Titelthema

29. Apr. 2024

Kängurus im Scheinwerferlicht

 In Asien würde Donald Trump Dynamiken beschleunigen, die schon länger spürbar sind: Die US-Hegemonie wird schwächer. Nur reagieren die Verbündeten kaum.

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Bild:US-Flugzeugträger Theodore Roosevelt mit einem japanischen und einem südkoreanischen Zerstörer bei einer gemeinsamen Übung im April 2024.
Engere Anlehnung der asiatischen Verbündeten an Washington: US-Flugzeugträger Theodore Roosevelt mit einem japanischen und einem südkoreanischen Zerstörer bei einer gemeinsamen Übung im April 2024.
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Die asiatischen Verbündeten der USA sind getrieben von der Angst des Verlassenwerdens – und rationale oder pragmatische Entscheidungen erwachsen selten aus Angst. Steht ein Känguru auf der Straße und sieht Autoscheinwerfer, dann erstarrt es entweder oder hüpft ziellos umher. Ein bisschen so ist es auch mit den asiatischen Partnern der Vereinigten Staaten angesichts einer möglichen Rückkehr von Donald Trump: Entweder sie sind aus purer Panik wie versteinert oder sie verdoppeln ihre Anstrengungen, um die Beziehungen mit Washington krisenfest zu machen. 

Eine echte Auseinandersetzung mit der Möglichkeit, dass die USA in Zukunft nur noch eine begrenzte Rolle in Asien spielen werden und welche Konsequenzen das haben könnte, findet derweil kaum statt. Die Abhängigkeit von den USA ist so groß und die Alternativen sind so unklar, dass sich viele Regierungen einfach kategorisch weigern, der Zukunft ins Auge zu sehen. Wie wir wissen, enden Zusammenstöße zwischen Autos und Kängurus in der Regel tödlich für das Känguru. Folgen wir dieser Metapher, dann wird es für die asiatischen Verbündeten Amerikas jetzt darum gehen, schnellstens Maßnahmen zu ergreifen, um nicht unter die Räder zu kommen. 

Das Thema Trump beherrscht die öffentliche Diskussion derzeit so sehr, dass das Gespenst seiner Rückkehr tiefere Analysen zur Rolle der USA in Asien überlagert. Aktuelle Trends sowie solche, die lange vor seiner Zeit begannen und ihn überdauern werden, werden schlichtweg nicht debattiert. Dabei ist das Phänomen Trump bei Weitem nicht alles, über das sich die asiatischen Verbündeten der USA Sorgen machen sollten – und im Falle seiner Wiederwahl wäre es sehr kurzsichtig zu denken, dass man nur vier Jahre überstehen muss, bis die Dinge wieder „normal“ werden. 

Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich der Status der USA in Asien deutlich verändert. Die Macht des Hegemons ist kleiner geworden, genauso wie die Entschlossenheit Washingtons, sich um asiatische Belange zu kümmern. Für Asien ist Trump vor diesem Hintergrund weder ein Störfaktor noch ein Revolutionär. Er ist ein Beschleuniger bereits existierender Dynamiken.

Beginnen wir mit dem relativen Rückgang der Macht Amerikas. Es ist wichtig, hier das Wort „relativ“ zu betonen, da sich die USA im wirtschaftlichen und militärischen Sinne weiterhin in einer Position der Stärke befinden. Trotz Rückschlägen wie der globalen Finanzkrise und der Corona­virus-Pandemie ist die wirtschaftliche Kraft der Vereinigten Staaten weiterhin ungebrochen. Tatsächlich haben die USA im 20. Jahrhundert weitaus schlimmere Krisen durchgemacht – darunter eine Weltwirtschaftskrise und zwei Weltkriege – und sind aus diesen als die mit Abstand wichtigste Wirtschaftsmacht der Welt hervorgegangen. Wir sollten also davon ausgehen, dass die USA ihren Wohlstand weiter ausbauen werden; und dieser Wohlstand wird es Washington wiederum ermöglichen, sich weiterhin das stärkste Militär der Welt zu leisten.

Doch obwohl die USA weiter wachsen, ist dies China zuletzt in ganz anderen Dimensionen gelungen. Die Volksrepublik ist heute die größte Volkswirtschaft der Welt und arbeitet daran, auch ihre militärische Stärke an diesen Status anzupassen. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat es keine so schnelle und umfassende militärische Modernisierung mehr gegeben. Zugleich sind Chinas Ambitionen gewachsen: Es will in Asien die führende Rolle und vielleicht sogar die einzige Rolle spielen, indem es die USA verdrängt. 

Überraschen sollte uns das nicht. Keine Nation von Chinas wirtschaftlichem Status hat Interesse daran, sich einer ausländischen Macht unterzuordnen. Wenn die USA ihren Status also erhalten wollen, dann müssen sie den größten geopolitischen Wettbewerb gewinnen, den sie je haben ausfechten müssen. So stellte Rush Doshi, von Februar 2021 bis April 2024 ein hochrangiger Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats von Präsident Biden, in seinem 2021 erschienenen Buch „The Long Game: China’s Grand Strategy to Displace American Order“ fest: „Seit mehr als einem Jahrhundert hat keine Koalition von Gegnern noch ein einzelner Widersacher der Vereinigten Staaten 60 Prozent des US-Bruttoinlandsprodukts auf sich vereint. China hat diesen Meilenstein heimlich, still und leise bereits im Jahr 2014 erreicht.“


Bereit zum Wettbewerb?

Deshalb ist die Frage nach der amerikanischen Entschlossenheit so wichtig. Um einen Wettbewerb dieser Größenordnung auszufechten, müssen die USA hoch motiviert sein. Doch es gibt gute Gründe, am politischen Willen Washingtons zu zweifeln.

Mittlerweile ist es Routine, dass sowohl führende Demokraten als auch ranghohe Republikaner China als größten Gegenspieler der USA bezeichnen. Das Pentagon nennt Chinas Militär eine „dynamische Bedrohung“ („a pacing threat“). Die Taten Washingtons stimmen mit dieser Rhetorik jedoch nicht immer überein. Eine ad­ä­quate Reaktion auf Chinas militärische Expansion steht noch aus. Dieser hätten die USA eigentlich mit einer Verlegung von Streitkräften aus Europa nach Asien begegnen müssen. Tatsächlich aber haben die USA ihre militärische Präsenz in Asien seit Ende des Kalten Krieges kaum ausgebaut.

Und das, obwohl die Herausforderungen stetig größer werden: So ist beispielsweise Nordkorea seit den 2010er Jahren nuklear bewaffnet und verfügt mittlerweile über Interkontinentalraketen (ICBMs), die das Festland der Vereinigten Staaten erreichen können. Wenn Nordkorea genügend ICBMs entwickelt, verfügt es über eine „garantierte Zweitschlagsfähigkeit“ – es wäre in der Lage, amerikanische Städte mit Atomwaffen anzugreifen, selbst wenn die USA zuerst zuschlagen.

Dadurch verändert sich für die USA auch ihr Verhältnis zu Südkorea. Fragen nach der Entschlossenheit Washingtons werden laut. Ist man bereit, die Zerstörung amerikanischer Städte zu riskieren, um den Bündnisverpflichtungen gegenüber Seoul nachzukommen? Die Antwort lautet mit ziemlicher Sicherheit „Nein“. Auch andere US-Verbündete werden sich dies unweigerlich fragen. So erodiert die Glaubwürdigkeit amerikanischer Sicherheitsgarantien.

Wären die USA bereit, für die Verteidigung Südkoreas die Zerstörung amerikanischer Städte zu riskieren?

Wenn diese Entwicklungen schon seit Jahrzehnten zu beobachten sind, warum haben die Verbündeten der USA nicht schon längst entsprechend reagiert? Tatsächlich ist momentan eher ein Trend in die entgegengesetzte Richtung zu beobachten. Australien hat das Sicherheits­abkommen AUKUS mit den USA und Großbritannien geschlossen, in dessen Rahmen es seine Marine um acht Atom-U-Boote verstärken wird. Zudem sollen US-Bomber und U-Boote auf australischem Territorium stationiert werden. Die Philippinen haben ihre Vereinbarung über US-Militärbasen erweitert; die USA und Südkorea haben eine neue Beratungsgruppe zu Nuklearfragen eingerichtet, um das Abschreckungspotenzial ihres Bündnisses zu verstärken; und die USA und Japan haben erst kürzlich die größte Erweiterung ihrer Allianz seit ihrer Gründung vor 60 Jahren angekündigt.

Trittbrettfahren ist aus Sicht der US-Verbündeten rational. Warum sollten sie den riskanteren und teureren Weg der Selbstverteidigung einschlagen, wenn die USA bereit sind, für ihre Sicherheit zu sorgen? Vielleicht sind die jüngsten Anstrengungen der Verbündeten aber zum Teil auch der panische Versuch, Washington noch enger an die Region zu binden. 

All diesen Bemühungen liegt eine Hoffnung zugrunde: die Hoffnung, dass die USA willens sein werden, gegen China in den Krieg zu ziehen, wenn es darum geht, die Sicherheit ihrer asiatischen Verbündeten zu gewährleisten. Und falls die bereits genannten Gegenargumente nicht ausreichen, um Zweifel an der Entschlossenheit Washingtons zu schüren, ist da noch Russlands Krieg gegen Ukraine. In diesem Fall waren die USA zwar bereit, Waffen zu liefern, Sanktionen zu verhängen und diplomatische wie geheimdienstliche Unterstützung zu leisten. Die ernüchternde Realität – insbesondere für Taiwan – ist jedoch, dass die USA nicht bereit waren, ihre eigenen Streitkräfte zur Verteidigung eines Partners gegen eine nuklear bewaffnete Großmacht in den Kampf zu schicken. 


Eine multipolare regionale Ordnung

Langfristig bewegt sich Asien weg von einer US-Vormachtstellung und hin zu einer multipolaren regionalen Ordnung. Darin wird China eine führende Rolle einnehmen, so viel ist sicher. Ob die Volksrepublik das Geschehen jedoch auch dominieren wird, ist noch längst nicht ausgemacht und wird maßgeblich vom Rest der Region mitbestimmt werden. Für die Verbündeten und Partner der USA in Asien ist der hegemoniale Schutzschirm, unter dem man es sich seit dem Kalten Krieg gemütlich gemacht hatte, endgültig Geschichte. Das ­bedeutet aber nicht, dass China automatisch der neue Hegemon wird. Peking wird sich vor allem mit kleineren Ländern an seinen Grenzen arrangieren und versuchen, eine Einflusssphäre auf dem südostasiatischen Festland aufzubauen. Die Tatsache, dass Asien ein größtenteils maritimer Raum ist, begünstigt jedoch die Länder, die Chinas Einfluss einschränken wollen. Denn militärischer und politischer Einfluss ist schwieriger über große Distanzen und weite Meere zu projizieren. 

Angesichts dieser Rahmenbedingungen könnten sich in Asien konkurrierende Einflusssphären entwickeln: geografische Subregionen, in denen jeweils eine Großmacht dominiert. Im Nordosten Asiens haben die USA heute eine solche Sphäre etabliert. Doch Japan und Südkorea werden in Zukunft wohl sicherheitspolitische Schwerstarbeit leisten müssen, vielleicht sogar durch den Bau eigener Atomwaffen. Am wahrscheinlichsten ist ein solcher Schritt für Südkorea, weil es dort eine breite öffentliche Unterstützung für ein eigenes nukleares Abschreckungspotenzial gibt und Seoul bereits strategische Waffensysteme (U-Boot-gestützte ballistische Raketen) entwickelt hat, die mit atomaren Sprengköpfen ausgestattet werden können. Wenn es einen US-Verbündeten in Asien gibt, der sich bisher nicht wie ein aufgeschrecktes Känguru im Scheinwerfer­licht verhalten hat, dann ist es Südkorea. 

Der vielversprechendste Weg zu einem langfristigen Frieden in Asien ist ein Machtgleichgewicht auf der Grundlage verschiedener Einflusssphären, und in diese Richtung scheint die Region tatsächlich zu driften. Ohne ihren Anspruch auf regionale Hegemonie aufzugeben, haben die USA implizit akzeptiert, dass ihre Vormachtstellung nicht haltbar ist. Was jedoch längst nicht geklärt ist, ist die Frage der Grenzen: Wo endet der Einflussbereich der einen Seite und wo beginnt der der anderen? Zudem führt jede Diskussion über asiatische Geopolitik unweigerlich zu Taiwan, und hier ist die Frage der Grenzen offener denn je. Zu wessen Einflusssphäre gehört Taiwan? Die Antwort wird über das Schicksal der Region und die Sicherheit der Welt entscheiden. 

Aus dem Englischen von Kai Schnier              

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2024, S. 48-51

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Sam Roggeveen ist Direktor des Programms für internationale Sicherheit am Lowy Institute in Sydney. Sein 
Buch „The Echidna Strategy: Aus­tralia’s Search for Power and Peace“ erschien 2023.

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