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01. Juli 2016

Keine geheime Agenda

Frankreich will viel in der Syrien-Krise, hat aber wenig Handlungsspielraum

Nicht nur wegen der islamistischen Attentate im November 2015 in Paris bleibt die Zukunft Syriens für Frankreich von zentraler Bedeutung. Große Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten hat die Regierung allerdings nicht, dazu ist die politische Gemengelage viel zu kompliziert. Und unter den Europäern steht Frankreich ziemlich allein da.

Nach den IS-Terroranschlägen vom 13. November 2015 sprach Staats­präsident François Hollande von einem „Kriegsakt“: Frankreich müsse nun „angemessene Entscheidungen treffen“. Doch auch nach sechs Monaten des intensiver geführten militärischen Kampfes gegen den so genannten Islamischen Staat bleibt Syrien für die französische Regierung in vielerlei Hinsicht ein Problem.

Die schwierigen Beziehungen zu Damaskus reichen weit zurück. Frankreich war zwischen 1920 und 1946 Mandatsmacht; nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Syrien eine Periode der Gewalt und Instabilität, die erst 1970 mit der Machtübernahme durch Hafez al-Assad endete. Seitdem gab es zahlreiche Konflikte, allen voran das Schicksal des Libanon. Die Liste der Anschläge, verübt von Damaskus, dessen Verbündeten in Teheran oder der Hisbollah, ist lang und reicht vom Attentat auf den französischen Botschafter 1981 in Beirut bis zur Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten ­Rafik Hariri 2005, der ein persönlicher Freund des damaligen Präsidenten ­Jacques Chirac war. Paris und Wa­shington setzten daraufhin die UN-Resolution 1559 durch, die den Rückzug syrischer Truppen aus dem Libanon vorsah. Kurz: Ungeachtet mehrerer Annäherungsversuche sind zwischen Frankreich und der Familie Assad noch einige alte Rechnungen offen.

Nach dem Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 forderte Frankreich lautstark einen Regimewechsel in Damaskus. Im Sommer 2013 stand die Regierung dann kurz davor, Luftschläge gegen das Regime durchzuführen, als der amerikanische Präsident, Barack Obama, plötzlich einen Rückzieher machte. Drei Jahre später ist das Assad-Regime noch immer an der Macht, Washington und Moskau sind bei den Verhandlungen über eine Waffenruhe enger zusammengerückt – und Paris sieht seine Einflussmöglichkeiten schwinden. Dabei geht es für Frankreich in der Syrien-Krise weiterhin um sehr viel.

Was auf dem Spiel steht

Der Konflikt beschäftigt die französische Diplomatie aus einer Reihe von Gründen: Erstens ist die Situation im Libanon besorgniserregend. Während die meisten Mächte den Libanon als Nebenkriegsschauplatz beziehungsweise weiteres Teil des Syrien-Puzzles betrachten, hat das ehemalige Mandatsgebiet, ein französischsprachiges Land mit großer christlicher Minderheit, für Paris Priorität. Früher war Damaskus im Libanon Zünglein an der Waage, was die Balance der inneren Machtkonstellationen anging. Heute leben dort 1,1 Millionen syrische Flüchtlinge; Hollande hat Beirut finanzielle Unterstützung versprochen.

Zweitens wird Frankreichs Einfluss in der gesamten Region des Nahen Ostens und Nordafrikas infrage gestellt. Nach dem zweimaligen Scheitern beim Aufbau eines Mittelmeer-Dialogs (1995 und 2008), der Kritik am problematischen Umgang mit der tunesischen Revolution sowie der Militärintervention in Libyen – an der Seite Großbritanniens und der NATO –, muss Paris das überdenken, was früher einmal „arabische Politik“ genannt wurde.

Drittens sind die Beziehungen zu den USA getrübt. Washingtons Weigerung, das syrische Baath-Regime 2013 nach dem offenkundigen Einsatz von Chemiewaffen gegen Zivilisten anzugreifen, hat sich zur Quelle anhaltender Spannungen zwischen beiden Ländern entwickelt.

Viertens ist Syrien eine Herausforderung sowohl für die Außen- als auch die Innenpolitik. Junge Franzosen schließen sich dem dschihadistischen Krieg des IS an und führen in dessen Namen Anschläge in Frankreich aus. Derweil bekämpft das Land den IS in Syrien und im Irak militärisch und entsandte im Rahmen der Operation Chammal 1000 Soldaten und den Flugzeugträger „Charles de Gaulle“.

Fünftens schließlich hat die Flüchtlingskrise Syrien auch zu einem moralischen Dilemma gemacht – und die Europäische Union an den Rand des Scheiterns gebracht.

Mehrere Fragen entzweien nun französische Politiker, Entscheidungsträger und Intellektuelle. Die erste lautet, ob die Anschläge von 2015 eine Folge der französischen Außenpolitik seien, eine Art „Bumerang-Effekt“ als Antwort auf die französische Haltung gegenüber Syrien und dem Irak, oder eine Folge der innenpolitischen Probleme Frankreichs mit dem Islamismus und dessen internationalem Netzwerk. Eine andere Frage ist, ob Paris sich mit stabilen und solventen, wenngleich autoritären, sunnitischen Golf-Monarchien (besonders Saudi-Arabien) zusammenschließen sollte, um nahöstliche Streitfragen zu lösen, oder ob es zu Ländern, deren Verbindungen mit terroristischen Vereinigungen ungeklärt sind, lieber Abstand halten sollte.

Neo-Cons und Nostalgiker

Die Diskussionen unter Frankreichs Außenpolitikern verlaufen dabei entlang verschiedener Linien. Da stehen sich die so genannten französischen Neo-Cons, eine Gruppe von einflussreichen Diplomaten (darunter Präsidentenberater Jacques Audibert und Frankreichs Botschafter in Washington, Gérard Arau), und die alte Garde der Gaullisten-Mitterrandisten (der frühere Außenminister Hubert Védrine ist deren prominentester Vertreter) gegenüber. Die erste Gruppierung befürwortet militärische Aus­einandersetzungen mit Schurkenstaaten, angefangen mit dem Iran und seinem syrischen Protegé; die zweite denkt in Kategorien von Realpolitik und Mächtegleichgewichten und plädiert für Pragmatismus. Sie ist auch offen für den Vorschlag, Russland wieder in die internationale Gemeinschaft aufzunehmen.

Eine andere Trennlinie verläuft zwischen klassischen „tiers-mondistes“ („Dritte-Weltlern“), die westliche Militärinterventionen grundsätzlich ablehnen und auf die Bürden der kolonialen Vergangenheit verweisen, und den Liberalen, die eine zu schwache arabische Außenpolitik als zentralen Faktor des derzeitigen Chaos hervorheben.

In letztgenannter Gruppierung bedauern säkulare „Nostalgiker“ den Untergang des panarabischen Nationalismus (nach Nasser und Saddam Hussein gilt Baschar al-Assad ihnen als letzter Vertreter) und stellen sich gegen diejenigen, die einen moderaten politischen Islam als geeignete Grundlage sehen, um Politik und Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens einen Neustart zu ermöglichen.

Doch welche politischen Präferenzen man auch immer hegen mag, ­Paris verfügt nur über geringen Handlungsspielraum. Das Außenministerium hat öffentlich drei politische Prioritäten für Syrien formuliert: humanitäre Hilfe (samt Sicherstellung von Zugängen zur notleidenden Bevölkerung), Einstellung der Kampfhandlungen (außer gegen terroristische Gruppen) und politischer Wandel (mit dem Subtext, dass Assad nicht Teil von Syriens Zukunft sein kann).

Diplomaten verweisen in privaten Runden darauf, dass Frankreich eines der wenigen Länder sei, das eine in sich schlüssige Vision und einen Plan für Syrien habe. Dieser besteht darin, die Opposition zu organisieren, den Zusammenbruch des Staates zu verhindern und Assad los zu werden, der aus ihrer Sicht einer langfristigen Lösung im Weg steht. Allerdings räumen sie auch ein, dass schwerwiegende Probleme bestehen bleiben: „Die Opposition“ ist eine schillernde, problematische und bisher unzuverlässige Größe; die Russen haben bislang keine Alternative zu Assad genannt, die aus ihrer Sicht akzeptabel wäre; und man geht davon aus, dass die USA keine Strategie haben und Außenminister John Kerry folglich noch in jede russische Falle getappt ist.

Zudem wird der Iran Assad aller Voraussicht nach nicht im Stich lassen; Teheran braucht Syrien, um zusammen mit der Hisbollah die Bekaa-Ebene und den Südlibanon zu kontrollieren. Aus dieser Perspektive ist Saudi-Arabien das einzige andere Land mit klarer Zielsetzung.

Oberhand verloren

Diese französische Sicht der Dinge stößt allerdings bei drei Punkten an Grenzen. Zunächst sind die offiziellen Richtlinien (humanitäre Hilfe, Frieden, Wandel) zu breit angelegt, um einen Durchbruch in der Syrien-Krise zu erzielen. Zweitens, unbeschadet der französischen Kritik am Obama/Kerry-Team, sind Washington und Moskau nun einmal die beiden Hauptakteure bei den Verhandlungen. Der Iran, die Türkei und Saudi-Arabien werden Schlüsselrollen spielen und müssen daher einbezogen werden; und Frankreich hat – zumindest fürs Erste – hier die Oberhand verloren.

Drittens kann Paris nicht gleichzeitig den Libanon beschützen, sich mit Damaskus anlegen, mit Saudi-Arabien verbünden, den Streit mit Teheran aus wirtschaftlichen Gründen beilegen, Ankara um Unterstützung in der Flüchtlingsfrage bitten und sich auf Moskaus Hilfe bei einer Aufrüstung gegen den IS verlassen.

Strategische Optionen

Dennoch lassen sich Frankreichs ­Politik und seine strategischen Optionen anhand einiger Punkte definieren. Ein feststehendes Element ist die Ablehnung des Assad-Regimes. In Stellungnahmen des Quai d’Orsay wird beständig auf Assads Verantwortung für die Tragödie verwiesen, ob es um erneute Angriffe auf ­Zivilisten geht oder den diplomatischen Stillstand.

Außer Frage steht zudem, dass Frankreich weiterhin beabsichtigt, eine Rolle in der Region zu spielen. Paris versuchte dies (wenn auch vergebens), indem es seine Verbündeten 2013 dazu drängte, militärisch gegen das Assad-Regime vorzugehen. Nun gibt es neue Initiativen: Am 3. Juni fand in Paris eine internationale Konferenz zum ins Stocken geratenen israelisch-palästinensischen Friedensprozess statt, um, wie Außenminister Jean-Marc Ayrault sagte, ein verhandlungsfreundliches und vertrauensvolles Umfeld zu schaffen.

Außerdem pflegt Frankreich die Beziehungen zu seinen Verbündeten in der Region, zu den größeren Regionalmächten ebenso wie zu den kleineren, verwundbareren Staaten. In der ersten Kategorie kommen Saudi-Arabien und Ägypten vorrangige Bedeutung zu, trotz heftiger Kritik an deren Menschenrechtsverletzungen. In der zweiten Kategorie werden der Libanon (aus historischen Gründen) und Jordanien (das mit Frankreich in vielen Punkten übereinstimmt und einen Militärstützpunkt für den Kampf gegen den IS zur Verfügung stellt) als natürliche Partner gesehen. Außenminister Laurent Fabius (2012 bis Februar 2016) und sein Nachfolger Ayrault haben diesen Kurs konsequent verfolgt.

Als einziges EU-Mitglied mit dem politischen Willen und den militärischen Mitteln, eine Rolle in Syrien zu spielen, steht Frankreich allerdings ziemlich allein da – und stellvertretend für den Niedergang des europäischen Einflusses im Mittelmeerraum. Die syrische Krise hat der westlichen Diplomatie einige Rückschläge bereitet, während Russland und der Iran die Chance ergriffen haben, um ihre Machtzonen auszuweiten. Selbst eine geheime französische Agenda wäre in dieser Situation bereits ein Fortschritt.

Prof. Frédéric Charillon ist Gründer und Direktor des Institut de recherche stratégique de l’École militaire beim französischen Verteidigungsministe­rium und lehrt u.a. an der Sciences Po Paris.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 96-99

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