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01. März 2015

Kernfragen

Vier Jahre nach Fukushima bleibt unklar, wie Tokio seine Energieversorgung gestalten will

Wie es Japan nach dem GAU von Fukushima mit der Atomkraft hält, ist die Schlüsselfrage für den Energiesektor. Das Abschalten der Meiler hat dem Land eine negative Handelsbilanz eingebracht, die Regierung plädiert für Pragmatismus und will die ersten Reaktoren wieder ans Netz lassen. Die Erneuerbaren fristen derweil noch immer ein Schattendasein.

Braucht Japan Kernkraft? Bis zur Katastrophe von Fukushima im März 2011 wäre eine solche Frage bei Japanern nur auf Unverständnis gestoßen. Noch im Jahr zuvor trugen die damals 54 Atommeiler fast 30 Prozent zur Stromerzeugung des Landes bei; 50 Prozent sollten es bis 2030 werden, hatte sich die Regierung vorgenommen. Geplant war zudem, bis 2020 neun neue Reaktoren zu errichten. Trotz einer Reihe von Skandalen etwa um nicht gemeldete Störfälle stellten Politiker aller Couleur, aber auch weite Kreise der Bevölkerung die energiepolitischen Grundprämissen kaum in Frage: Als ressourcenarmes Land sei Japan auf die Kernkraft besonders angewiesen, denn sie garantiere Versorgungssicherheit aus heimischen Quellen und sei außerdem billig und sauber.

Fukushima hat diese vermeintlichen Gewissheiten erschüttert. Doch welche Richtung in der Energiepolitik eingeschlagen werden soll, ist auch vier Jahre nach dem GAU unklar. Japans Regierung will einerseits zur Atomkraft zurückkehren, andererseits aber auch die erneuerbaren Energien ausbauen. Derzeit ist jedoch nicht zu erkennen, wie dies miteinander in Einklang gebracht werden kann. Stattdessen nutzt die Kernkraftlobby die verschwommenen energiepolitischen Vorgaben, um sich wieder mehr Spielräume zu verschaffen.

Infolge der Katastrophe wurden alle Atomkraftwerke abgeschaltet. 2014 lebte Japan zum ersten Mal seit Inbetriebnahme des ersten kommerziellen Reaktors 1966 ein ganzes Jahr lang vollkommen atomstromfrei. Nach außen hin ist von Engpässen nichts zu spüren: Tokio, Osaka und andere Großstädte erstrahlen wie eh und je. Zum Ausgleich für die ausgefallenen Meiler hat Japan vor allem Wärmekraftwerke wieder hochgefahren; ferner stützen erneuerbare Energien, besonders Solarstrom, in einem beschränkten Umfang das Angebot an Elektrizität. Sparmaßnahmen tun ein Übriges, die Versorgung aufrechtzuerhalten.

Der Preis dafür ist aber hoch. Allein die Importe von Flüssig­erdgas, einer Hauptquelle für die Stromerzeugung, verteuerten sich zwischen 2011 und 2014 um fast 64 Prozent auf 7,85 Billionen Yen (ca. 59 Milliarden Euro). Dies hat dazu geführt, dass Japans Handelsbilanz seit Fukushima immer neue Rekordfehlbeträge verzeichnet. Auch für die kommenden Jahre sind wegen hoher Brennstoffeinfuhren Defizite vorprogrammiert – eine Entwicklung, die Premier Shinzo Abe und sein Kabinett mit Sorge verfolgen. Denn für den Erfolg der „Abenomics“ ist eine Energieversorgung mit einem zuverlässigen Anteil aus heimischen Quellen unabdingbar. Zwar hat die Regierung nach langen Diskussionen im April 2014 einen Langzeit-Energieplan verabschiedet und damit die Entwicklungsrichtung vermeintlich klar vorgegeben. Doch zeigt sich fast ein Jahr später, dass in den Hauptpunkten weiter große Meinungsverschiedenheiten bestehen.

Buchstäbliche Kernfrage ist, wie es Japan in Zukunft mit der Atomkraft hält. Abe hat frühzeitig erkennen lassen, dass die Nuklearenergie für ihn trotz Fukushima und vieler Widerstände in der Bevölkerung unverzichtbar ist. Der Premier weiß sich damit vor allem mit der Großindustrie einig. Diese hatte nach der Ablösung der seit der Katastrophe eher atomkritischen, von der Demokratischen Partei Japans (DPJ) gestellten Vorgängerregierung verlangt, Japan müsse zu einer „realistischen“ Energiepolitik zurückkehren und dürfe die Kernkraft nicht infrage stellen. Die DPJ-Regierung hatte dies im September 2012 getan, als sie im Entwurf eines Energie-Leitplans den vollständigen Ausstieg Japans aus der Atomkraft bis 2039 festgelegt und damit weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatte. Doch die Regierung kassierte ihren Vorschlag schon nach wenigen Tagen wieder ein, nachdem sie unter großen Druck insbesondere durch die Wirtschaft geraten war. „Dies ist keine Entscheidung der Politiker allein“, zitierten Medien den damaligen Industrieminister Yukio Edano.

In den neuen Leitlinien des Kabinetts Abe heißt es, Japans Energiebedarf werde am besten durch einen Mix aus nuklearen, erneuerbaren und fossilen Quellen gedeckt. Die Abhängigkeit von der Kernkraft solle „so weit wie möglich“ verringert werden, in welchen Anteilen, ist noch offen; gleichzeitig wolle man jedoch die regenerativen Energien vorrangig ausbauen – zunächst bis 2017. Wie auch Kohle, Erdwärme und die gewöhnliche Wasserkraft sei die Atomkraft eine stabile und preiswerte Grundlastenergie. Daher sei es wünschenswert, unter Beachtung verschärfter Sicherheitskriterien möglichst viele abgeschaltete Reaktoren wieder ans Netz zu bringen. Ihre Laufzeit solle „im Prinzip“ 40 Jahre nicht überschreiten. Zudem wird, wie schon vor Fukushima, die Absicht erneuert, einen vollständigen integrierten Brennstoffkreislauf aufzubauen. Hierzu soll unter anderem eine Wiederaufbereitungsanlage in Rokkasho in der nördlichen Präfektur Aomori fertiggestellt und an gleichem Ort eine neue Brennstäbefabrik errichtet werden.

Exportschlager Nukleartechnik?

Vor allem bei der Elektroindustrie und den Versorgern kommt das gut an. To­shiba, Hitachi und andere Elektrokonzerne sehen große Chancen im Export von Nukleartechnik; jedoch wäre dem Ausland deren Leistungsfähigkeit ohne eigene Kernkraftindustrie nur schwer vorzuführen. Seit Ende 2012 bemühen sich die Unternehmen wieder darum, Großaufträge in der Türkei, Indien oder China zu akquirieren. Dabei werden sie von der Politik unterstützt; gerade Abe versteht sich als „Türöffner“ und wirbt auf Auslandsreisen für Japans AKW-Bauer.

Die zehn regionalen Versorger können sich eine Zukunft ohne Kernkraft ohnehin nicht vorstellen, nachdem sie zusammen mit dem Staat in den vergangenen 40 Jahren Billionen Yen in den Aufbau der Branche investiert haben und seither ein ganz erheblicher Teil ihres Geschäfts auf dem Verkauf von nuklear erzeugter Elektrizität basiert. Der Ausfall der AKW bedeutet für die Unternehmen große finanzielle Einbußen. Allein 2014 schrieben sechs besonders kernkraftexponierte Versorger laut Nachrichtenagentur Reuters einen Gesamtverlust von umgerechnet 3,3 Milliarden Dollar. Auch wenn die Stromproduzenten schon deshalb interessiert sind, ihre Atommeiler schnell wieder ans Netz zu bringen: Billig wird das nicht werden. Zwar können die Unternehmen die gestiegenen Erzeugungskosten teilweise auf ihre Endkunden abwälzen. Doch sorgt dies nur bedingt für Erleichterung; denn um überhaupt eine Chance auf eine Reaktivierung der AKW zu haben, müssen die Versorger hohe Summen in die Sicherheit der Anlagen investieren. Mehr als zwei Billionen Yen habe das die Branche bereits gekostet, berichtete die Tageszeitung Mainichi Shimbun Anfang 2015.

Wie viele der nach der Zerstörung des AKW Fukushima infrage kommenden 48 Reaktoren überhaupt wieder hochgefahren werden, ist unsicher und hängt in jedem Fall von der Zustimmung der Atomaufsichtsbehörde NRA ab. Deren Prüfungskriterien wurden Anfang Juli 2013 deutlich verschärft. Weltweit gebe es keine strikteren Sicherheitsstandards, beteuert die Regierung und versucht so, die Sorgen vieler Bürger zu zerstreuen.

Dennoch: Das Misstrauen ist groß. Zwar gab die NRA erstmals im September 2014 grünes Licht für die Reaktivierung zweier Reaktoren im AKW Satsumasendai in der Präfektur Kagoshima. Die Stadtverwaltung sowie der Gouverneur und das Parlament der Präfektur erteilten nicht ganz überraschend ebenfalls ihre Zustimmung, haben sie doch in der Vergangenheit, wie auch andere AKW-Standorte, erheblich von Steuereinnahmen und sonstigen Zuwendungen der Betreiber profitiert. Auch die Regierung in Tokio hat sich die Einwilligung zur Ansiedlung von AKW Jahr für Jahr viel kosten lassen. Andere Gemeinden in der Nähe von Kernkraftwerken, vor allem solche, die gar nicht von ihnen profitiert haben, sind jedoch wenig bereit, den Sicherheitsbeteuerungen von Betreibern und Behörden Glauben zu schenken. Ihr Argument: Ein Unfall oder eine Katastrophe würde sie genauso treffen wie den Kraftwerksstandort selbst. Daher wollen sie in alle Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

Fünf kleinere Reaktoren, die älter als 40 Jahre sind, sollen nicht wieder ans Netz gehen, sondern abgewrackt werden, kündigten deren Betreiber Ende 2014 an. Dies würde die betroffenen Unternehmen nach der derzeitigen Gesetzeslage auf einen Schlag 21 Milliarden Yen pro Meiler kosten. Generell ist der Rückbau von AKW in Japan ein Riesenproblem. Vor allem die Endlagerung radioaktiver Abfälle ist ungelöst, geeignete Standorte sind nur sehr schwer zu finden. Bis 2011 gingen gerade diese Kosten nicht in Schätzungen zu den Kilowattstundenpreisen für Atomstrom ein, und so wurde dieser regelmäßig als mit Abstand preiswerteste Energiequelle ausgewiesen. Seit Januar 2015 lässt das Wirtschaftsministerium (METI) die Kosten für einzelne Energieträger neu berechnen, die Ergebnisse sollen in die Debatte um einen neuen Energiemix einfließen.

Auch den Neubau von AKW wieder in Erwägung zu ziehen, war bis vor Kurzem kaum vorstellbar. Doch die Zeiten scheinen sich zu ändern: Im Dezember 2014 schlug eine METI-Kommission vor, Reaktoren, die für ein Wiederhochfahren zu alt seien, möglicherweise durch neue zu ersetzen. „Inakzeptabel“ sei dies, meint die Mainichi Shimbun in einem Leitartikel. Dennoch ist auch der nach Fukushima gestoppte Weiterbau von Kraftwerken wieder ein Thema.

Bis heute vernachlässigt: erneuerbare Energien

Dagegen fristeten erneuerbare Energien in Japan lange nur ein Schattendasein, und auch heute haben sie es schwer. Immerhin hat ein Einspeisetarif, der nach deutschem Vorbild gestaltet wurde und seit dem 1. Juli 2012 gilt, die Entwicklung der Erneuerbaren deutlich beflügelt. Der Tarif vergütet die Abgabe von überschüssiger Elektrizität, die aus Sonne, Wind, Erdwärme, Biomasse und kleinen Wasserkraftwerken erzeugt wird, an die Netze der Versorger zu garantierten Preisen, meist für 15 oder 20 Jahre. Auf diese Weise stieg der Anteil der Erneuerbaren an der Stromproduktion bis 2013 auf mehr als 4 Prozent, schätzt die Japan Renewable Energy Foundation. Zwei Jahre zuvor waren es nur 1,5 Prozent. Zusammen mit herkömmlicher Wasserkraft dürfte Japan 2013 mehr als 10 Prozent seines Stroms aus regenerativen Trägern erzeugt haben.

Dank einer anfänglich sehr großzügigen Vergütung von 42 Yen (31,5 Eurocent) pro Kilowattstunde ist vor allem die Photovoltaik kräftig gewachsen. Obwohl die Regierung für 2013 den Satz auf 36 Yen senkte, kamen in dem Jahr rund sieben Gigawatt an neuer Solarkapazität hinzu. Weltweit schaffte nur China mehr. Hauptgrund für die Marktbelebung war, dass auch zahlreiche Unternehmen außerhalb des Energiesektors das lukrative Solargeschäft entdeckten und im ganzen Land zahlreiche Projekte unter anderem zum Bau von Solarkraftwerken mit einer Leistung von einem Megawatt und mehr (so genannte Megasolar-Kraftwerke) aufgelegt wurden. Mehr als 80 Prozent der Neukapazität entfielen 2013 auf kommerzielle Vorhaben dieser Art. Bis dahin hatte vor allem die Nachfrage privater Haushalte nach Solaranlagen für die Dächer ihrer Wohnhäuser das Wachstum vorangetrieben.

Andere erneuerbare Energien stehen sehr viel schlechter da. Zwar hat das Umweltministerium die Windkraft auf längere Sicht als potenziell wichtigste regenerative Energiequelle eingestuft, doch wurden 2013 nur 73 Megawatt an neuer Kapazität geschaffen. Damit erreichte Japans gesamte Windkraftleistung lediglich 2,7 Gigawatt. Ein Grund für die geringen Investitionen sind langwierige Umweltverträglichkeitsprüfungen. Ganz wenig geschieht auch bei der Erdwärme, obwohl Japan als Land der heißen Quellen („Onsen“) bekannt ist und weltweit hinter Indonesien und den USA über die größten geothermischen Ressourcen verfügt. Hauptgrund für die bislang geringe Erschließung des Potenzials ist, dass sich vier Fünftel der Quellen in Naturparks befinden und hier sehr strenge Regeln gelten. Sie wurden 2012 etwas gelockert, dennoch befürchten besonders die Onsen-Betreiber geschäftliche Einbußen.

Die großen Stromproduzenten verfolgen gerade das starke Wachstum in der Photovoltaik mit viel Argwohn und gehen auch aktiv gegen sie vor. So kündigten Kyushu Electric Power und vier weitere Versorger im September 2014 an, Anträge auf die Einspeisung von Elektrizität aus neuen Solar- oder Windstromprojekten nicht mehr zu akzeptieren. Es bestehe die Gefahr einer Überbeanspruchung ihrer Netze. Das METI nahm den Fall zum Anlass, den Einspeisetarif zu überprüfen. Als Folge gelten seit Mitte Dezember 2014 neue zeitliche Kriterien, nach denen die Versorger die Abnahme „grüner“ Elektrizität ablehnen können. Nach Meinung von Kritikern werden die Erzeuger erneuerbarer Energien hierdurch jetzt allerdings schlechter gestellt als zuvor.

Der Ausbau der Leitungsnetze könnte helfen, mögliche Engpässe zu überwinden – umso mehr, als mit den geplanten Reformen des Elektrizitätssektors auch die wirtschaftliche und politische Macht der Versorgungsmonopole mindestens teilweise infrage gestellt wird. Haben die Versorger bislang in ihren jeweiligen Regionen Produktion, Übertragung und Verteilung der Elektrizität in einer Hand, sollen diese Funktionen zwischen 2018 und 2020 getrennt werden. Im Vorgriff hierauf haben zum Beispiel Hitachi und die schweizerische ABB Mitte Dezember 2014 ein Gemeinschaftsunternehmen gegründet, das Systeme für den Gleichstromtransport über größere Distanzen anbieten soll. Dies würde etwa den Transport von Windstrom von Hokkaido nach Süden erleichtern.

Das Aufbrechen der regionalen Monopole ist der letzte Schritt in einem Paket, mit dem eine grundlegende Reform des japanischen Elektrizitätssektors erreicht werden soll. Bereits für 2015 ist vorgesehen, eine nationale Koordinierungsstelle für die Stromversorgung zu gründen. Sie soll unter anderem eine Infrastruktur aufbauen, die es erlaubt, sehr viel besser und umfangreicher als bisher Elektri­zität quer durchs Land zu übertragen. Dies soll vor allem im Falle eines Energienotstands eine stabile Stromversorgung garantieren. Als zweite Reformmaßnahme soll ab etwa 2016 das Strom-Endkundengeschäft geöffnet werden.

Ein Umbau des stark zentralistisch organisierten Systems der Elektrizitätsversorgung ist auch mit dem Aufbau von so genannten „smart cities/communities“ verbunden, zu denen es landesweit über 100 Projekte gibt. Ihr Ansatz ist dezentral: Auf kleinem Raum soll Strom vor allem aus erneuerbaren Energien gewonnen und sein Verbrauch effizient organisiert werden. Schlüsselkomponenten sind intelligente Stromzähler, leistungsfähige Batterien und Energiesteuerungssysteme für Gebäude und private Wohnhäuser. Getestet wird auch, wie sich Elektroautos in die „smart communities“ integrieren lassen.

Japans energiepolitischer Weg bleibt uneindeutig; eine komplette Energiewende wie in Deutschland ist allerdings so gut wie ausgeschlossen. Aber es ist offen, ob sich im steten Ringen zwischen Besitzstandswahrern und Erneuerern, die Atomkraft als Auslaufmodell sehen, ein zukunftsfähiges Energiesystem aufbauen lässt.

Dr. Detlef Rehn war bis Mai 2014 Japan-Korrespondent von Germany Trade and Invest. Er arbeitet seither als freier Journalist in Tokio.
 

Bibliografische Angaben

IP-Länderporträt 1, März-Juni 2015, S. 24-29

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