Titelthema

08. Aug. 2025

Israels verhängnisvolle Variante von „Frieden durch Stärke“

Die Netanjahu-Regierung setzt allein auf militärische Macht und ignoriert die Diplomatie – ein strategischer Irrweg mit fatalen Folgen.

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Bild: Rauchwolke über Damaskus nach einem israelischen Angriff auf Syrien
Israels Politik ist auf kurzfristige militärische Operationen fixiert, wie den Luftangriff auf das syrische Verteidigungsministerium im Juli 2025. Versuche einer politischen Annäherung gibt es hingegen nicht.
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Das Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 und die anschließenden israelischen Militäroperationen in Gaza, im Libanon, in Syrien und im Iran haben nicht nur die politische Landschaft im Nahen Osten verändert – sie haben auch Israels Rolle in der Region neu definiert. Fast zwei Jahre nach dem Angriff der Hamas hat Israel seinen Status als Militärmacht zementiert und demonstriert, dass es in der Lage ist, die politische Realität durch Waffengewalt zu bestimmen. Gleichzeitig agiert die rechte Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu konfrontativ und zeigt keine Bereitschaft zu diplomatischen Initiativen – geschweige denn zu einer Beendigung der militärischen Auseinandersetzungen, an denen Israel beteiligt ist. Das führt dazu, dass sie ihre vorübergehenden militärischen Erfolge nicht in tragfähige politische Veränderungen übersetzen kann.

Netanjahus Streben nach einem „vollständigen Sieg“ in Gaza ist dabei mehr als nur eine verpasste Chance. Der extremen Rechten innerhalb der israelischen Regierung hat dieses Ziel eine Plattform geboten, um ihre destruktive und unmoralische Agenda – inklusive Annexion und Vertreibung – voranzubringen. Zudem hat die Illusion eines wie auch immer gearteten Sieges über die Hamas zu noch mehr militärischer Eskalation geführt. Auch weil die israelische Regierung sich weigert, tragfähige politische Alternativen zur Herrschaft der Hamas zu diskutieren. Dieser Ansatz hat letztendlich dazu beigetragen, dass Israel heute nicht nur strategisch und diplomatisch, sondern auch moralisch auf dem Irrweg ist – und diese Entwicklung verschärft sich täglich. 

Die Folgen des 7. Oktober haben Israels jahrzehntelangem Ansatz des Konfliktmanagements ein Ende gesetzt. In dieser passiven Strategie, die weder den Aufstieg der Hamas noch der Hisbollah verhindern konnte, sehen viele Israelis den Grund für den verheerenden Terrorangriff. Mit einem proaktiven Ansatz, der Bedrohungen vernichtet, anstatt sie einzudämmen, will die Regierung diesen Fehler korrigieren. Das zeigt sich in allen israelischen Militär­operationen – sei es gegen die Hisbollah, den Iran oder die Hamas im Gazastreifen.

Die Logik dieses Vorgehens ist jedoch eine komplett militärische. Von politischen oder diplomatischen Initiativen, die diesen Ansatz ergänzen oder rechtfertigen könnten, fehlt jede Spur. Abgesehen von den Beziehungen zur US-Regierung – und speziell zu Donald Trump – hat die Netanjahu-Regierung auf diplomatischer Ebene sehr wenig zu bieten. Ihre extremen Positionen schließen ein sinnvolles politisches Engagement nahezu aus. Ein Blick auf die jüngsten Entscheidungen Israels verdeutlicht das krasse Ungleichgewicht zwischen kurzfristigem militärischen Aktivismus und fast vollständiger politischer und diplomatischer Untätigkeit.


Eine neue Doktrin

Kurz vor dem zweiten Jahrestag des Massakers vom 7. Oktober scheint die Politik Israels gegenüber seinen Gegnern, potenziellen Partnern und Noch-Verbündeten von drei Hauptfaktoren bestimmt zu sein:

Erstens dominieren kurzfristige militärische Erwägungen. Israel konzentriert sich darauf, unmittelbare Sicherheitsbedrohungen zu bewältigen – eine Reaktion auf das Trauma vom 7. Oktober und das Bedürfnis der Bevölkerung, durch Prävention wieder ein Gefühl der greifbaren Sicherheit zu erlangen. 

Zweitens steht Netanjahus politisches Überleben im Vordergrund. Innenpolitisch verfolgt er zwei eng verknüpfte Ziele: einen sichtbaren und unbestreitbaren militärischen Sieg über die Hamas und den Erhalt seiner fragilen Koalition. Um Letzteres zu erreichen, muss er rechtsextreme Partner wie seinen Finanzminister Bezalel Smotrich und den Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir zufriedenstellen. Das bedeutet: konsequente Ablehnung jeglicher Schritte, die die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) stärken könnten, ein Herauszögern eines Kriegsendes in Gaza und die Unterstützung annexionistischer Vorstöße im Gazastreifen und im Westjordanland.

Drittens spielt Netanjahu ein zwei­gleisiges Spiel mit Trump. Der israelische Ministerpräsident versucht, seine engen Beziehungen zur Trump-Regierung zu nutzen, um die Nahost-Politik der USA zu beeinflussen. Trotzdem verlaufen die bilateralen Beziehungen keineswegs reibungslos. Die israelische Intervention in Syrien im Juli 2025 und Netanjahus Weigerung, sich für ein Ende des Krieges in Gaza einzusetzen, stehen im Widerspruch zu Trumps Bemühungen in der Region. Die Tatsache, dass Netanjahu innenpolitisch getrieben ist und bislang keine konstruktiven Maßnahmen vorgeschlagen hat, dürften die strategischen Spannungen mit Washington nur noch weiter verschärfen. 

Israel hat sich nicht nur strategisch und diplomatisch, sondern auch moralisch verhoben

Aus der Kombination dieser drei Faktoren ist in Israel eine neue strategische Doktrin erwachsen, die spätestens seit dem Angriff auf den Iran noch deutlicher zum Ausdruck kommt: Frieden durch Stärke. Dieses Konzept, das erstmals von Ronald Reagan formuliert und später von Donald Trump übernommen wurde, spiegelt die realpolitische Überzeugung wider, dass die Demonstration militärischer Macht für Abschreckung sorgen und den Frieden bewahren kann. Nach dem 7. Oktober scheint sich die israelische Führung jedoch einer weitaus radikaleren Version dieser Doktrin verschrieben zu haben, bei der allein militärische Kraft die politische Realität neu gestalten kann und Diplomatie irrelevant ist. Diese ­strategische Haltung kommt nicht nur im Krieg in Gaza zum Ausdruck, sondern auch in Israels Umgang mit dem Iran, Syrien und dem Libanon sowie in den Bemühungen um eine Normalisierung der Beziehungen zur arabischen Welt. 


Militärisch erfolgreich, politisch nicht

Die israelischen Militäroperationen im Libanon, in Syrien und im Iran – das Ergebnis von zwei Jahrzehnten sorgfältiger Planung – haben die Machtverhältnisse in der Region grundlegend verändert. Der Zusammenbruch der Hisbollah, die einst als zweitstärkste Armee im Nahen Osten galt, hat den Sturz des Assad-Regimes ausgelöst und das vom Iran mühsam aufgebaute Netzwerk von Verbündeten und Stellvertretern in der Region zerrissen. Das ebnete Israel wiederum den Weg für seinen Angriff auf das iranische Atomprogramm. Auch wenn noch unklar ist, ob Israel sein Ziel erreicht hat, die nuklearen Pläne des Iran zu durchkreuzen oder zumindest zu verzögern, hat die Militäroperation seinen Status als regionale Militärmacht bereits heute gefestigt. Das israelische Militär hat demonstriert, dass es die kritische Infrastruktur des Iran präzise treffen, den iranischen Luftraum kontrollieren, eng mit den USA kooperieren und Vergeltungsmaßnahmen von Teherans Stellvertretern durch Abschreckung verhindern kann.

Anstatt die militärischen Erfolge zu nutzen, um langfristige Stabilität zu fördern und Feindseligkeiten beizulegen, hat Israel den diplomatischen Weg weitgehend umschifft

Gleichzeitig muss allerdings festgehalten werden, dass Israel seine militärischen Erfolge bislang kaum in informelle Sicherheitsgarantien oder gar politische Vereinbarungen umsetzen konnte. Anstatt die Siege auf dem Schlachtfeld zu nutzen, um langfristige Stabilität zu fördern und Feindseligkeiten beizulegen, hat Israel den diplomatischen Weg weitgehend umschifft. Das zeigt sich auch in seinem Umgang mit Syrien und dem Libanon. Israel versteht Diplomatie nicht als „Krieg mit anderen Mitteln“, sondern konzen­triert sich ausschließlich auf die Sicherung seiner operativen Erfolge. Und um dies zu gewährleisten, müssen die militärischen Maßnahmen fortgesetzt werden.

Ein Kernelement dieser Strategie ist es, Pufferzonen innerhalb des syrischen und libanesischen Territoriums zu schaffen. Diese Vorstöße zielen darauf ab, einen weiteren verheerenden Angriff auf Israel zu verhindern. Ihr übergeordneter strategischer Zweck bleibt jedoch unklar. Ohne eine klare Vision laufen solche Zonen Gefahr, zu neuen Brennpunkten zu werden, die der Hisbollah, anderen proiranischen Milizen oder IS-Ablegern einen Vorwand liefern, den Konflikt unter dem Banner des Widerstands gegen die Besatzung wieder anzufachen.

Die Politik Israels konzentriert sich darauf, unmittelbare Bedrohungen zu neutralisieren, statt sich um die politischen Entwicklungen zu kümmern, die sie hervorbringen. Im Libanon wurde die Chance verpasst, auf die Bereitschaft des neuen Präsidenten Joseph Aoun einzugehen, über den Status der Hisbollah als bewaffnete Streitmacht zu diskutieren. Anstatt die Legitimität der neuen libanesischen Regierung zu stärken – beispielsweise durch taktische Zugeständnisse bei einem Abkommen zur Festlegung der Landesgrenzen –, hat sich Israel aber vor allem darauf konzentriert, weitere Hisbollah-Anhänger auszuschalten, die dabei waren, die geschwächten Fähigkeiten der Gruppe wieder aufzubauen.

Auf den von der islamistischen Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) angeführten Marsch auf Damaskus reagierte Israel mit groß angelegten Angriffen auf Militäreinrichtungen in Syrien – eine logische Reaktion angesichts der Unsicherheiten rund um das ehemalige HTS-Regime. Auf diese Operationen folgte jedoch kein weitergehendes politisches Engagement. In israelischen Strategie­kreisen wurde kaum diskutiert, was für eine politische Landschaft in Syrien man sich wünschte – vor allem mit Blick auf die dort lebenden Minderheiten und die Nachkriegsordnung. Dieses Vakuum hat zu Folgeerscheinungen geführt; so gipfelte etwa der Versuch Israels, die drusische Minderheit in Syrien zu schützen, im Juli 2025 in einem Bombenangriff auf das syrische Verteidigungsministerium. Anstatt den Moment zu nutzen, um langfristige Vereinbarungen mit ehemaligen Feinden zu schließen, bleibt Israel darauf fixiert, auf kurzfristige militärische Bedrohungen zu reagieren.

Im Fall des Iran hat die Auffassung, dass sich Diplomatie mit militärischer Stärke ersetzen lässt, noch weitreichendere Auswirkungen auf die regionale Sicherheit. Auf den gemeinsamen Angriff Israels und der USA gegen den Iran folgten keine diplomatischen Bemühungen, um das iranische Atomprogramm einzuhegen. Israel selbst hat noch nicht einmal klare Bedingungen für solche Verhandlungen formuliert – und einige Vertreter der israelischen Regierung halten einen Regimewechsel im Iran nach wie vor für das übergeordnete politische Ziel. Die israelischen Erwägungen beruhen auf der Überzeugung, dass der Iran militärisch davon abgeschreckt wurde, sein Atomprogramm im gleichen Umfang wiederaufzubauen. Das führt dazu, dass sich der Iran und Israel weiterhin in einem ­fragilen Waffenstillstand befinden, der durch keinerlei Abkommen geschützt wird. Nicht nur in der Region befürchtet man, dass Israel mit erneuten Angriffen auf den Iran reagieren könnte, wenn das dortige Regime versucht, seine Nuklearanlagen wieder aufzubauen – und damit einen weiteren Eskalationszyklus riskieren würde. 


Die Politik des „vollständigen Sieges“

Im Libanon, in Syrien und im Iran beruht Israels militärisch orientierter Ansatz weitgehend auf engstirnigem operativen Denken – und mitunter sogar auf regelrechter Hybris. In Gaza hingegen wird das „Frieden durch Stärke“-Konzept von noch viel tieferen politischen und ideologischen Faktoren bestimmt. Im Mittelpunkt der Strategie steht hier das Streben nach einem „vollständigen Sieg“ über die Hamas, wie ihn Netanjahu verspricht. 

Die israelische Regierung hat jedoch nie definiert, was ein solcher Sieg bedeuten würde. Mit dem Fortdauern des Krieges – geprägt von militärischen Rückschlägen, einer sich verschärfenden humanitären Krise und wachsendem öffentlichen Druck zur Beilegung des Konflikts – hat sich der „vollständige Sieg“ von einem vagen strategischen Ziel, das einst im gleichen Atemzug wie die Rückkehr der israelischen Geiseln genannt wurde, zu kaum mehr als einem Schlagwort entwickelt. Ein Schlagwort, das mittlerweile vor allem dazu dient, die Fortsetzung des Krieges und die weitere Eskalation durch die israelischen Streitkräfte zu rechtfertigen.

Mit dem Ziel, die Hamas allein mit militärischen Mitteln zur Kapitulation zu zwingen, hat sich Israel in einen Kreislauf verstrickt, der immer neue und zum Teil auch völkerrechtswidrige Taktiken hervorbringt. Dazu gehören die großflächige Zerstörung von Wohngebieten sowie die Beschränkung der humanitären Hilfe. Israel setzt beispiellose militärische Gewalt ein, weigert sich aber gleichzeitig, über die Förderung einer politischen Alternative zur Hamas zu diskutieren, geschweige denn, die PA in die politische Zukunft Gazas einzubeziehen. Netanjahu will das verhindern, was er als den „Ersatz von Hamastan durch Fatahstan“ bezeichnet – eine Anspielung auf Fatah, die Partei des Präsidenten der PA, Mahmud Abbas. Diese Haltung hat Israel bereits so weit getrieben, dass es lokale palästinensische Milizen unterstützt, um das Machtmonopol der Hamas zu brechen.

Die israelische Regierung hat nie definiert, was ein „vollständiger Sieg“ über die Hamas bedeuten würde

Das Festhalten an einem vollumfänglichen Sieg eint Netanjahu und den extremen rechten Flügel seiner Regierung – auch wenn der Premierminister aus innenpolitischen Erwägungen handelt und die Hardliner aus ideologisch-messianischen Beweggründen. Ihr gemeinsames strategisches Ziel bleibt jedoch bestehen: die Fortsetzung des Krieges in Gaza. 

Zu den führenden Hardlinern zählt Bezalel Smotrich, der in der Regierung neben dem Finanzministerium auch den Siedlungsausbau verantwortet. Für ihn und die gesamte Siedlerbewegung ist der 7. Oktober ein „großes Wunder“, das ihre Umsiedlungsagenda und eine Annexion Gazas ermöglicht. In Übereinstimmung mit Trumps Plan, Gaza zu räumen und ohne seine Bevölkerung wiederaufzubauen, hat Smotrich darauf gedrängt, die unmoralische und illegale Idee der „­Förderung der palästinensischen Migration“ zur offiziellen Politik zu machen – unterstützt durch eine neu gegründete Regierungsstelle für die Umsiedlung von Palästinensern. Seine Amtszeit hat er bislang vor allem darauf verwendet, die Annexion sowohl praktisch als auch konzeptionell vorzubereiten und jede Chance auf eine Zweistaatenlösung zunichtezumachen.

Für Netanjahu ist die Fortsetzung des Krieges überlebenswichtig, da er nur so seine politische Existenz sichern kann. Das ist der Hauptgrund, warum er einen vorübergehenden Waffenstillstand einem umfassenden Friedensabkommen vorzieht. Seine politische Überlebensfähigkeit hängt davon ab, dass er das Scheitern vom 7. Oktober durch militärische Siege wettmacht. Ein Ende des Krieges würde offenbaren, dass die Erzählung eines vollständigen Sieges nicht haltbar gewesen ist, und die öffentliche Aufmerksamkeit auf die fatalen Fehler seiner jahrzehntelangen Politik gegenüber der Hamas lenken. Würde der Krieg durch ein Abkommen mit der Hamas beendet, dann bedeutete dies zudem das Ende der Koalition zwischen Netanjahu und Smotrich – mit der Konsequenz von Neuwahlen.

Die Golfstaaten können es sich nicht leisten, in eine Konfrontation zwischen Israel und dem Iran hineingezogen zu werden

Derzeit steht Smotrichs Plan vor allem die internationale Gemeinschaft im Weg – und insbesondere die USA, die nicht alle israelischen Maßnahmen im Gazastreifen gutheißen. Gleichzeitig verschafft die ambivalente Haltung der Trump-Regierung in Bezug auf Annexion und Zwangsdeportation sowie Netanjahus Abhängigkeit von Smotrich diesem eine wirksame Plattform, um seine extreme Gaza-Agenda voranzutreiben. 


Normalisierung durch Stärke

Nach dem Angriff auf den Iran hat sich in Israel die Überzeugung durchgesetzt, dass militärische Siege über die Hisbollah und Teheran die arabischen Staaten zur Normalisierung der Beziehungen bewegen werden – und die regionale Integration Israels dadurch beschleunigt wird. Diese Überzeugung kommt auch in Smotrichs folgender Bemerkung zum Ausdruck: „Wir leben in einer Nachbarschaft, in der jeder vor den Schwachen flieht und sich auf die Seite der Starken schlägt.“

Dieses Konzept einer Normalisierung durch Stärke hat jedoch gleich mehrere Schwächen: Es verwechselt Abschreckung mit dem Aufbau langfristiger Beziehungen, es überschätzt die Anziehungskraft militärischer Macht, und es ignoriert die Motive, die arabische Staaten in der Vergangenheit dazu veranlasst haben, ihre Beziehungen zu Israel zu normalisieren.

Viele in Israel glauben, dass die Eindämmung des Iran ein verbindendes Interesse ist. In Wirklichkeit sind die Kalküle der Golfstaaten aber weitaus komplexer. Immerhin bleiben ihre Ölinfrastruktur und ihre Schifffahrtswege anfällig für iranische Angriffe, egal wie stark oder schwach der Iran ist. Diese Staaten können es sich nicht leisten, in eine Konfrontation zwischen Israel und dem Iran hineingezogen zu werden. Sie haben jahrelang eine Strategie der Risikominimierung verfolgt, indem sie ihre Beziehungen zu Israel vertieften und gleichzeitig vorsichtige Beziehungen zum Iran pflegten. Die jüngste Eskalation hat dieses empfind­liche Gleichgewicht allerdings zerstört. Der Angriff Israels auf den Iran hat die Region an den Rand eines weitreichenden Krieges gebracht und hätte zu einer Schließung der Straße von Hormus führen können. Diese verbindet den Persischen Golf mit dem Golf von Oman und zählt zu den wichtigsten Energieengpässen der Welt.

Aus Sicht der Golfstaaten scheint Israel heute unberechenbarer denn je. Für sie dient die Normalisierung zwei zentralen Zielen: der Stabilisierung der Region und der Stärkung der Beziehungen zu Wa­shington. Die Normalisierung mit Israel diente oft als eine diplomatische Brücke zu den USA – insbesondere für Saudi-Arabien, das die Normalisierung mit einem möglichen Verteidigungspakt verknüpft hat.

Die Golfstaaten blicken nun mit gemischten Gefühlen auf die israelische Bilanz. Einerseits werten sie den Sieg über die Hisbollah als großen Erfolg, der die politische Situation im Libanon und in Syrien neu geordnet, den Drogenschmuggel aus Syrien in die Region eingedämmt und den Einfluss des Iran zu ihrem Vorteil zurückgedrängt hat. Andererseits scheint die Konfrontation mit dem Iran aber erst am Anfang zu stehen. Die Staats- und Regierungschefs der Golfstaaten befürchten, dass Israel seine sogenannte Rasenmäher-Strategie anwenden könnte – wiederholte Militärschläge, die darauf abzielen, die militärische Schlagkraft und den Wiederaufbau des Iran einzudämmen. Das könnte die Golfregion in einen dauerhaften Konfliktzustand versetzen.

Der israelische Angriff auf den Iran hat auch die militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und Israel auf eine neue Stufe gehoben. Es war der erste gemeinsame Angriff auf einen souveränen Staat. Das stärkt Israels Bedeutung als amerikanischer Partner. Gleichzeitig nähert sich Washington den Golfmonarchien mittlerweile eigenständig an, was Israels Rolle als exklusiver Vermittler schwächt. 

Entscheidend ist, dass der Gazakrieg die politischen Kosten der Normalisierung stark in die Höhe getrieben hat. Die öffentliche Abneigung gegenüber Israel ist groß, und die Golfstaaten glauben weder daran, dass Israel eine langfristige Strategie verfolgt, noch daran, dass die israelische Führung zu Verhandlungen bereit ist. Ohne Fortschritte in der Palästina-Frage droht die Normalisierung vollständig zum Stillstand zu kommen – und Israels Image als destabilisierender und gefährlicher Player in der Region verfestigt sich weiter.


Israel am Scheideweg

Die Strategie des Friedens durch Stärke sollte einen tiefgreifenden Wandel markieren und der Lähmung und den verpassten Chancen des Jahrzehnts vor dem 7. Oktober etwas entgegensetzen. Weniger als zwei Jahre später sind die Gefahren dieses militaristischen Ansatzes jedoch an allen Fronten sichtbar. Mit Blick auf die Normalisierung der Beziehungen zu den Golfstaaten untergräbt er diplomatische Fortschritte. Letztere erkennen Israels Stärke zwar an, sehen sie jedoch eher als destabilisierende Kraft, die verheerende Folgen für die Region haben kann. In Syrien und im Libanon hat Israel die seltene Chance vertan, ehemalige Feinde durch Diplomatie in Partner zu verwandeln – und im Gazastreifen ist das obsessive Streben nach einem vollständigen Sieg über die Hamas zum Vorwand für einen schrecklichen und sinnlosen Krieg geworden, der nicht nur die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts gefährdet, sondern auch die moralische Legitimität Israels.

Ein Richtungswechsel in Israel erfordert mehr als eine Kurskorrektur – er verlangt nach einer neuen Führung

Selten war die Entscheidung zwischen Diplomatie und Militarismus so deutlich – oder so folgenschwer – für Israels langfristige Sicherheit und Widerstandsfähigkeit. Das Land steht an einem Scheideweg: zwischen einem möglichen diplomatischen Durchbruch – dem Ende des Gazakriegs, international abgestimmten Beschränkungen für das iranische Atomprogramm und einer weiteren Normalisierung der Beziehungen zur arabischen Welt – oder einem messianischen Marsch in eine spartanische Zukunft, in der Israel dazu verdammt ist, mit dem Schwert zu leben und durch das Schwert zu sterben.

Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich das Prinzip „Frieden durch Stärke“ von einem sicherheitspolitischen Konzept zu einem politischen Schutzschild für die Fort­setzung des Gazakriegs gewandelt – und ist zum Herzstück der israelischen Regierungspolitik geworden. Die Vereinnahmung dieser Doktrin durch die extreme Rechte zeigt, wie nahtlos sie sich in deren politische Agenda und ideologische Zielsetzungen einfügt. Ein Richtungswechsel erfordert daher mehr als eine bloße politische Kurs­korrektur – er verlangt nach einer neuen Führung.


Aus dem Englischen von Kai Schnier 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2025, S. 42-49

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Dr. Gil Murciano ist CEO von Mitvim, einem israelischen Thinktank für Außenpolitik. Zuvor war er bei der Stif
tung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig.

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