Junges Potenzial, alte Versprechen
Das Potenzial der afrikanischen Jugend ist unbestritten groß. Mehr als fraglich ist jedoch, ob bestehende Maßnahmen, Strategien und Investitionen ausreichen, um es voll auszuschöpfen – und damit die Entwicklung des Kontinents voranzutreiben.
Wenn es um Afrika geht, sei es in Bezug auf sozioökonomische Transformationspläne oder demokratische Regierungsideale, dominiert ein Begriff: Potenzial. Er bildet die Grundlage für politische Empfehlungen, institutionelle Formationen und Entwicklungshilfeprogramme. Sogar in Diskursen, die vorherrschende Narrative und Vorurteile über den Kontinent infrage stellen, taucht der Begriff immer wieder auf.
Seit der Jahrtausendwende dreht sich die Diskussion über das Potenzial des Kontinents um seine demografischen Gegebenheiten: Afrika hat die jüngste Bevölkerung der Welt und wird in zehn Jahren die größte Erwerbsbevölkerung stellen. So ist es kaum verwunderlich, dass die afrikanische Jugend oft als wertvollste Ressource des Kontinents bezeichnet wird und das „Jugendpotenzial Afrikas“ im Mittelpunkt politischer und strategischer Planungen steht.
Es gibt einen breiten Konsens darüber, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um das vielbeschworene Potenzial zu nutzen: Erstens sollen Investitionen in Bildung Arbeitsplätze schaffen – sowohl durch Anstellung als auch durch Unternehmertum. Zweitens gilt es, junge Menschen sinnvoll in politische Entscheidungsprozesse einzubinden.
All dies ist eng verknüpft mit Bemühungen zur Bekämpfung extremer Armut, zur Verbesserung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung, zur Förderung von Frieden und Sicherheit sowie anderen Entwicklungsprioritäten Afrikas. Außerdem werden Jugend und Frauen gemeinsam betrachtet, wodurch Geschlechtergerechtigkeit stärker in den Fokus rückt und systematisch verankert wird.
Die Afrikanische Union hat sich in ihrer Entwicklungsagenda, der Agenda 2063, zum Ziel gesetzt, ein Afrika anzustreben, „dessen Entwicklung von den Menschen getragen wird, das auf das Potenzial der Afrikanerinnen und Afrikaner – insbesondere von Frauen und Jugendlichen – setzt und sich um seine Kinder kümmert“.
Zwar ist die afrikanische Jugend weder eine homogene Gruppe, noch sollten Trends und Entwicklungsfortschritte in Afrika verallgemeinert werden. Dennoch verdeutlichen die von der AU vereinbarten Strategien, Rahmenpläne und Chartas die politische Stoßrichtung.
So hat die Versammlung der Staats- und Regierungschefs, das höchste Entscheidungsorgan der Union, der AU-Kommission ein Mandat für die Arbeit zu Jugendfragen übertragen. Die Kommission versteht sich als zentrale Schnittstelle und Legitimationsquelle für die Aktivitäten von Regierungen, Entwicklungsorganisationen, Zivilgesellschaft, dem privaten Sektor und Jugendvertretern. Initiativen auf Ebene der AU durchbrechen außerdem die umstrittene Unterteilung des Kontinents in Subsahara- und Nordafrika, wie sie vor allem in der internationalen Entwicklungshilfe oftmals angewandt wird.
Größe Pläne fürs Potenzial
Nach zwei Jahrzehnten, in denen Afrikas Jugendpotenzial erfasst wurde, nehmen politische Positionen, Prioritäten und Investitionen immer mehr Gestalt an.
Ein strategischer Schwerpunkt im Bildungsbereich ist die Reform arbeitsmarktorientierter Berufsbildungssysteme (TVET). Entsprechende Programme, die praktische Fähigkeiten und technisches Wissen vermitteln, sollen nicht länger als letzte Option nach dem Scheitern anderer Bildungswege betrachtet werden, sondern als integraler Bestandteil eines umfassenden Systems der beruflichen Kompetenzentwicklung. Die TVET-Strategie berücksichtigt formale, nonformale und informelle Bildungswege in ganz Afrika und bettet sie in einen gemeinsamen Rahmen ein. Junge Menschen sollen so den sich wandelnden Anforderungen des Arbeitsmarkts besser gerecht werden – von der Landwirtschaft und der traditionellen Fertigung bis hin zu nachhaltigen und digitalen Industrien.
Übergeordnetes Ziel der Neuausrichtung arbeitsmarktorientierter Berufsbildungssysteme ist es, junge Menschen nicht nur auf die Arbeitssuche vorzubereiten, sondern sie auch zu befähigen, selbst Arbeitsplätze zu schaffen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder die Bedeutung des Unternehmertums betont, um das wirtschaftliche Potenzial der afrikanischen Jugend voll auszuschöpfen.
Das gängige Narrativ über junges Unternehmertum in Afrika zeichnet ein Bild grenzenloser Chancen, die es nur zu ergreifen gilt. Demnach möchten junge Menschen ihr eigener Chef sein, und ihre unternehmerische Energie wird als Lösung für Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung sowie als Formel für wirtschaftliches Wachstum angepriesen. Sie werden ermutigt – wenn nicht gar gedrängt –, ihre eigenen Arbeitsplätze zu schaffen, da traditionelle Beschäftigungswege immer unsicherer werden. Die rasante Verbreitung digitaler Technologien verstärkt diesen Trend zusätzlich.
Doch nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch bei der Förderung demokratischer Regierungsführung, insbesondere im öffentlichen Dienst, soll das Potenzial der jungen Generation in Afrika besser genutzt werden. Appelle, die Jugend als zukünftige Führungskräfte zu sehen, sind allgegenwärtig und haben bereits eine Welle von Initiativen ausgelöst – darunter Jugendfreiwilligenprogramme, Jugendbeiräte, Mentorenprogramme, Jugendsekretariate, Jugendquoten und die Ernennung eines AU-Jugendbeauftragten, der die Interessen junger Menschen in Afrika vertritt.
Wann beginnt das „Morgen“?
Kurzum: Die Rede vom „Potenzial der Jugend“ ist omnipräsent. Doch wann soll dieses Potenzial endlich genutzt werden? Dient der Fokus auf die Zukunft nur als Ablenkung von den dringend notwendigen Maßnahmen der Gegenwart? Wie und wann ziehen wir Bilanz über all das ungenutzte oder vergeudete Potenzial? Potenzial wird vor allem mit optimistischen Zukunftsaussichten assoziiert. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass ungenutztes Potenzial hohe Kosten verursachen kann.
In diesem Spannungsfeld zwischen möglichem Gewinn und Verlust entfaltet sich das komplexe Geflecht aus Entwicklungspolitik, politischen Entscheidungen und Investitionen. Genau hier gilt es den Durchblick zu behalten und zu erkennen: Worauf lässt sich aufbauen? Welche Reformen wirken und was muss verworfen werden? Welche Faktoren und Akteure tragen maßgeblich zu Fortschritten bei?
Antworten auf diese Fragen sind entscheidend, um die vorherrschende Wahrnehmung Afrikas als armer Kontinent zu durchbrechen und die Realität aufzuzeigen: dass seine Ressourcen, sowohl menschliche als auch natürliche, durch mangelhafte Verwaltung verschwendet werden.
Es ist einfach, das Potenzial junger Menschen zu loben. Die wahre Herausforderung besteht jedoch darin, es in der Gegenwart und nahen Zukunft zu nutzen, anstatt es immer weiter aufzuschieben. Phrasen wie „die Jugend ist die Führung von morgen“ lassen offen, wann dieses „Morgen“ tatsächlich beginnt.
Statt in einflussreichen Positionen mitzubestimmen, werden junge Menschen nur symbolisch einbezogen
Für viele junge und nicht mehr ganz so junge Menschen scheint es nie zu kommen, zumindest nicht rechtzeitig. In den Führungsetagen der Politik und des öffentlichen Sektors auf dem gesamten Kontinent ist diese große demografische Gruppe weiterhin nicht angemessen vertreten. Statt in einflussreichen Positionen mitbestimmen zu können, werden junge Menschen lediglich symbolisch in Entscheidungsprozesse einbezogen – man nennt das auch Tokenismus.
Hinzu kommt, dass Jugendangelegenheiten in den meisten afrikanischen Regierungen den Ressorts für Gender, Kunst, Kultur und Sport zugeordnet sind – Bereiche, die in der Praxis häufig als Sammelbecken für politisch nachrangige Themen dienen und für die im Staatshaushalt weniger Ressourcen vorgesehen sind.
Die langfristigen Folgen dieser Generationenkluft sind verheerend und werfen grundlegende Fragen zur politischen Zukunft Afrikas auf. Wie ein Bericht des AU-Jugendbeauftragten und des African Leadership Institute hervorhebt, geht es bei Reformen nicht nur darum, junge Menschen in politische und administrative Positionen zu bringen, sondern vielmehr um die Erneuerung und Umgestaltung des öffentlichen Sektors und der politischen Kultur in ganz Afrika unter Einbeziehung sogenannter „Change Agents“.
Auch im Hinblick auf das vielbeschworene Potenzial der Jugend für den afrikanischen Arbeitsmarkt fällt die Bilanz ernüchternd aus. Die afrikanischen Regierungen investieren weiterhin zu wenig in Bildung, auch wenn immer mehr junge Menschen mit einem höheren Bildungsniveau in den Arbeitsmarkt eintreten. Die Qualität und sogar der Zweck der Bildung bedürfen daher einer kritischen Auseinandersetzung und Neuausrichtung. Um Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, liegt der Fokus derzeit auf der Vermittlung „praktischer“, „marktfähiger“ oder „beschäftigungsfähiger“ Kompetenzen, während Soft Skills vernachlässigt werden.
Doch das eigentliche Problem ist weniger das Angebot an Kompetenzen und Qualifikationen als vielmehr die tatsächliche Nachfrage des afrikanischen Arbeitsmarkts. Immer weniger Industrien sind überhaupt in der Lage, das nachwachsende Talent aufzunehmen. Die Fertigungsindustrie ist auf dem gesamten Kontinent rückläufig, und obwohl die Beschäftigung im Dienstleistungssektor zunimmt, bestehen weiterhin erhebliche Hürden. Dazu zählen unter anderem Mindestanforderungen an Berufserfahrung, die junge Menschen sogar von Einstiegsjobs ausschließen, sowie die Automatisierung. Diese Faktoren erschweren ein kontinuierliches und nachhaltiges Branchenwachstum, das notwendig wäre, um die stetig steigende Zahl von Fachkräften aufzunehmen.
Gründungen sind kein Allheilmittel
Ähnlich ist die Lage beim Unternehmertum: Obwohl es theoretisch als vielversprechender Ansatz zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung gilt, bleibt das Potenzial in der Praxis weitgehend ungenutzt.
Ein zentrales Hindernis für junge afrikanische Gründer ist das schwierige operative Umfeld, das von politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Dynamiken beeinflusst wird – auf der lokalen, regionalen sowie globalen Ebene. So konzentrieren sich Investitionen in Afrika infolge der Globalisierung bis heute hauptsächlich auf Rohstoffgewinnung.
Unternehmertum allein reicht nicht aus, um tief verwurzelte strukturelle Probleme auszugleichen
Darüber hinaus hemmt die Fixierung des afrikanischen (Jung-)Unternehmertums auf Kleinst-, Klein- und mittlere Unternehmen das Streben nach höheren Ambitionen. Wie zahlreiche Entwicklungsberichte feststellen, erfordert Wirtschaftswachstum eine kontinuierliche Expansion von Unternehmen – und nicht nur eine Vielzahl kleiner Betriebe.
Leider ist das afrikanische Unternehmertum weniger auf Innovation und Wachstum ausgerichtet als vielmehr auf Überlebensstrategien und die Belieferung von Regierungen und Großunternehmen. Damit sollen die in verschiedenen Sektoren verzeichneten Erfolge, vor allem der Aufstieg von Fintech- und anderen Technologieunternehmen auf dem Kontinent, nicht in Abrede gestellt werden; sie bleiben aber eher die Ausnahme als die Regel.
Eine ehrliche Auseinandersetzung mit all diesen Herausforderungen, vor denen junge afrikanische Unternehmer stehen, scheitert auch an der mangelnden Vorstellungskraft in (entwicklungs-)politischen Kreisen. Hier scheint man sich darauf festgelegt zu haben, dass fehlende Kompetenzen das Hauptproblem seien und dass junge Menschen im formellen Sektor ohnehin keine Arbeitsplätze finden können.
Die daraus abgeleiteten Empfehlungen konzentrieren sich auf einen Ausbau der Investitionen in Qualifikationen, Mentoring und Kapazitäten. Dies führt zu einer Romantisierung des Unternehmertums und einem Teufelskreis der ständigen Weiterbildung. Mikrokredite sowie kleine und mittlere Fördermittel, die oft einen hohen Aufwand erfordern, um sie zu finden, zu beantragen und die Anforderungen zu erfüllen, verstärken diese Dynamik noch.
Verschleiert werden dadurch strukturelle Probleme wie ungleicher Marktzugang, mangelhafte und ungeeignete Finanzierungsstrukturen sowie regulatorische Hürden. Diese Hindernisse hemmen die Skalierbarkeit, das Wachstum und das Überleben von Unternehmen. Betroffen sind davon alle Wirtschaftszweige für junges Unternehmertum – von der Landwirtschaft über das verarbeitende Gewerbe bis hin zur digitalen Wirtschaft.
Unternehmertum allein reicht nicht aus, um tief verwurzelte strukturelle Probleme und politische Fehlentscheidungen auszugleichen. Es ist trügerisch, von jungen Menschen zu erwarten, dass sie diese komplexen Herausforderungen auf magische Weise überwinden können.
Potenzial ist leicht zu erkennen, aber nicht so leicht zu realisieren. Das gilt für den Einzelnen und erst recht für eine so große und vielfältige Bevölkerungsgruppe wie die afrikanische Jugend. Um die Lücke zwischen Potenzial und dessen Verwirklichung zu schließen, bedarf es auch der Zusammenarbeit mit internationalen Partnern der Entwicklungszusammenarbeit wie Deutschland, die erheblich in afrikaweite und länderspezifische Initiativen investieren. Die treibende Kraft für Reformen muss aber die afrikanische Jugend mit ihrem Wissen, ihren Ideen und Lösungsansätzen sein.
Aus dem Englischen von Hannah Lettl
Internationale Politik Special 2, Mai 2025, S. 35-39
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