IP Special

26. Juni 2023

Japans 
Transformation

In Tokios Wahrnehmung verbinden sich die strategischen Schauplätze in Europa und Asien. Russlands Krieg gegen die Ukraine beschleunigt Japans Verteidigungsanstrengungen und die fundamentalen Veränderungen seiner strategischen Kultur.

Bild
Bild: Der japanische Premierminister Fumio Kishida zu Besuch beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj
Es geht Japan um die Bedrohung der internationalen Ordnung durch Russlands Angriffskrieg: Premierminister Fumio Kishida zu Besuch beim ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Kiew, 21. März 2023.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

Ebenso wie frühere große Konflikte in Europa macht sich auch Russlands Krieg gegen die Ukraine weit jenseits der Grenzen des Kontinents bemerkbar, denn er verschärft die globalen Verwerfungen und heizt Spannungen in zahlreichen Regionen an. Besonders deutlich wird dies in Asien, wo das aufstrebende China seinen Einfluss auszuweiten sucht. Die Art, wie Peking seine Besitzansprüche auf Taiwan mit wachsender Aggressivität vorantreibt, weckt in der gesamten Region die Angst vor destabilisierenden Veränderungen des Status quo und sogar vor Krieg.



Japan fühlt sich diesen globalen geopolitischen Turbulenzen besonders stark ausgesetzt. In seinem Westen liegen drei Staaten, die Japan tatsächlich oder potenziell feindlich gesinnt sind: Russland, mit dem Japan im Territorialstreit liegt (die bilateralen Verhandlungen darüber sind seit Beginn des Ukraine-Krieges eingefroren); Nordkorea, das die Entwicklung von Massenvernichtungswaffen vorantreibt und Raketentests in Richtung Japan durchführt; und China, mit dem Japan ebenfalls um Gebiete streitet. Immer häufiger unterstreicht Peking seine Ansprüche durch aggressive Maßnahmen wie dem neuen chinesischen Küstenwache­gesetz und durch andere Grauzonenaktivitäten.



Chinas Drohungen gegen Taiwan und sein Programm zur raschen Modernisierung des Militärs verstärken die Bedrohung noch. Auch die „grenzenlose Freundschaft“, die sich seit der russischen Invasion der Ukraine zwischen Peking und Moskau herausbildet, verschärft Tokios strategische Sorgen. Bereits seit mehreren Jahren führen China und Russland gemeinsame Luft- und See­patrouillen in der Nähe Japans durch; auch in Atomfragen kooperieren beide. Zu dieser explosiven Mischung kommen nun noch die Berichte über eine Zusammenarbeit zwischen Russland und Nordkorea, in denen auch von Waffenlieferungen von Pjöng­jang an Moskau die Rede ist.



Tokio hat also gute Gründe, von einer Verbindung zwischen den strategischen Schauplätzen in Europa und Asien auszugehen. Anfang Juni 2022 warnte der japanische Ministerpräsident Fumio Kishida: „Die Ukraine von heute kann das Ostasien von morgen sein.“ Die Verbindung, die Ki­shida zwischen der europäischen und asiatischen Sicherheit herstellte, unterstrich er durch seine Teilnahme am NATO-Gipfel in Madrid Ende Juni 2022, der ersten eines japanischen Ministerpräsidenten, und durch einen Besuch in Kiew im März 2023, der ersten Reise eines japanischen Ministerpräsidenten in ein Kriegsgebiet seit 1945. Beides spiegelt zum Teil die Besorgnis Tokios in Bezug auf Taiwan. Aber zugleich geht es Japan um die Bedrohung der internationalen Ordnung durch Russlands illegalen Krieg gegen die Ukraine.



Aus diesen Erwägungen heraus handelte Tokio rasch, um der Ukraine konkrete Unterstützung zu leisten, soweit dies im Rahmen seiner gesetzlichen Einschränkungen möglich war. So stellte Japan der Ukraine seit Kriegsbeginn Hilfen im Umfang von etwa 6,2 Milliarden Euro zur Verfügung, vor allem in Form von humanitärer Hilfe. Das ist nur etwas weniger als Deutschland (7,4 Milliarden) und deutlich mehr als Frankreich (1,7 Milliarden Euro). Tokio schloss sich auch der von den G7 angeführten, breit angelegten Sanktionskoalition gegen Russland an, die sich unmittelbar nach Beginn der Invasion bildete. Allerdings gibt es eine wichtige Ausnahme: Japan hält (bislang) an seinen Verbindungen zu Russland im Energiesektor fest und nimmt weiter am Flüssiggas-Projekt Sachalin 2 teil. Der Grund ist, dass Japan in Sachen Energiesicherheit unter den G7-Ländern besonders verletzlich ist.



Japans neue Sicherheitsstrategie

Wie tiefgreifend die strategische Transformation Japans ist, zeigt sich an seiner neuen Nationalen Sicherheitsstrategie (NSS) und zwei damit zusammenhängenden Dokumenten, der Nationalen Verteidigungsstrategie und dem Programm zum Aufbau der Verteidigung, die die Regierung Kishida im Dezember 2022 vorlegte. Ähnlich wie Deutschland hat auch Japan erst vor Kurzem damit begonnen, seine Nationale Sicherheitsstrategie in offiziellen Dokumenten auszuformulieren. Dies war erst Japans zweite NSS; die erste war zu Beginn von Premierminister Shinzo Abes zweiter Regierung (2012–2020) im Dezember 2013 veröffentlicht worden.



Die neuen Dokumente beschreiben eine entschiedene Abkehr von der sogenannten Yoshida-Doktrin, die Japans Verteidigungspolitik der Nachkriegszeit bestimmt hatte. Solange sie galt, blieb Japan nur leicht bewaffnet, wodurch es seine Ressourcen auf die wirtschaftliche Entwicklung richten konnte; es war aber auf den militärischen Schutz der USA angewiesen. Der strukturelle Auslöser für die Abkehr von der Yoshida-Doktrin liegt in der schon seit Längerem spürbaren Besorgnis wegen des von China ausgehenden Risikos. Doch zeigt die Ausführlichkeit, mit der in der neuen Strategie auf Russlands Einmarsch in die Ukraine eingegangen wird, dass Tokios strategische Entwicklung von einem immer breiteren Spektrum von Faktoren vorangetrieben wird.



Insbesondere sucht die neue NSS, die Rolle Japans innerhalb der US-Sicherheitsallianz zu stärken, um die Glaubwürdigkeit der ­Abschreckungsfähigkeiten der Allianz im indopazifischen Raum zu erhöhen. Deswegen verlangt die neue Strategie, Japan müsse „fähig sein, die primäre Verantwortung dafür zu tragen, eine Invasion zu stören und abzuwehren“. Mit der NSS verpflichtet sich Japan, Raketenfähigkeiten für einen möglichen Gegenschlag zu erwerben, allerdings mit der Auflage, sie nicht zum Erstschlag einzusetzen. Außerdem soll es eine „aktive Cyberverteidigung“ einführen.



Mit Blick auf die aus der Nachkriegszeit tradierten Normen Japans sind dies bahnbrechende Entscheidungen. In diesem Zusammenhang sieht die Strategie auch Maßnahmen vor, um die japanische Verteidigungsindustrie widerstandsfähiger zu machen: Verwundbare Infrastrukturen sollen verstärkt, Kooperationen mit ausländischen Rüstungsfirmen (wie das vor Kurzem angekündigte Global Combat Air Programme von Japan, Großbritannien und Italien) genutzt und, so wie es Deutschland bereits getan hat, Einschränkungen bei Rüstungsexporten gelockert werden. So wie Scholz versprach, die deutschen Verteidigungsausgaben über den NATO-Richtwert von 2 Prozent des BIP hinaus zu erhöhen, enthält auch das japanische Programm zum Aufbau der Verteidigung eine Verpflichtung, die Verteidigungsausgaben von der bisherigen, selbst auferlegten Obergrenze von 1 Prozent auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen. Um das zu erreichen, sollen vom Fiskaljahr 2023/24 bis zum Fiskaljahr 2027/28 insgesamt 4,3 Billionen Yen (321 Milliarden US-Dollar) ausgegeben werden. Damit würde das japanische Verteidigungsbudget zum drittgrößten der Welt, übertroffen nur von den USA und China.

Neben der verbesserten militärischen Abschreckung zielt Tokios neue Sicherheitsstrategie darauf ab, die diplomatische und geoökonomische Macht des Landes und auch die jüngst entwickelte Wirtschaftssicherheitspolitik zu nutzen, um, in den Worten der Regierung, „umfassende nationale Macht“ einsetzen zu können. Diese definiert sich weitgehend als Antwort auf die „umfassende“ Bedrohung durch China. Wichtig ist aber auch, die eigene Widerstandsfähigkeit in Sachen Energie, Lebensmittel und Hochtechnologie zu stärken. Außerdem hat Tokio vor Kurzem Leitlinien für die offizielle Sicherheitsunterstützung veröffentlicht, die in Ergänzung der traditionellen Entwicklungshilfe die militärischen Fähigkeiten gleichgesinnter Länder stärken soll. Hier wird das Konzept der „umfassenden nationalen Macht“ deutlich. Für Japan, das anderen Ländern bisher auf keinen Fall Hilfe für militärische Zwecke leisten wollte, bedeutet auch dies einen Bruch.



Insgesamt jedoch beschreiben Kishi­das Reformen für Japan weniger eine Zeitenwende denn die beschleunigte Weiterverfolgung von Veränderungen, die bereits Vorgänger Shinzo Abe auf den Weg gebracht hatte. Dessen zentrale institutionelle und gesetzgeberische Reformen waren darauf ausgerichtet, die japanische Verteidigungsbereitschaft zu stärken. Zwei Schritte verdienen besondere Aufmerksamkeit: Zum einen wurde im Dezember 2013 ein Nationaler Sicherheitsrat unter Vorsitz des Ministerpräsidenten eingerichtet, was eine von Japans wichtigsten institutionellen Reformen seit 1945 ist. Zum anderen verabschiedete das Parlament 2015 ein Gesetz, um den Einsatz der Selbstverteidigungsstreitkräfte (wie Japans Militär heißt) im Ausland zu ermöglichen und die Verteidigungszusammenarbeit mit den USA zu intensivieren.



Doch so grundsätzlich sich die strategische Haltung Japans verändert hat – die Umsetzung in die Praxis bleibt, ebenso wie bei Scholz’ Zeitenwende, eine große Herausforderung. Unter den reichen Ländern hat Japan die mit Abstand schwächsten Staatsfinanzen. 2022 entsprach die staatliche Gesamtverschuldung 255 Prozent des BIP; bis 2028 wird sie nach Einschätzung des Internationalen Währungsfonds auf 264 Prozent steigen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 67 beziehungsweise 60 Prozent des BIP. Die japanische Öffentlichkeit unterstützt die Sicherheitsreformen zwar grundsätzlich, ist aber laut Umfragen wenig gewillt, Steuererhöhungen zur Finanzierung dieser Reformen mitzutragen. Zudem braucht es Zeit, um die normativen Vorbehalte bei einigen der japanischen Wissenschaftler zu überwinden, die bisher vor militärischer Forschung und Entwicklung zurückscheuen, auch wenn Tokio dies in der neuen NSS ausdrücklich als Ziel formuliert hat.



Japan als Vorbild?



Deutschland ist für Japan in gewisser Weise ein Vergleichsmodell; dafür sorgen die geschichtlichen Parallelen, was den Militarismus beider Länder im 20. Jahrhundert und ihre strategische Zurückhaltung in der Nachkriegszeit anbelangt. Aber es gibt auch große Unterschiede. So verfügt Deutschland durch seine NATO-Mitgliedschaft über vielfältige Netzwerkbeziehungen, während für Japan die USA der alleinige formelle Verbündete sind. Trotzdem liefert der tiefgreifende Wandel in Japans strategischer Kultur ein wichtiges Beispiel für Deutschland: das einer anderen großen Mittelmacht, die versucht, die regelbasierte Ordnung angesichts der immer drängenderen Herausforderungen des Status quo durch Russland, China und andere Länder zu stützen und zu gestalten.



Aus dem Englischen von Bettina Vestring    

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 47-50

Teilen

Robert Ward ist Japan Chair des International Institute for Strategic Studies (IISS).