafft. Denn die Leistung der politischen Eliten wird in erster Linie an der Höhe des Wirtschaftswachstums bemessen. Von diesem Tauschgeschäft profitieren also sowohl die Vertreter des Staats- und Parteiapparats als auch Unternehmer.
Anfang der achtziger Jahre entstand ein so genannter „Kaderkapitalismus“, bei dem Exportlizenzen gegen Sachleistungen oder Einladungen zu Empfängen mit „Animierdamen“ gehandelt wurden. Das Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft nach dem Jahr 2000 verschärfte dann das Ausmaß der Korruption. Zunächst linderte die schiere Geschwindigkeit des Wirtschaftwachstums deren negativen Folgen: Die Vermögenswerte wuchsen so schnell, dass Konsum oder Verlagerungen ins Ausland nicht weiter ins Gewicht fielen. Als korrupte Kader allerdings Mitte der 2000er Jahre lieber im Ausland als im Inland nach Investitionsmöglichkeiten suchten und Immobilienkäufe tätigten, wurde der Kreislauf nachhaltig beschädigt.
Kein Wunder, dass die im Januar 2013 ausgerufene Kampagne zur Korruptionsbekämpfung einen Schwerpunkt auf Fälle von transnationaler Korruption und Kapitalflucht legte. Laut Jahresbericht der zuständigen Behörde hatten 500 Verurteilte zuvor mehr als 30 Milliarden Yuan (umgerechnet rund vier Milliarden Euro) ins Ausland geschafft.
Phasenweise mögen bestimmte Varianten der Korruption das Wachstum nicht behindern. Langfristig verursachen jedoch alle Formen der Korruption gravierende Verzerrungen des Wettbewerbs, der Wirtschaftsstruktur und der Vermögensverteilung. Darüber hinaus unterhöhlen sie die Integrität und das Ansehen des Staates. Diese negativen Effekte treten häufig erst in Krisenzeiten zutage.
Das hat auch die neue Führung um Partei- und Staatschef Xi Jinping erkannt. Erklärtes Ziel ihrer Anti-Korruptionskampagne ist es, den Partei- und Staatsapparat zu säubern. Selbst vor korrupten Vertretern der obersten Führungsriege hat Xi keinen Halt gemacht. Das allein reicht aber nicht aus, um die Kultur der Bestechlichkeit dauerhaft zu unterbinden. Dazu muss Xi einen unabhängigen Justizapparat aufbauen und die Aufsichtsbehörden mit den notwendigen Kompetenzen ausstatten. Nur dann wird sein Kampf gegen die korrupten Verflechtungen zwischen Staat und Unternehmen von Erfolg gekrönt sein.
Von Matthias Stepan, stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft und Medien bei MERICS. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialpolitik, soziale Sicherung, Verwaltungsreformen und der Arbeitsmarkt in China.
PRÜFUNG ALLER PRÜFUNGEN
„Gaokao“ heißt sie auf Chinesisch, die gefürchtete Hochschulzugangsprüfung, die über den weiteren beruflichen Werdegang entscheidet. Der Druck, unter dem Chinas Schüler stehen, ist enorm.
An drei Tagen im Juni stehen in Peking die Autos still. Umleitungen führen den Verkehr weiträumig um die Schulgebäude, in denen die Hochschulzugangsprüfung – auf Chinesisch „Gaokao“ – stattfindet. Nach monatelanger Vorbereitung entscheidet allein das Abschneiden während der landesweit stattfindenden Prüfung für Schüler der zwölften Klasse über den weiteren beruflichen Werdegang. Ziel ist die Aufnahme an einer der besten Universitäten des Landes. Wer schlecht abschneidet, versucht es im darauffolgenden Jahr noch einmal, beginnt ein Studium an einer weniger renommierten Universität oder entscheidet sich für eine Berufsausbildung.
In der chinesischen Gesellschaft genießt Bildung einen hohen Stellenwert. Die Ein-Kind-Politik hat dazu geführt, dass die Hoffnungen der Eltern auf Wohlstand und Sicherheit im Alter allein auf den Schultern eines Kindes ruhen. Der Druck ist enorm. Während der neunjährigen Schulpflicht gilt es, mit jedem Schulwechsel auf die bestmögliche weiterführende Schule zu gelangen. Entscheidend ist dabei der Wohnort: Ein Kind geht dort zur Schule, wo es gemeldet ist. Das ist insbesondere problematisch für Kinder von Wanderarbeitern, die mit ihren Eltern in Städte gezogen sind, dort aber keinen offiziellen Wohnsitz haben. Die Reformen des Haushaltsregistrierungssystems sollen hier Abhilfe schaffen (S. 48, Wohnsitzkontrolle).
In Großstädten wie Peking und Schanghai erwerben Eltern häufig Wohnungen in der Nähe der besten Mittelschulen, die mit der Gaokao abschließen. In ländlichen Gebieten ziehen die Kinder häufig mit 13 oder 14 Jahren Zuhause aus und besuchen Internate. Dort bereiten sie sich von früh bis spät auf die Gaokao vor. Zeit für die Entwicklung eigener Interessen bleibt kaum. Die Kindheit ist geprägt durch Schule und Leistungsdruck. Der Lernstoff wird prüfungsorientiert vermittelt und muss auswendig gelernt werden. Kreativität spielt keine Rolle.
Immerhin: Ende 2013 beschloss das Bildungsministerium eine grundlegende Reform der Gaokao bis 2020. Außer in Chinesisch und Mathematik dürfen dann alle Prüfungen innerhalb von zwei Jahren zweimal abgelegt werden; in die Wertung fließt die beste Note ein. Diese Reform könnte den Prüfungsdruck lindern. An den ungleich verteilten Bildungschancen ändert sie jedoch wenig. Solange der Bildungsweg maßgeblich von geografischen und sozialen Voraussetzungen geprägt ist, bleibt die Gaokao das Nadelöhr für eine erfolgreiche berufliche Zukunft.
In den vergangenen Jahren ist die Anzahl chinesischer Schüler und Studenten im Ausland stark gestiegen. 2013 studierten über eine Viertelmillion Chinesen in den USA und über 27 000 in Deutschland. Umfragen zufolge sind reiche chinesische Eltern bereit, rund eine Million Yuan (knapp 145 000 Euro) für ein Studium im Ausland aufzubringen. Neben Prestige und besseren Karrierechancen bei der Rückkehr nach China hoffen sie damit, den Kindern auch die Lotterie der Gaokao zu ersparen. Denn unabhängig von der Leistung des Einzelnen gibt es lokale Aufnahmequoten an chinesischen Universitäten.
Ein Abschluss an einer renommierten Universität ist der Traum vieler chinesischer Schüler und ihrer Eltern. Seit einiger Zeit zeigen sich jedoch Schwierigkeiten für die wachsende Anzahl von Hochschulabsolventen, eine ihrer Ausbildung und ihren Erwartungen entsprechende Beschäftigung zu finden. Obwohl der Bedarf an praktisch ausgebildeten Arbeitskräften kontinuierlich steigt, gilt eine Berufsausbildung für den Großteil der Bevölkerung noch immer als „Ausbildung zweiter Klasse“. Mit Hilfe von Reformmaßnahmen, die im Juni 2014 verabschiedet wurden, soll das Ansehen der beruflichen Bildung als Alternative zur Universitätsausbildung gestärkt werden. Als Vorbild gelten Referenzmodelle aus dem Ausland wie das deutsche duale Bildungssystem.
Von Elena Klorer, wissenschaftlicher Mitarbeiterin bei MERICS für Urbanisierung und Innovationspolitik.
RESTEFRAUEN
Sie sind Ende 20, gut ausgebildet, gut verdienend – und Single. Jede fünfte Chinesin zwischen 25 und 29 ist unverheiratet. Der Volksmund nennt sie abfällig „Sheng Nü“ („Restefrauen“). Der Regierung passen sie nicht ins Konzept.
Knapp vier Jahrzehnte nach Beginn der Ein-Kind-Politik und der traditionellen Bevorzugung von männlichen Nachkommen gibt es mehr alleinstehende Männer, als China lieb sein darf: Seit 1979 wurden rund 20 Millionen mehr Männer als Frauen geboren. Jeder dritte heiratswillige Mann bleibt mittlerweile allein. Vor allem in den ländlichen Regionen droht das zu einem großen gesellschaftlichen Problem zu werden.
Die Frauenorganisation der Kommunistischen Partei, der „Allchinesische Frauenverband“, begann deshalb 2007, die „Sheng Nü“ in einer Reihe von Artikeln zu attackieren. Wer mit 27 noch nicht geheiratet habe, sei zu wählerisch, zu anspruchsvoll und setze falsche Prioritäten. Statt ihre mütterliche Pflicht zu erfüllen, die Familien fortzuführen und auf diese Weise zur gesellschaftlichen Stabilität beizutragen, würden die „Sheng Nü“ nur an ihre Karriere und Unabhängigkeit denken, kritisierte die Organisation.
Das Single-Dasein aber hätten die Frauen über 27 sich nicht ausgesucht, schreibt die promovierte Hongkonger Soziologin Sandy To. Sie wollten durchaus heiraten, aber eben nicht um jeden Preis. Schuld seien eher die Männer. Besonders die am besten ausgebildeten Frauen fänden einfach keinen Partner. Der Erfolg der Frauen schüchtere ein. Zu tief verankert ist noch immer die Vorstellung, dass eine Chinesin „hochheiraten“ muss, während Männer eher Partnerinnen unter ihrem Bildungsstand bevorzugen.
Dass die offizielle Kampagne gegen die „Restefrauen“ in China dennoch viel Gehör gefunden hat, dürfte auch daran liegen, dass die Medien das Thema aufgriffen und vielfach verarbeiteten: von offiziellen Kommentaren über Diskussionssendungen bis hin zu Shows, in denen versucht wird, Frauen unter die Haube zu bringen. Damit verstärken die Medien entgegen aller internationalen Trends die Vorstellung, dass Frauen unbedingt früh heiraten müssen. Wen wundert es da, dass chinesische Eltern es als Gesichtsverlust betrachten, wenn ihre Töchter mit Ende 20 noch alleinstehend sind und sie keine Enkel haben. Nicht selten übt die ältere Generation massiven Druck auf die Frauen aus.
Inzwischen ist der Ausdruck „Sheng Nü“ von offiziellen Webseiten weitgehend verschwunden. Auch der Allchinesische Frauenverband verzichtet auf die Bezeichnung. Manch erfolgreiche Single-Frau aus Peking, Schanghai oder Kanton setzt unterdessen auf die Toleranz ausländischer Männer. Von ihnen erhoffen sie sich mehr Offenheit für gut ausbildete und gut verdienende Frauen. China aber dürfte auch künftig vor dem Problem stehen, „Restemänner“ und „Restefrauen“ zusammenzubringen.
Von Kerstin Lohse, Leiterin der Abteilung Kommunikation bei MERICS.
SEIDENSTRASSEN-INITIATIVEN
Neue Handelsrouten, Absatzmärkte und Energiequellen, mehr politische Stabilität in den Grenzregionen: Die Liste der Vorteile, die Chinas neues Infrastrukturprojekt dem Land bringen soll, ist lang.
Der Begriff fiel im offiziellen Rahmen zum ersten Mal im September 2013. An der Nasarbajew-Universität in Kasachstan sprach Partei- und Staatschef Xi Jinping vom Ausbau eines „Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtels“, der den Handel und den kulturellen Austausch Chinas mit seinen westlichen Nachbarn wiederbeleben solle. Einen Monat später verkündete Xi vor dem indonesischen Parlament zudem den Ausbau einer „maritimen Seidenstraße des 21. Jahrhunderts“ mit Schwerpunkt auf dem Indischen Ozean und Ostafrika.
Mit der neuen Seidenstraßen-Initiative schafft Peking ein komplexes Infrastrukturnetzwerk mit zahlreichen strategischen Knotenpunkten. Dafür investiert die Regierung in den Auf- und Ausbau günstig gelegener Häfen und Transportkorridore in Eurasien. Mit dem Seidenstraßen-Fonds hat man eigens ein Finanzierungsinstrument geschaffen. In den kommenden Jahren sollen bis zu 40 Milliarden Dollar für den Infrastrukturausbau in der Region zur Verfügung gestellt werden. Auch die 2014 von der chinesischen Führung ins Leben gerufene Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank (AIIB) wird vor allem Infrastrukturprojekte finanzieren und die Seidenstraßen-Initiative vorantreiben.
Die Mitgliedstaaten des Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN) und der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) bilden den geografischen Schwerpunkt von Chinas neuem außenwirtschaftlichen und außenpolitischen Engagement. Pekings Ambitionen reichen jedoch weit darüber hinaus. Geografische Einschränkungen nennt die chinesische Regierung explizit nicht.
Mit der Seidenstraßen-Initiative verfolgt die Regierung mehrere strategische Ziele: Wirtschaftspolitisch hofft man auf Wachstumsimpulse durch die Erschließung neuer Absatzmärkte und Energiequellen. Gleichzeitig will Peking seine Abhängigkeit von einzelnen Staaten und Märkten verringern. Außerdem soll der Ausbau neuer Handelsrouten dazu beitragen, Kosten zu senken: In einigen Industriezweigen ist der Export über den Landweg nach Europa günstiger und schneller als über den Seeweg. Politisch erhofft sich Chinas Führung von der Seidenstraßen-Initiative mehr Stabilität – sowohl in den westlichen Grenzregionen Chinas als auch in benachbarten Unruhestaaten wie Afghanistan und Pakistan.
Die Infrastrukturinvestitionen sollen darüber hinaus helfen, den Einfluss der chinesischen Führung über die wirtschaftlich unterentwickelte Autonome Region Xinjiang zu festigen. Sie gilt als Unruheherd, in dem es regelmäßig zu Protesten und Anschlägen kommt. Um die chinesischen Provinzen im Westen des Landes enger an die Märkte ihrer Nachbarstaaten anzubinden, fördert die Führung in Peking den Aufbau grenzübergreifender Sonderwirtschaftszonen und moderner Transportwege auf beiden Seiten der Grenze.
Daneben soll die Seidenstraßen-Initiative die schwächelnde Wirtschaft der Volksrepublik wieder ankurbeln. Viele Unternehmen haben aufgrund der geringeren Wachstumsraten in China Überkapazitäten aufgebaut, die die wirtschaftliche Stabilität des Landes in wachsendem Maße bedrohen. Mit dem Ausbau der eurasischen Transportinfrastruktur könnte die Regierung zudem die Grundlagen für neue chinazentrierte Produktionsnetzwerke legen, etwa indem chinesische Unternehmen ihre Produktion nach Südostasien verlagern.
Bei den Nachbarstaaten wirbt Xi Jinping für einen „asiatischen Traum“ und spricht von einer „Schicksalsgemeinschaft“. Dadurch will Peking eine Alternative zur US-dominierten Ordnung anbieten. und deshalb wird man auch nicht müde, die „wechselseitigen Gewinne“ zu betonen, die aus der Seidenstraßen-Initiative resultieren dürften. Doch im Falle eines Erfolgs dieser Initiative wäre zweifelsohne Peking selbst der hauptsächliche Nutznießer. Die Seidenstraßen-Initiative schafft nicht nur neue wirtschaftliche und politische Abhängigkeiten zugunsten Chinas. Mit der Vergabe großzügiger Kredite durch die chinesische Regierung eröffnen sich auch neue Wege der politischen Einflussnahme.
Allerdings stockt bereits jetzt die Umsetzung. Ein Hauptproblem ist Chinas mangelnde Soft Power: Zwar pflegt Peking meist gute Beziehungen zu politischen und wirtschaftlichen Eliten anderer Staaten in der Region, doch große Teile der Bevölkerung hegen eher Misstrauen für die chinesischen Ambitionen. Das könnte zu Protesten gegen chinesische Projekte vor Ort führen.
Zweifelhaft ist zudem, ob sich die teilweise hochriskanten Auslandsinvestitionen am Ende rechnen werden – vor allem dann, wenn die bereitgestellten Beträge von den Kreditnehmern nicht zurückgezahlt werden. Im schlimmsten Fall könnte die Seidenstraßen-Initiative zu einer großen Spekulationsblase führen.
Von Moritz Rudolf, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei MERICS für Außenpolitik und Geostrategie Chinas.
WOHNSITZKONTROLLE
Wer nicht gemeldet ist, hat Pech gehabt, denn ohne Meldung kein Zugang zu öffentlichen Sozialleistungen, Krankenhäusern oder Schulen. Das Haushaltsregistrierungssystem „Hukou“ zementiert eine Zweiklassengesellschaft.
Für Bürger der Europäischen Union ist Freizügigkeit eine Selbstverständlichkeit. Ganz anders ist die Lage in China – und das, obwohl es innerhalb des Landes keine territorialen Grenzen gibt. Ein Angestellter, der aus einer Provinz wie Sichuan in Chinas Südwesten stammt, kann nicht ohne Weiteres eine Stelle in Schanghai antreten. Ein Kindermädchen aus der zentralchinesischen Provinz Anhui kann in Peking weder auf Arbeitslosenhilfe noch auf eine staatliche Rente hoffen.
Verantwortlich dafür ist das Zusammenspiel zwischen dem so genannten Haushaltsregistrierungssystem – auf Chinesisch „Hukou“ – und einem komplizierten, landesweit uneinheitlichen Meldesystem.
Die Errichtung des Hukou-Systems geht auf die fünfziger Jahre zurück. Seinerzeit suchte die politische Führung nach Mitteln, um die wachsende Binnenmigration zu kontrollieren. So schrieb Peking eine strikte Trennung zwischen städtischen und ländlichen Haushalten als Kernstück des Haushaltsregistrierungssystems vor.
Der Hukou definiert zudem den Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen und Krankenhäusern sowie das Anrecht auf staatliche Sozialleistungen. Beides ist an den Ort des Hukous gebunden. Außerhalb des Heimatkreises oder der Heimatstadt haben Chinas Bürger keinen Zugang zu öffentlichen Leistungen. Da die Versorgungslage in Städten seit jeher durchweg besser war als in ländlichen Gebieten, zementiert die strikte Kontrolle über die Einhaltung des Hukou-Systems bis in die Gegenwart eine Zweiklassengesellschaft.
Allerdings hatte die Kontrolle auch positive Effekte. Im Gegensatz zu anderen Entwicklungsländern gab es in China nur bedingt unkontrollierte Zuwanderung aus ländlichen Räumen. So wurde die Bildung von Slums am Rande städtischer Ballungsräume weitgehend vermieden.
Infolge des Wirtschaftswachstums der achtziger Jahre geriet das Hukou-System unter Anpassungsdruck. In den Boom-Regionen an den Küsten stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften, während sie in ländlichen Gebieten aufgrund des verstärkten Einsatzes von Maschinen in der Landwirtschaft sank. Die lokalen Regierungen behalfen sich, indem sie Arbeitern vom Land gestatteten, in den Städten eine Arbeit aufzunehmen. Diese Genehmigung war allerdings in den meisten Fällen zeitlich begrenzt, der Zugang zu öffentlichen Krankenhäusern und sozialen Leistungen wie Arbeitslosenhilfe blieben den Wanderarbeitern außerdem verwehrt. Man ging davon aus, dass sie nach getaner Arbeit wieder zu ihren Familien zurückkehren würden.
Die Zahl der vom Land stammenden Arbeiter wuchs allerdings kontinuierlich und belief sich laut chinesischem Statistikamt 2013 auf rund 268 Millionen – beinahe ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Aus saisonalen Arbeitskräften sind mittlerweile vielerorts dauerhafte Einwohner geworden. Viele einfache Bauarbeiter, Kellnerinnen und Aushilfen leben dagegen aufgrund ihrer mangelnden sozialen Absicherung weiterhin jahrelang getrennt von ihren Familien. Ihre Kinder, denen der Zugang zu weiterführenden Schulen in den Städten verwehrt ist, wachsen bei den Großeltern auf dem Land auf.
Die Benachteiligung der ländlichen Zuwanderer in Chinas Städten wird in der zweiten Generation der Arbeitsmigranten nicht mehr einfach hingenommen. Sie sind besser ausgebildet, teils bereits in den Städten aufgewachsen und wollen gar nicht mehr in die ländliche „Heimat“ zurückkehren. Das führte zu Protesten unter Industriearbeitern, die mehrheitlich zu dieser Gruppe gehören. Die Zentralregierung hat in der Vergangenheit mehrfach angekündigt, das System zu reformieren, um die Situation der Wanderarbeiter zu verbessern. Viele Lokalregierungen stellten sich allerdings quer.
Im Juli 2014 veröffentlichte der Staatsrat ein Dokument zur Reform des Hukou- und Meldesystems. Die Regierung beschließt darin die Abschaffung der Trennung zwischen städtischem und ländlichem Hukou. Dies soll mit dem Aufbau eines national einheitlichen Meldesystems bis 2020 einhergehen. Allerdings will die Regierung die Unterscheidung zwischen permanenten und temporären Wohnsitzregistrierungen aufrechterhalten. Eine freie Wahl des Hauptwohnsitzes und einen offenen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen in Chinas Städten soll es weiterhin nicht geben.
Je nach Größe der Stadt knüpfen kommunale Regierungen die Vergabe einer Wohnsitzregistrierung an unterschiedliche Bedingungen. Häufige Kriterien sind die Einkommenshöhe, der Besitz einer Eigentumswohnung und der Bildungshintergrund. Ob und zu welchem Grad die bestehenden Ungleichheiten durch die angekündigte Reform abgemildert werden, bleibt deshalb in erster Linie eine Frage der lokalen Umsetzung.
Von Matthias Stepan, stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs Politik, Gesellschaft und Medien bei MERICS. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialpolitik, soziale Sicherung, Verwaltungsreformen und der Arbeitsmarkt in China.
YUAN
Währung füt Handel und Investitionen, regionale Ankerwährung: Der Aufstieg des Yuan zur Weltwährung scheint nicht mehr aufzuhalten. Doch die Regierung in Peking legt Wert darauf, die Kontrolle zu behalten.
Für das Weltwährungssystem steht 2015 eine Weichenstellung an. Der Internationale Währungsfonds muss im Laufe dieses Jahres entscheiden, ob die chinesische Währung neben dem Dollar, Euro, Yen und Pfund in den Währungskorb aufgenommen wird, der den Wert der so genannten Sonderziehungsrechte des IWF bestimmt. Damit ist der Aufstieg des Yuan zur weltweit drittwichtigsten Währung nach Dollar und Euro wohl nur noch eine Frage der Zeit. Zentral für den Aufstieg der chinesischen Währung ist dabei eine Frage, die häufig übersehen wird – nämlich die nach der Bedeutung, die der Yuan in der unmittelbaren Nachbarschaft Chinas in Asien hat.
Denn die chinesische Währung wird nicht nur in rasant wachsendem Maße für Handel und Investitionen verwendet. Neuere Studien zeigen, dass der Yuan daneben zur regionalen Ankerwährung geworden ist. Seit China seine Wechselkursbindung an den Dollar 2005 gelockert hat und insbesondere seit der globalen Finanzkrise richten sich Wechselkursbewegungen in der Region immer stärker an der chinesischen Währung aus. Die asymmetrische Abhängigkeit vom Yuan ist derzeit allerdings noch geringer als jene des Europäischen Währungssystems von der D-Mark in den achtziger und neunziger Jahren. Und auch wenn der Dollar weiterhin die dominante Währung für die Bestimmung der meisten asiatischen Wechselkurse bleibt, hat der Yuan zumindest in dieser Hinsicht den japanischen Yen überholt.
Eröffnet der rapide Bedeutungsgewinn des Yuan im asiatischen Währungsraum den Weg zur Weltwährung? Die innen- und außenpolitischen Faktoren, die die Internationalisierung des Yuan beeinflussen, sind komplex. Innenpolitische Lern- und Rückkopplungsmechanismen prägen Chinas wirtschaftlichen Internationalisierungsprozess. Und dieser Prozess ist durch experimentierende, reversible Schritte gekennzeichnet, nicht durch abrupte Liberalisierungsstrategien oder visionäre Sprunghaftigkeit bei der Entwicklung neuer Währungsstrategien. Aus Pekinger Sicht muss der Verlauf der Yuan-Internationalisierung korrigierbar bleiben.
Die besondere innere Spannung von Chinas Währungspolitik besteht darin, dass gegensätzliche Ziele sehr unterschiedlicher Interessengruppen – von eher liberalen bis zu eher merkantilistischen – zum Ausgleich gebracht werden müssen. Chinas exportorientierte Industrien pochen auf Öffnung und Weltmarktintegration. Große staatsnahe Industrien fordern dagegen politischen Schutz vor übermächtiger ausländischer Konkurrenz.
Aufgrund dieser innerchinesischen Spannungen werden Tempo und Richtung der Yuan-Internationalisierung immer wieder neu austariert. Eine innerchinesische Finanzkrise oder auch eine innenpolitische Führungskrise könnten den Prozess jederzeit zurückwerfen. Chinas Gewicht auf Währungs- und Finanzmärkten wird auch auf absehbare Zeit nicht global und hegemonial verankert sein wie das der USA.
Die globale Sonderstellung des Dollar ist durch die ungebrochene Anziehungskraft und Liquidität amerikanischer Finanzmärkte unterfüttert, durch eine global wirksame Regulierungsmacht, durch diplomatisch-militärische Allianzen. Die Sonderrolle des Dollar als globaler Leitwährung beruht also auf historischen und aktuellen Voraussetzungen, die weit über das Feld der Währungspolitik hinausreichen.
Chinas Währung besitzt diese Voraussetzungen bislang nicht. Die Regierung bleibt aus Furcht vor unkontrollierbarer Volatilität grundsätzlich skeptisch gegenüber ungezügeltem Kapitalverkehr und Wechselkursfreigabe. Wirtschaftspolitische Autonomie, politische Steuerbarkeit und Stabilität haben für Peking überragende Bedeutung. Chinas interner Finanzmarkt ist weiterhin unterentwickelt und die internationale Position der chinesischen Finanzindustrie vergleichsweise schwach.
Alle diese Faktoren erschweren eine rasche globale Etablierung des Yuan. Damit rückt eine – nicht nur in Peking erhoffte – Relativierung oder gar Ablösung des Dollar als globale Leitwährung in die Ferne. Im asiatischen Wirtschaftsraum aber verdichten sich die Anzeichen für immer stärker auf China ausgerichtete Währungsbeziehungen.
Von Mikko Huotari, stellvertretender Leiter des Forschungsbereichs Innovation, Umwelt, Wirtschaft sowie Programmleiter Außenpolitik und Außenwirtschaft bei MERICS.
ZWEI-KIND-POLITIK
1980 wurde sie eingeführt, um Chinas rasantes Bevšökerungswachstum zu stoppen, heute ist sie für das demografische Dilemma verantwortlich: die Ein-Kind-Politik. Nun ist es an der Regierung, Mehr-Kind-Familien attraktiv zu machen.
Jing Tian hat keine Geschwister. Obwohl ihre Eltern seit der Lockerung der Ein-Kind-Politik im Dezember 2013 ein zweites Kind bekommen könnten, haben sie sich bewusst dagegen entschieden. Mit den steigenden Lebenshaltungskosten ist ihnen ein zweites Kind schlicht zu teuer. Auch sorgen sich viele Eltern wegen der stärker werdenden Luftverschmutzung um die Gesundheit ihres Nachwuchses. Lebensmodelle, in denen Kinder eine untergeordnete Rolle spielen, finden immer breitere Zustimmung. Die jahrzehntelange Propagierung der Idealfamilie mit nur einem Kind hat ihr Übriges getan: Viele Eltern sind zufrieden mit einem Kind und planen kein zweites.
Die Lockerung der Ein-Kind-Politik zeigt bislang wenig Wirkung. Seit Ende 2013 dürfen Paare einen Antrag auf ein zweites Kind stellen, wenn mindestens ein Elternteil ein Einzelkind ist. Doch von den elf Millionen berechtigten Paaren hat im Jahr 2014 nur eine Million von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Für ethnische Minderheiten und Paare wiederum, bei denen beide Partner Einzelkind sind, für Bauern, deren erstes Kind ein Mädchen ist sowie für Familien, bei denen das erste Kind eine Behinderung hat, ist die Ein-Kind-Politik schon vor 2013 gelockert worden: Bekommen Familien außerhalb dieser Regelungen ein zweites oder drittes Kind, müssen sie Strafen zahlen. Wenn sie die hohen Gebühren nicht aufbringen können, werden die Kinder nicht offiziell registriert und gelten als illegal. Der Zugang zu Gesundheitsversorgung oder Bildung ist dadurch quasi verbaut. Ebenso eingeschränkt ist damit die Möglichkeit, eine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt zu finden. (Und trotzdem hatten zahlreiche Familien diese Strafen, Beschränkungen und Mehrkosten in Kauf genommen.)
Die Ein-Kind-Politik wurde 1980 eingeführt, um Chinas rasantes Bevölkerungswachstum zu stoppen. Mittlerweile ist sie maßgeblich für Chinas demografisches Dilemma verantwortlich. Mehr als 200 Millionen von den knapp 1,4 Milliarden Chinesen sind älter als 60 Jahre, auch dank der deutlich gestiegenen Lebenserwartung.
Die offizielle Geburtenrate liegt mit 1,6 Kindern pro Frau auf westeuropäisch niedrigem Niveau, während das Pro-Kopf-Einkommen nur etwa 15 Prozent des deutschen Pro-Kopf-Einkommens ausmacht. Nach Jahren des wirtschaftlichen Booms dank eines Überschusses an Arbeitskräften wird die fortschreitende Alterung der Bevölkerung zu einer zentralen Herausforderung für die wirtschaftliche Entwicklung und die gesellschaftliche Stabilität des Landes. Die Generation der in den fünfziger Jahren geborenen „Babyboomer“ verabschiedet sich derzeit ins Rentenalter. Dieses liegt mit 55 Jahren für Frauen und 60 Jahren für Männer deutlich unter dem westeuropäischer Staaten. 2012 sind erstmals mehr Menschen aus dem Arbeitsleben ausgeschieden als eingetreten.
Berechnungen der Vereinten Nationen zufolge wird Chinas Bevölkerung bis zum Jahr 2030 wachsen, bei steigendem Durchschnittsalter. Besonders riskant sind die Folgen des demografischen Wandels für das im Aufbau befindliche Sozialversicherungssystem. Die Alterung der Gesellschaft führt das Renten- und Gesundheitssystem an seine Grenzen; während die Ausgaben kontinuierlich steigen, sinken die Einnahmen der Sozialkassen mit der abnehmenden Zahl von Erwerbstätigen. Ein solide finanziertes und vorausschauend verwaltetes Rentensystem könnte diese Entwicklung abfedern. Doch ein solches System ist erst im Aufbau. Es fehlt an ausreichenden Reserven, um den rasanten Anstieg an Rentenansprüchen zu bedienen. Deshalb drohen Zahlungsausfälle und Rentenkürzungen.
Der demografische Wandel gefährdet Chinas wirtschaftliches Wachstum und die gesellschaftliche Stabilität. Nur wenn es der chinesischen Regierung gelingt, passende Anreize zu schaffen, um Mehr-Kind-Familien attraktiver zu machen und gleichzeitig unpopuläre Maßnahmen wie die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters durchzuführen, kann sie die negativen Folgen des demografischen Wandels abfangen.
Von Elena Klorer, wissenschaftlicher Mitarbeiterin bei MERICS für Urbanisierung und Innovationspolitik.
IP Länderpoträt 2, Juli-Oktober 2015, S. 36-55