IP Special

29. Apr. 2024

Kein Plan für Peking

Gegenüber China setzt Brüssel vor allem auf reaktive und protektive Maßnahmen. Was fehlt, ist eine aktive und koordinierte Ausgestaltung der Beziehungen unter neuen geopolitischen Vorzeichen.

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Bild: Roboterherstellers hier im Einsatz für BMW in Südafrika
Man baut chinesisch: Die Übernahme des deutschen Roboterherstellers Kuka (hier im Einsatz für BMW in Südafrika) durch das Unternehmen Midea trug 2016 zu einem Umdenken in Europa gegenüber Peking bei.
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Die Europäische Union und China sind wirtschaftlich eng miteinander verflochten – insbesondere seit Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation im Jahr 2001 und seinem nachfolgenden Aufstieg zur „Fabrik der Welt“. 2003 werteten beide Seiten ihre Beziehungen zu einer strategischen Partnerschaft auf. 

Doch die Flitterwochen sind längst vorbei. China tritt seit dem Amtsantritt von Xi Jinping im Jahr 2013 international immer aggressiver auf und übt verstärkt Druck auf Länder aus, die aus Pekings Sicht rote Linien übertreten oder Chinas politische Ziele behindern. Dazu nutzt China auch die durch enge Handels- und Investitionsbeziehungen entstandenen ökonomischen Abhängigkeiten gezielt aus. Ungleicher Marktzugang für europäische Unternehmen in China und unfairer Wettbewerb, unter anderem verursacht durch staatliche Subventionen, sind weitere ungelöste langfristige Probleme in den Beziehungen und sorgen EU-seitig für erhebliche Frustration. Das Investitionsabkommen mit China, das hier Abhilfe schaffen sollte, liegt aufgrund der Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang und darauffolgender EU-Sanktionen sowie chinesischer Gegensanktionen, unter anderem gegen Mitglieder des Europäischen Parlaments, auf Eis. Dort wird es auf absehbare Zeit auch bleiben.

Die chinesische Regierung hat allerdings nie das Ziel verfolgt, China zu einer Marktwirtschaft und Demokratie nach westlichem Vorbild umzubauen. Im Gegenteil: Unter Xis Führung versucht sie, das chinesische Entwicklungsmodell zu exportieren und als Alternative zum politischen Westen zu etablieren. Damit einher geht der Anspruch, die internationale Ordnung so umzubauen, dass sie chinesischen Vorstellungen, Interessen und Zielen entgegenkommt und eine gleichberechtigte Koexistenz unterschiedlicher Systeme ohne „erhobenen Zeigefinger“, etwa bei Menschenrechten, ermöglicht. Seit 2017 sehen die USA China daher offiziell als eine strategische Schlüsselherausforderung im 21. Jahrhundert an und sind fest entschlossen, den globalen Ambitionen Pekings etwas entgegenzusetzen.


Der „Kuka-Schock“ und seine Folgen

In der EU sorgte der „Kuka-Schock“ 2016 für einen ersten eindringlichen Weckruf mit Blick auf die Beziehungen zu China: Am 8. Mai 2016 wurde der deutsche Roboterhersteller Kuka, auch als „Perle“ der deutschen Industrie 4.0 bezeichnet, chinesisch. Das Bundeswirtschaftsministerium, das im Vorfeld der Akquisition bereits versucht hatte, europäische Investoren für Kuka zu gewinnen, schlug daraufhin Alarm. Denn zum einen lag der Kaufpreis, den der chinesische Haushaltsgerätehersteller Midea zahlen konnte, deutlich über dem Marktpreis, sodass europäische Investoren nicht zum Zuge kamen. 

Zum anderen passte Kuka perfekt in Chinas industriepolitische Hightech-Strategie „Made in China 2025“. Diese definiert zehn Schlüsseltechnologien, darunter Robotik, E-Mobilität und Raumfahrt, in denen China bis spätestens 2049 – zum 100-jährigen Bestehen der Volksrepublik – weltweit führend sein will. Der hohe Kaufpreis schürte daher die Sorge, dass chinesische Unternehmen mithilfe staatlicher Subventionen systematisch deutsche und europäische Schlüsseltechnologien aufkauften.

Es folgte eine gemeinsame deutsch-­französisch-italienische Initiative bei der EU-Kommission mit dem Ziel, ­europäische Hightech-Unternehmen besser vor Chi­nas staatlich geförderter Einkaufs­tour zu schützen. Das war der Ausgangspunkt für einen EU-weiten Mechanismus zur Überprüfung ausländischer Direktinvestitionen in der EU, der 2019 in Kraft trat und als Auftakt für die grundlegende Überarbeitung und Ergänzung des außenwirtschaftlichen Instrumentenkastens der EU betrachtet werden kann. 

Im Nachhinein lässt sich der „­Kuka-
Schock“ als ein zentraler Moment in dem Prozess identifizieren, der innerhalb der EU und Deutschlands zu einem Umdenken gegenüber China führte. Das Ergebnis war, dass die EU in ihrem China-Papier von 2019 den mittlerweile viel zitierten Dreiklang „Partner, Wettbewerber, Rivale“ einführte, um die künftigen Beziehungen zur Volksrepublik zu charakterisieren. Deutschland hingegen erkannte diesen neuen Rahmen für die Beziehungen zu China erst 2021 mit Antritt der Ampelkoalition offiziell im Koalitionsvertrag und in der 2023 veröffentlichten ersten deutschen China-Strategie an. EU-weit ist das politische Bewusstsein dafür, dass China ein Land mit einem vollständig anderen politischen und wirtschaftlichen System ist, seither deutlich gestiegen.

Was diese Art von systemischer Rivalität für wirtschaftliche Beziehungen und Abhängigkeiten bedeuten kann, wurde Europa in der Pandemie und vor allem durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, verstärkt durch einen chinesisch-russischen Schulterschluss, in brutaler Deutlichkeit vor Augen geführt: Einseitige kritische Abhängigkeiten und damit verbundene Klumpenrisiken in den Lieferketten können von Ländern, die systemische Rivalen sind, ausgenutzt werden, um die Handlungsfähigkeit der abhängigen Länder einzuschränken und sie erpressbar zu machen.

Insbesondere für Deutschland, dessen Wirtschaftsmodell auch auf der steten Zufuhr von russischem Gas basierte, war die abrupt notwendig gewordene Abkoppelung von dieser günstigen Energiequelle sehr schmerzhaft. Sie beeinträchtigte Deutschlands Handlungsfähigkeit gegenüber Russland – und damit die der EU. 

Der Krieg gegen die Ukraine rückte daher auch die Abhängigkeiten von China und damit verbunden die Taiwan-Frage verstärkt in den Fokus europäischer Aufmerksamkeit. Eine Blockade oder gar eine Invasion Taiwans würde zu einer Eskalation des Konflikts zwischen China und den USA sowie zu Sanktionen führen. Ein abrupter Abbruch der Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und China wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit erforderlich. Doch diese sind sehr viel tiefer und breiter angelegt als die wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland. Sie beinhalten eine Vielzahl sogenannter kritischer Abhängigkeiten, etwa bei Rohstoffen wie Seltenen Erden oder bei Schlüsseltechnologien für die grüne Transformation wie der Batterietechnik.


De-Risking im Fokus

Auch in Vorbereitung auf ein solches Szenario hat die EU 2023 „De-Risking“ ganz oben auf ihre China-Agenda gesetzt. Ziel ist es, einseitige kritische Abhängigkeiten und Klumpenrisiken in den Lieferketten zu verringern. Mögliche Instrumente zur konkreten Umsetzung des De-Risking-Ansatzes sind Rohstoffpartnerschaften mit anderen Ländern, die Entwicklung neuer Technologien, die Erschließung alternativer Lieferländer oder Lagerhaltung und Aufbau lokaler Produktion in der EU oder anderen gleichgesinnten Ländern.

De-Risking ist auch ein Kernbestandteil der im Juni 2023 vorgestellten EU-Strategie für wirtschaftliche Sicherheit, die einen wichtigen Ankerpunkt für das übergreifende Ziel von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bildet, ihre Kommission zu einer geopolitischen Kommission zu machen. Die Verbindung zwischen Wirtschaft und Sicherheit liegt keineswegs in der DNA der EU, die aufgrund ihrer Genese vor allem ein wirtschaftlicher Block ist. Wirtschaftliche Sicherheit müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten daher wieder oder sogar neu lernen, insbesondere, aber nicht nur mit Blick auf China. 

Die Verbindung zwischen Wirtschaft und Sicherheit liegt keineswegs in der DNA der EU, die aufgrund ihrer Genese vor allem ein wirtschaftlicher Block ist

Die Überarbeitung des außenwirtschaftlichen Instrumentenkastens ist hierfür ein wichtiger Ansatz und hat zum Teil unerwartete Fortschritte gebracht, etwa die Einführung des Instruments gegen wirtschaftlichen Zwang, das 2023 in Kraft trat. Dieses ermöglicht der Kommission umfangreiche Gegenmaßnahmen, wenn ein Mitgliedstaat von einem Drittstaat wirtschaftlich unter Druck gesetzt wird, um politische Ziele zu erreichen. Die EU ist damit künftig gewappnet, sollte ein ähnlicher Fall auftreten wie der Litauens: Aufgrund der Eröffnung eines Taiwan-Büros hatte China vorübergehend die Handelsbeziehungen eingeschränkt und in Litauen produzierende Unternehmen aus anderen EU-Staaten unter Druck gesetzt. Die EU ist mit Blick auf Defensivinstrumente gegenüber China mittlerweile relativ gut aufgestellt. Abzuwarten bleibt jedoch, ob sie diese im Konfliktfall auch tatsächlich einsetzt. Denn die Angst vor chinesischen Gegenmaßnahmen und mögliche Interventionen einzelner Mitgliedstaaten könnten dem im Wege stehen.


Pekings Avancen widerstehen

Die schwierige und zum Teil fehlende Koordination zwischen EU und Mitgliedstaaten, aber auch zwischen den Mitgliedstaaten selbst, ist ein generelles Problem im Umgang mit China, vor dem auch die neue Kommission stehen wird. Einerseits ist China sehr geschickt darin, die EU-Länder gegeneinander auszuspielen, indem es einzelnen Staaten „besondere Beziehungen“ verspricht, spezielle wirtschaftliche Erleichterungen in Aussicht stellt oder, wie Ende 2023 mit den Visaerleichterungen geschehen, einer kleinen Gruppe von Mitgliedstaaten Zugeständnisse macht, während die übrigen außen vor bleiben. Andererseits zeigen sich die Mitgliedstaaten für Chinas Avancen durchaus empfänglich und tendieren dazu, nationale über europäische Interessen zu stellen.

Dabei wäre koordiniertes Handeln in vielen Bereichen dringend erforderlich, um Chinas „Teile und Herrsche“-Strategie etwas entgegenzusetzen. So bräuchte es mehr gemeinsame Initiativen beim Thema kritische Infrastruktur, etwa eine EU-Hafen-Strategie. Diese könnte verhindern, dass chinesische Investoren, die in einem Mitgliedstaat nicht zum Zuge kommen, in den nächsten weiterziehen – und somit einzelne EU-Wirtschaftsstandorte gegeneinander ausspielen.

Auch beim Schutz kritischer Technologien bräuchte es ein deutlich konzertierteres Vorgehen als bisher. So unterliegt der niederländische Hersteller von Maschinen für die Halbleiterproduktion, ASML, derzeit den extraterritorialen Exportkontrollen der USA, die sich mit der niederländischen Regierung bilateral darüber geeinigt haben. ASML darf seine fortschrittlichsten Maschinen daher nicht nach China liefern. Da es keinen EU-weiten einheitlichen Ansatz für Exportkontrollen gibt, wurde der EU, die eigentlich für sich beansprucht, souverän und eigenständig handeln zu können, diese Entscheidung aus der Hand genommen. 

Es bräuchte gemeinsame Initiativen beim Thema kritische Infrastruktur, etwa eine EU-Hafen-Strategie

Exportkontrollen sind dadurch zwar in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, aber das im Januar 2024 verabschiedete Maßnahmenpaket zur wirtschaftlichen Sicherheit zeigt erneut, wie schwierig eine EU-weite Koordinierung ist, wenn die Mitgliedstaaten ein Stück nationale Souveränität abgeben müssen: Anstelle konkreter Maßnahmen für die Vereinheitlichung von Exportkontrollen hat die EU nur ein unverbindliches Weißbuch vorgelegt.

Um eine bessere Koordinierung europäischer Interessen gegenüber China zu erreichen, wäre auch eine andere Besuchsdiplomatie sinnvoll: Hochrangige Besuche in China sollten auf EU-Ebene koordiniert werden und nicht allein auf nationaler Ebene stattfinden. Idealerweise würden grundsätzlich Vertreterinnen und Vertreter mehrerer Mitgliedstaaten sowie der EU zusammen reisen und Termine mit der chinesischen Seite gemeinsam wahrnehmen. Zudem sollten keine rein nationalen, sondern gemischte Wirtschaftsdelegationen mitreisen. So ließen sich gesamteuropäische statt nationale Interessen in den Vordergrund eines solchen Besuchs stellen und die Bedeutung des Binnenmarkts hervorheben.

Wirtschaftliche Stärke ist eine wichtige Voraussetzung für geopolitische Macht. Die EU hätte daher das Potenzial, neben den USA und China zu einem dritten gewichtigen globalen Akteur zu werden, wenn sie ihre PS auf die Straße bekommt. Dazu wäre es jedoch dringend notwendig, europäische Interessen und Ziele klarer auf den Punkt zu bringen und eine europäische Zukunftsvision zu formulieren. Auf dieser Basis wäre auch ein starkes gemeinsames Auftreten gegenüber China leichter möglich.

Das ist auch eine wesentliche Voraussetzung, um die künftige Zusammenarbeit mit China aktiv zu managen. Denn was der EU ergänzend zu den reaktiven und protektiven Instrumenten fehlt, ist eine aktive Ausgestaltung der gegenseitigen Beziehungen unter den neuen geopolitischen Vorzeichen. Wie kann die Zusammenarbeit mit einem systemischen Rivalen in der Praxis konkret aussehen? Welche Kommunikationskanäle und Formate lassen sich fortsetzen? Welche nicht? Braucht es neue oder andere Kompetenzen? Diese Fragen sollte die neue Kommission schnellstmöglich angehen. Denn gerade bei globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel ist die Zusammenarbeit mit China von zentraler Bedeutung.

De-Risking bleibt sinnvoll und notwendig, spielt zurzeit aber eine allzu dominierende Rolle in den Beziehungen zu China. Es besteht der Eindruck, dass die EU vor allem einen Plan gegen Peking, aber nicht für Peking hat.        

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 41-45

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Dr. Cora Francisca Jungbluth ist Senior Expert China und Asien-Pazifik bei der Bertelsmann Stiftung.