Jausenstation statt Dauerquartier?
In Österreichs Hauptstadt wird die Flüchtlingskrise in die Bahnhöfe verbannt
Wer in diesem Herbst durch Wien flaniert, spürt wenig von der europäischen Flüchtlingskrise. Es ist eher die Masse der Touristen, die einem ins Auge sticht, weil sie die Kaffeehäuser füllen oder sich in Busladungen schon am frühen Morgen vor dem Hundertwasser-Haus versammeln. Auch das Sprachengewirr in der U-Bahn ist neben dem vertrauten Wienerisch eher von Serbokroatisch, Englisch oder Russisch durchzogen als von Arabisch oder Farsi.
Aber es gibt auch in Wien eine Nebenrealität, deren Kontrast zum normalen Stadtleben umso größer wirkt. Sie konzentriert sich seit Wochen auf die beiden Fernreisebahnhöfe der Stadt, den Westbahnhof und den im Süden neu gebauten Hauptbahnhof. Anfang September glichen die Bilder aus der österreichischen Hauptstadt denen aus München. Auf den Bahnsteigen am Westbahnhof hießen die Wiener über Wochen Tausende von Flüchtlingen willkommen. Ehrenamtliche Helfer verteilten Wasser, Obst und Müsliriegel, über die sozialen Netzwerke wurde tatkräftige Unterstützung organisiert. Wien zeigte sich von seiner besten Seite.
Bei vielen Bürgern saß der Schock noch tief, nachdem man Ende August südlich der Hauptstadt in einem Laster die teilweise verwesten Leichen von 70 Flüchtlingen gefunden hatte. Der grausige Fund machte die Flüchtlingsfrage auch in Österreich endgültig zum wichtigsten politischen Thema der Saison.
Viele junge Wiener stießen zu den freiwilligen Helfern an den Bahnhöfen dazu. „Ich habe Anfang September nur Wasser vorbeigebracht und bin dann hängengeblieben“, erzählt die 21-jährige Studentin Lena Brody. „Mein Leben dreht sich seither nur noch um den Bahnhof.“ Eigentlich studiert Brody Internationale Beziehungen, aber es ist ihr gerade wichtiger, praktischzu helfen. Sie gehört zum Koordinatorenteam am Hauptbahnhof, das dort seit Wochen die Infrastruktur für die Flüchtlinge ehrenamtlich organisiert.
Unterhalb von Gleis 9 campieren Hunderte erschöpfter Menschen in den Gängen, es riecht nach Schweiß und abgestandener Luft. Am Hydranten waschen sich einige Männer, Kinder spielen mit Seifenblasen. Aber das scheinbare Chaos ist gut gemanagt. Die Menschen haben warme Decken, es gibt eine medizinische Anlaufstelle, Essen wird ausgegeben und die längste Schlange bildet sich vor dem Stand der Anwälte.
„Dass die Wiener Gesellschaft so hilft, hätte man nicht gedacht“, freut sich der Wiener Schauspieler Giora Seelinger. Er ist häufig am Bahnhof, weil sein Verein „Rote Nasen“ täglich Clowns zu den Flüchtlingskindern schickt. Der gebürtige Israeli ist international erfahren, seine Clown-Initiative reist in syrische Flüchtlingslager in Jordanien und hat schon im Bosnien-Krieg versucht, das seelische Leid der Menschen mit Humor zu lindern.
Aber Seelinger ist auch Realist, der sich von dem eindrucksvollen Engagement am Bahnhof über gesellschaftliche Realitäten nicht täuschen lässt. „Hier sehen wir die Guten, aber man vergisst leicht, wo die schweigende Mehrheit steht“, sagt er und verweist auf die steigende Zustimmung für die rechte FPÖ, die offen gegen die liberale Flüchtlingspolitik hetzt. Bei der jüngsten Landtagswahl konnten die Rechtspopulisten das Wiener Rathaus nicht erobern, gehörten aber mit über 30 Prozent zu den Wahlgewinnern. Dabei profitieren sie offenkundig auch von der Flüchtlingsdebatte.
Dabei sind die meisten Flüchtlinge in Wien auf der Weiterreise, nur eine Minderheit bleibt. „Es ist ein Unterschied, ob wir Jausenstation für Durchreisende sind oder Dauergäste aufnehmen“, formulierte es der Wiener Bürgermeister Michael Häupel (SPÖ) treffend. Doch obwohl -viele Flüchtlinge durchgewinkt werden, spricht sich auch unter den Ankommenden langsam herum, dass die -soziale Grundversorgung in der Alpenrepublik deutlich höher ausfällt als das deutsche Hartz IV. Österreich rechnet in diesem Jahr mit 80 000 Asylverfahren; das wäre im Verhältnis zur Bevölkerung eine Größenordnung wie in Deutschland.
Aus Sicht der Wiener Schriftstellerin Julya Rabinowich, die sich für die Flüchtlinge engagiert, ist deshalb das Gastland aufgefordert, auf die Sorgen in der Bevölkerung einzugehen und im Zweifelsfall auch Grenzen aufzuzeigen. Die Kolumnistin ist selbst als Kind aus Russland eingewandert und stand später jahrelang tschetschenischen Flüchtlingen als Dolmetscherin zur Seite. Rabinowich beobachtet, dass sich in Wien selbst auf der Linken die Sorge artikuliert, wie sich die Ankunft der überwiegend muslimischen Flüchtlinge auswirken könnte. „Frauen fürchten einen Rückschritt wegen importierter Frauenfeindlichkeit und Juden einen wachsenden Antisemitismus“, sagt die Schriftstellerin. Gleichzeitig ist sie optimistisch, dass ihre Heimatstadt auf bewährten Traditionen aufbaut, um die Einwanderer integrieren zu können. „Dank der Gemeindebauten, die in der ganzen Stadt verteilt sind, kennt Wien keine Ghettobildung“, sagt Rabinowich. Zwar seien die Arbeiterbezirke stärker von Migranten geprägt als die bürgerlichen Bezirke. „Aber es gibt in Wien keine No-go-Areas.“
Gemma Pörzgen ist freie Journalistin in Berlin. Sie ist in diesem Herbst Milena Jesenska Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 122-123