Kampf der Narrative
Mindestens vier Sichtweisen konkurrieren auf der Welt, um Russlands Überfall auf die Ukraine einzuschätzen – ein ernstes Problem, um zu einem Ende des Krieges zu kommen.
In den frühen 1950er Jahren war der japanische Film „Rashōmon“ eine Offenbarung. In dem international gefeierten Schwarz-Weiß-Film von Akira Kurosawa erzählen mehrere Personen die Geschichte eines Überfalls auf einen Samurai und seine Frau. Jede Person wird nacheinander zum Erzähler und schildert die Ereignisse – einen gewaltsamen Mord und eine Vergewaltigung – anders. „Rashōmon“ bedeutet auf Japanisch „Streit“, und in dem Film erweist sich der Konflikt zwischen den verschiedenen Versionen der Geschichte als unüberbrückbar. So rückt die Frage in den Vordergrund, ob die wahren Ereignisse überhaupt jemals aufgedeckt werden können.
Der preisgekrönte Film über das Aufeinanderprallen verschiedener Interpretationen eines scheinbar eindeutigen Themas erinnert derzeit leider allzu sehr an den über ein Jahr währenden Krieg Russlands gegen die Ukraine. So veröffentlichte das Wall Street Journal beispielsweise erst kürzlich einen Bericht über die Gespräche, die hinter den Kulissen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky in Paris geführt wurden. Der französische Präsident Emmanuel Macron und Bundeskanzler Olaf Scholz, so die WSJ-Journalisten, hätten den ukrainischen Staatschef gedrängt, intensiver über Friedensgespräche mit Russland nachzudenken. Der Grund: Einige der westlichen Partner Kiews würden mittlerweile daran zweifeln, ob die Ukraine wirklich ihr gesamtes Territorium zurückerobern könnte.
Diese Interpretation der aktuellen Lage steht jedoch in krassem Widerspruch zu der Denkweise einiger anderer Länder. In Polen zum Beispiel verfolgt man die deutsch-französischen Bemühungen skeptisch und mit einer Prise Unverständnis. Immerhin sieht Warschau sich als strategisches Zentrum des demokratischen Unterstützerkreises der Ukraine.
Mit dieser Gegenüberstellung sind die unterschiedlichen Auffassungen und Darstellungen über den Krieg in der Ukraine noch lange nicht erschöpft. Man könnte sogar den Eindruck einer gewissen Kakophonie gewinnen. Um die gegenwärtige Situation zu erfassen und zu verstehen, was sich aus ihr ergeben könnte, ist es notwendig, jede Erzählung der Reihe nach zu betrachten. Tatsächlich gibt es vier Haupterzählungen – und jede einzelne hätte, sofern sie sich gegen die Konkurrenz durchsetzen würde, sehr unterschiedliche Konsequenzen.
Der westeuropäische Fuchs
Der altgriechische Dichter Archilochus sagte einmal: „Ein Fuchs weiß viele Dinge, aber ein Igel weiß ein großes Ding.“ Dieses Zitat wurde über Jahrhunderte hinweg vielfach aufgegriffen und neu interpretiert, unter anderem von Isaiah Berlin in seinem Essay „Der Igel und der Fuchs“. Für die Zwecke dieses Textes beschreibt das Zitat gut den Unterschied zwischen den westeuropäischen und den mittel- und osteuropäischen Positionen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine, den der Kreml am 24. Februar 2022 auf das ganze Land ausweitete. Gemeint sind hier vor allem Frankreich und Deutschland, aber auch andere westeuropäische Länder – mit Ausnahme Großbritanniens.
Was weiß Westeuropa alles? Es weiß, dass der Krieg von Wladimir Putin begonnen wurde und dass seine Logik eine schreckliche Maschinerie von Menschenrechtsverletzungen ist. Gleichzeitig ist sich Westeuropa aber auch der möglichen tödlichen Folgen bewusst, die ein Übergreifen dieses Krieges auf andere Staaten und Regionen haben könnte. Zudem weiß man auch von den Kosten des Krieges für die Demokratie, den Kosten des Stopps russischer Energieimporte für die eigenen Bürgerinnen und Bürger sowie von den Gefahren, sollte die NATO in einen Krieg mit Russland und möglicherweise sogar mit China hineingezogen werden.
Deshalb wägt Westeuropa alle Szenarien gründlich ab und sucht nach Konsensmöglichkeiten. Das Szenario einer „Zerschlagung Russlands“ wirkt höchst bedrohlich, auch weil es – wie Präsident Macron zuletzt warnte – im Einsatz von Atomwaffen münden könnte. Immerhin gehört Moskau seit Jahrhunderten zum Klub der Großmächte und hat bewiesen, dass es in der Lage ist, auch die schlimmsten Krisen zu überstehen. Niemand sollte so naiv sein zu erwarten, dass sich das plötzlich ändert. Die Hoffnung geht dahin, dass man in Moskau irgendwann wieder zur Vernunft kommt.
Die westeuropäische Beschreibung des Krieges erweckt den Eindruck, man selbst handle stets vorsichtig und rational. Doch genau das kann im Fall der Ukraine zu einer Eskalation führen und schützt langfristig nicht vor einem möglichen russischen Einmarsch anderswo, wie zum Beispiel in der Republik Moldau. Unterstrichen wird eine solche Schlussfolgerung unter anderem von CIA-Chef William Burns, der vor Kurzem in einem Interview urteilte, dass der Kreml einen längeren Krieg für eine Win-win-Situation halte.
Der ukrainische Igel
Der ukrainische Igel weiß nur eines: Wenn er sich ergibt oder diesen Krieg verliert, dann droht ihm die völlige Vernichtung. Nicht nur Kiew denkt so, sondern auch die überwiegende Mehrheit der mittel- und osteuropäischen Länder, von Finnland über Polen und die Tschechische Republik bis hin zu Rumänien. Nur Ungarn ist dabei eine Ausnahme. Überraschend ist es derweil für viele Menschen in den genannten Staaten, dass diese Sichtweise auch von den Vereinigten Staaten und Großbritannien geteilt wird.
Die Vertreter dieser Perspektive sind sich einig, dass Russland der militärische Aggressor und die Ukraine sein Opfer ist. Sie sehen diesen Krieg jedoch nicht unbedingt als ein singuläres Ereignis, sondern vielmehr als das Ergebnis eines schleichenden Prozesses. Für sie begann die russische Aggression nicht erst im vergangenen Jahr, sondern bereits vor über 20 Jahren in Tschetschenien, woraufhin sich die Gräueltaten Moskaus in Georgien und auf der Krim fortsetzten, nur um schließlich die ganze Ukraine heimzusuchen. Präsident Putin versucht, die imperiale Einflusssphäre der Sowjetunion wiederherzustellen, indem er das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Menschenrechte brutal mit Füßen tritt.
Nimmt man diese Sichtweise ein, dann darf es eigentlich kein anderes Szenario geben als die militärische Zerschlagung Russlands. Erstens, weil jeder Kompromiss mit Putins Regime nur vorübergehend helfen würde. Denn selbst auf einen Frieden würden hier früher oder später wieder Kampfhandlungen in der Ukraine oder in anderen Ländern und Regionen folgen – oder ein Zustand, bei dem die Grenze zwischen Krieg und Frieden verschwimmt, so wie in Moldau, wo erst kürzlich von Russland orchestrierte Umsturzversuche aufgedeckt wurden. Und weil mit Putins aggressivem Regime kein Frieden möglich ist. Für diese Einschätzung hat die Ukraine zwar keine handfesten Beweise. Doch es liegt in der Natur des Igels, Gefahren früh zu erkennen und sich entsprechend zu verteidigen – und weder der Ukraine noch anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa mangelt es an einem historisch gewachsenen Verständnis für den russischen Imperialismus.
Was daraus folgt, ist, dass Russland eine entscheidende militärische Niederlage auf dem Schlachtfeld zugefügt werden muss. Denn der Kreml versteht nur die Sprache der Gewalt. Für diesen Fall werden in der Ukraine sogar bereits recht detaillierte Szenarien ausgearbeitet. Eine Art „Teilung“ von Putins Staat oder eine Zerstückelung in kleinere Teile, so wie es 1945 mit Deutschland geschah, scheint für viele Ukrainerinnen und Ukrainer die einzige Garantie für einen dauerhaften Weltfrieden zu sein. Diese Lösung klingt jedoch nur dann gut, wenn man nicht allzu lange darüber nachdenkt, welcher Schritte es bedürfte, um Russland eine derartige Niederlage zuzufügen. Immerhin gingen auch der Teilung Deutschlands die völlige Zerstörung des Landes und der Tod Hunderttausender Zivilisten voraus.
Das russische Märchen
In ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ stellt Hannah Arendt fest, dass Tatsachen und Fakten zumindest in minimalem Umfang respektiert werden müssen, damit sich Politik in einer gemeinsamen Welt – und nicht in Paralleluniversen – abspielen kann. Um dies zu veranschaulichen, führt sie eine lehrreiche und amüsante Anekdote an. „Ende der 1920er Jahre, so wird berichtet, wurde Clemenceau von einem Vertreter der Weimarer Republik gefragt, was künftige Historiker wohl über die damals sehr aktuelle und strittige Kriegsschuldfrage denken werden. ‚Das weiß ich nicht‘, soll Clemenceau geantwortet haben, ‚aber eins ist sicher, sie werden nicht sagen: Belgien fiel in Deutschland ein.‘“
Arendt weist darauf hin, dass dieses Selbstverständnis jahrzehntelang existierte. Und doch fällt bei einem Blick auf die heutige russische Darstellung des Krieges auf, dass wir uns längst in Parallelwelten bewegen. Als Putin der Ukraine im Februar 2022 den Krieg erklärte, sprach er dabei bekanntlich lediglich von einer „militärischen Spezialoperation“. Er bezeichnete sich selbst als Opfer einer vielschichtigen Aggression des Westens und unterstellte den Ukrainern, dass sie nichts anderes als gewalttätige Nazis seien. Nach Putins Geschichtsbild war das größte Unglücksjahr 1989, als das sowjetische Weltreich zusammenbrach. 2022 sah sich Russland dann angeblich dazu gezwungen, sich gegen einen sich abzeichnenden militärischen Angriff zur Wehr zu setzen, fast so, als müsste man wie 1812 eine napoleonische Offensive oder wie 1941 einen Angriff Nazideutschlands abwehren.
Von einer wie auch immer gearteten Selbstbestimmung der Völker Mittel- und Osteuropas kann nach Ansicht des Kremls nicht ernsthaft die Rede sein, da diese de facto einer Ausweitung des amerikanischen Einflussbereichs Vorschub leistet. Für Russland gibt es auf der Welt nämlich seit jeher nur die Imperien – und den unbedeutenden Rest. Und jeder Beitrittsantrag zur NATO bestätige, dass Washingtons Machthunger nicht nachlässt.
Schließt man sich dieser Interpretation an, dann besteht das einzig sinnvolle Ende des gegenwärtigen Konflikts darin, die Ukraine militärisch zu besiegen. Russland gewänne seinen Status als geopolitische Macht von sowjetischem Format zurück. Für den Kreml ist das der einzige Weg, um die alten Kräfteverhältnisse wiederherzustellen. Dies könnte jedoch einen endlosen Krieg in der Ukraine bedeuten, der Schritt für Schritt zur völligen Zerstörung des Landes führt. Und wenn Putin genug Zeit hat, dann könnte sich dieser Krieg auch über die Grenzen der Ukraine hinaus ausbreiten.
Der Globale Süden: Krieg der Weißen
Genau wie in „Rashōmon“ gibt es noch eine vierte Sichtweise, die viel Anklang findet. Diese besagt, dass weiße Menschen in Europa einen Krieg führen, der Not und Elend im Rest der Welt verschärft. Anstatt weiter Zeit mit der Schuldfrage zu verschwenden, sollte das Problem deshalb so schnell wie möglich gelöst werden.
Auf der jüngsten Münchner Sicherheitskonferenz wurde dieser Standpunkt vielleicht am besten von Saara Kuugongelwa-Amadhila, der Premierministerin Namibias, zum Ausdruck gebracht. Ihre Worte zur Unterstützung einer schnellen, friedlichen Lösung fanden großen Widerhall. „Wir setzen uns für eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ukraine ein“, sagte sie, „damit sich die ganze Welt und alle Ressourcen der Welt darauf konzentrieren können, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, anstatt sie für den Erwerb von Waffen, das Töten von Menschen und das Austragen von Feindseligkeiten auszugeben.“ Auf die Frage, warum Namibia sich bei der Abstimmung über den Krieg bei den Vereinten Nationen der Stimme enthalten hat, sagte Kuugongelwa-Amadhila: „Unser Fokus liegt auf der Lösung des Problems, ... nicht auf der Abwälzung der Schuld.“ Vielmehr gehe es um die „Förderung der Entwicklung in der Ukraine, in Afrika, in Asien und an anderen Orten sowie in Europa selbst, wo viele Menschen in Not sind“.
Der erklärte Pazifismus, die Sorge um die Opfer und die geografische Entfernung vom Epizentrum des Krieges, die dabei mitschwingen, machen dies zu einem Narrativ, das sich gleichzeitig parallel zur westlichen Denkweise entwickelt und im direkten Widerspruch zu ihr steht. So hebt auch ein kürzlich erschienener Bericht des European Council on Foreign Relations die Bedeutung der „globalen öffentlichen Meinung“ hervor, die den Krieg ganz anders verhandelt als die westliche Welt.
In diesem Zusammenhang ist auch die Position Chinas erwähnenswert. Immerhin mag die chinesische Unterstützung für Russland vor und hinter den Kulissen den Eindruck erwecken, dass die Volksrepublik mit dem Narrativ des Kremls sympathisiert. In Wirklichkeit schwankt China stark zwischen der dritten und der vierten Sichtweise hin und her. Das liegt zum einen daran, dass Peking Russland braucht, um nicht zum einzigen ernsthaften militärischen Widersacher der USA zu werden. Zum anderen gibt China den Vereinigten Staaten offen eine Mitschuld an dem Konflikt. Diese Haltung spricht eine ganze Reihe von amerikakritischen Ländern an und soll nicht zuletzt zu Rissen in Europa und in der westlichen Staatengemeinschaft führen, die den globalen Schwerpunkt wiederum Richtung China verschieben könnten.
Der Glaube an den Humanismus
Das Aufeinanderprallen verschiedenster Narrative zum russischen Krieg gegen die Ukraine ist eine ernste Angelegenheit – und um die Spannungen zwischen global agierenden, atomar gerüsteten und ideologisch verfeindeten Supermächten zu entschärfen, braucht es direkte Kontakte sowie die Kunst der Diplomatie. Das ist eine der Lektionen, die wir aus dem Kalten Krieg gelernt haben. Dazu sind jedoch Willen und Verantwortungsbewusstsein notwendig, woran es vielerorts mangelt.
In Kurosawas „Rashōmon“ führt die Unfähigkeit, zu einer einzigen Wahrheit über Mord und Vergewaltigung zu gelangen, zu immer heftigeren Polemiken. Lügen vermischen sich mit dem egoistischen Wunsch nach einem Monopol auf die Wahrheit. Letztlich ist es jedoch die Sorge um die kommenden Generationen, die in Kurosawas Film durch ein kleines Kind symbolisiert werden, das den Glauben an den Sinn des Humanismus wiederherstellt. Hoffen wir, dass dies auch für uns der Fall sein wird.
Aus dem Englischen von Kai Schnier
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2023, S. 66-70
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