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25. Juni 2018

Jetzt mal ehrlich!

Parteien müssen aufhören, mit dem Souveränitätsmythos zu spielen

Deutschlands Parteien formulieren viele Politik­ansätze auf der Basis einer überholten Annahme – dass die Bundesrepublik stets souverän handlungsfähig ist. Dass dem nicht so ist, ­müssen die Parteien ihren Wählern offen sagen. Sonst lassen sich weder Lösungen für aktuelle Herausforderungen finden noch der Populismus bekämpfen.

Im März 2018 forderte Jochen Bittner an dieser Stelle Europas Sozialdemokratie, insbesondere aber die SPD, zu einem „ehrlichen intellektuellen ­Kassensturz“ auf (IP 2/2018, S. 72 ff.). Er wirft ihr eine „Flucht in den supranationalen Fanatismus“ vor und konstatiert zwei angebliche Widersprüche, in die sich die Partei verwickelt habe: offene Grenzen versus Sozialstaat sowie Supranationalität versus Demokratie.

Um diese Widersprüche aufzulösen, empfiehlt Bittner der SPD, eine Gegenwartsanalyse durchzuführen. Dabei übersieht er jedoch, dass nicht nur die SPD betroffen ist. Alle im Bundestag vertretenen Parteien machen überholte Annahmen und politische Mythen der Vergangenheit zur Grundlage ihres politischen Handelns und verstellen damit den Weg für eine zukunftsgerichtete Politik. Das wird besonders deutlich, wenn es um Politikfelder geht, die nur noch vermeintlich nationales Hoheitsgebiet sind, in denen Nationalstaaten also längst nicht mehr alleine handlungsfähig sind – wie die Migrations- und Asylpolitik.

Politische Allheilmittel

So beharrt die CSU auf einer starren Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen, auf Zurückweisung an der deutschen Grenze und Ankerzentren als Allheilmittel gegen die so genannte „Flüchtlingskrise“. Damit provozierte sie Mitte Juni eine handfeste Regierungskrise, während Bundeskanzlerin Angela Merkel weiter auf eine Einigung im EU-Rahmen setzte. Aber auch in der CDU glauben viele, man bekäme das Problem damit in den Griff, bestimmte Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären.

Auch Parteien des linken Spektrums klammern sich lieber an vereinfachende Grund­annahmen als sich an der Realität zu orientieren: So fordert Die Linke in ihrem jüngsten Wahlprogramm 2017 offene Grenzen für Schutzsuchende und eine freie Wahl für Geflüchtete, in welches Land sie einwandern möchten. Zusätzlich werden Abschiebungen kategorisch abgelehnt. Wie ein Sozialstaat diese Politik verkraften und den Überblick über die hier lebenden Menschen behalten soll, wird nicht erklärt. Kurz: Die Gegenwartsanalyse, die Bittner zu Recht von der SPD fordert, haben alle Parteien nötig.

Darüber hinaus bleibt Bittner etwas schuldig: eine konstruktive Anleitung zur geforderten Gegenwartsanalyse. Deshalb wollen wir das Argument von Bittner weiterentwickeln: Was braucht es für eine Gegenwartsanalyse und wo sollte sie ansetzen?

Deutschland ist keine Insel

Nationale Souveränität im politischen Kontext besagt im Wesentlichen, dass Nationalstaaten alleine handlungsfähig und nicht auf die ­Kooperation mit anderen Staaten angewiesen sind. Das Festhalten an dieser Idee und dem damit verbundenen Ansatz, dass man mit nationalen Lösungen den politischen Herausforderungen unserer Zeit begegnen kann, bezeichnen wir als „Souveränitätsmythos“. Genau hier sollte Bittners geforderte Gegenwartsanalyse beginnen.

Der Souveränitätsmythos wird insbesondere in Politikfeldern angewendet, die heutzutage ehrlicherweise nur noch international betrachtet werden können. Besonders eklatant ist die gegenseitige Abhängigkeit aller EU-Mitgliedstaaten und ihren internationalen Partnern in der Asyl- und Migrationspolitik sowie in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Aber auch bei der Handels-, Umwelt- und Energiepolitik ist Deutschland keine Insel.

Die EU in Sonntagsreden als alternativlos und Teil der deutschen DNA zu beschwören, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel es viele Jahre im Kontext der Asyl- und Migrationspolitik getan hat, reicht nicht mehr. Die Parteien müssen endlich transparent machen, dass Deutschland nicht mehr alleine handlungsfähig ist.

Die Parteien müssen die Bürgerinnen und Bürger schonungslos mit unbequemen Wahrheiten konfrontieren. Dazu gehört auch, einzugestehen, dass Parteien in manchen Politikfeldern praktisch keine Lösungen mehr anbieten können, die ohne internationale Partner umsetzbar sind. Sie sind auf die Kooperation mit anderen Staaten angewiesen. Diese Offenheit mag kurzfristig Wählerstimmen kosten. Langfristig würde sie jedoch zu einer aufrichtigeren Kommunikation der Parteien führen und somit das von Bittner zu Recht kritisierte Gefühl der Entfremdung zwischen Bürgern und Politik verringern.

Paradebeispiel für eine vom Souveränitätsmythos geprägte Debatte ist die um die deutsche Asyl- und Migrationspolitik. Das politische Narrativ, das sich im Umgang mit der „Flüchtlingskrise“ hierzulande durchgesetzt hat, ist ein durch und durch nationales. Die Bundesregierung hatte sich lange nicht um stabile europäische Mechanismen bemüht und ganz im Sinne des Souveränitätsmythos so getan, als ob die Staaten der europäischen Peripherie wie Griechenland und Italien mit dieser Herausforderung alleine zurechtkämen.

Im Sommer 2015 fiel der Bundes­regierung diese Herangehensweise auf die Füße. Seitdem verläuft die politische Diskussion in Deutschland aber dennoch fast ausschließlich unter der – falschen – Prämisse, man könne die Herausforderung auf nationaler Ebene meistern. Lösungen in der Asyl- und Migrationspolitik liegen aber nicht im ­Nationalen. Deutschland ist in seinem Handeln schlicht kein souveräner Akteur mehr. Kein EU-Mitgliedstaat kann alleine Menschen davon abhalten, vor tödlichen Konflikten zu fliehen oder sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf den Weg zu machen. Auch kann kein EU-Staat die europäischen Außengrenzen alleine schützen oder sich der Entwicklung einer europäischen Migrations- und Integrationspolitik entziehen, auch wenn oft so getan wird – Versuche in diese Richtung waren stets kontraproduktiv.

Ebenso folgenreich ist der Souveränitätsmythos in der Sicherheitspolitik. Der Abbau des Militärs in vielen EU-Mitgliedstaaten seit Ende des Kalten Krieges hat zu sicherheits- und verteidigungspolitischen Abhängigkeiten geführt, sowohl gegenüber den USA als auch untereinander. Diese Abhängigkeiten waren politisch gewollt; sie werden heute aber nicht mehr ehrlich behandelt und kommuniziert.

Keine Partei in Deutschland traut sich, den Bürgerinnen und Bürgern mit aller Offenheit zu sagen, dass wir sicherheits- und verteidigungspolitisch abhängig von unseren europäischen Partnern, in erster Linie aber von den USA sind. Stattdessen wird nationale beziehungsweise europäische Autonomie suggeriert. In Reaktion auf die NATO-kritischen Äußerungen von US-Präsident Donald Trump und die Aufforderung, mehr Geld in Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu investieren, haben die EU-Mitgliedstaaten sich verstärkt um die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik gekümmert.

Herausgekommen sind aber Ins­trumente, die sicherheits- und verteidigungspolitische Souveränität nur suggerieren. Bisher stehen sie also für nichts mehr als für die Verlagerung des Souveränitätsmythos von der nationalen auf die europäische Ebene. Das Beharren auf dem Souveränitätsmythos verhindert nicht nur lösungsorientierte Politikvorschläge, sondern zahlt auch auf das Konto populistischer, antieuropäischer Kräfte ein.

Richtige Fragen

Laut dem amerikanischen Politikwissenschaftler Charles Kupchan stellen populistische Parteien häufig die richtigen Fragen, geben aber die falschen Antworten. Die anderen, nichtpopulistischen Parteien müssen sich ebenfalls trauen, die Fragen, die die Bürgerinnen und Bürger umtreiben, zu stellen und sich öffentlich mit ihrer konstruktiven Beantwortung auseinanderzusetzen. Dabei müssten sie den Wählern allerdings reinen Wein einschenken und internationale Abhängigkeiten ehrlich benennen. Kurzum, sie müssten sich vom Souveränitätsmythos verabschieden.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist der Antrag „Umfassende Grenzkontrollen sofort einführen – Zurückweisung bei unberechtigtem Grenzübertritt“ der Bundestagsfraktion der Alternative für Deutschland. Darin fordert die AfD, Migranten auch dann zurückzuweisen, wenn sie sich „auf Verfolgung oder Schutzgründe“ berufen. Während die Forderung ein Paradebeispiel für den Souveränitätsmythos ist, stellt die AfD eine richtige Frage – nämlich im Grundsatz die danach, wie mit den weitgehend ungeschützten EU-Außengrenzen umgegangen werden soll. Ebensolche Fragen zu stellen und hart und konstruktiv zu debattieren, sollte für die anderen Parteien kein Tabu sein. Dies ist aufgrund des Festhaltens am Souveränitätsmythos bislang jedoch nicht möglich. So lässt sich weder lösungsorientierte Politik machen noch der Populismus effektiv bekämpfen – von der Rückgewinnung verlorengegangenen Vertrauens ganz zu schweigen.

Für die Parteien wird der Abschied von nationalen Scheinlösungen ein programmatischer und struktureller Kraftakt, der nicht zu unterschätzen ist. Denn wenn Politik nicht mehr rein national gedacht werden kann, muss dies auch personell und organisatorisch reflektiert werden. Damit neue Ideen und talentiertes Personal ihren Weg in die Parteien finden, bedarf es neuer Anreize, sodass Parteiarbeit ohne jahrelanges Engagement in den Ortsverbänden möglich wird.

Wie neue Ideen und neues Personal in die Parteiarbeit eingebunden werden können, wird derzeit in Parteizentralen intensiv diskutiert. Dieser Prozess der Veränderung sollte von den Parteien ernst genommen und mit der notwendigen Ehrlichkeit vorangetrieben werden.

Laura Krug ist Büroleiterin der ­Direktorin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Linda Radau ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem Abgeordnetenbüro des Deutschen Bundestags.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2018, S. 102 - 105

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