Online-Veröffentlichung

12. Aug. 2025

Israels Verantwortung

Warum der Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr im Gazakrieg irreführend ist. 

Bild
Bild: Palästinenser warten mit Töpfen in den Händen, während eine Wohltätigkeitsorganisation am 11. August 2025 im Flüchtlingslager Bureij im Gazastreifen Lebensmittel an Palästinenser verteilt, die unter der israelischen Blockade unter einer Nahrungsmittelkrise leiden.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

In den vergangenen Wochen und Monaten war immer wieder zu hören, dass eine Kritik am israelischen Vorgehen in Gaza eine „Täter-Opfer-Umkehr“ darstelle. Dieser Begriff ist ein etabliertes Konzept in der Antisemitismusforschung. Er bezieht sich auf ein insbesondere in Deutschland latent vorhandenes Phänomen: Weil Antisemitismus im Nachkriegsdeutschland öffentlich geächtet, aber keineswegs verschwunden war, entstanden sogenannte Umwegkommunikationen. Diese zielten unter anderem auf eine Entlastung, ja Befreiung von der deutschen Schuld im Dritten Reich ab – etwa indem Jüdinnen und Juden, insbesondere aber Israel, eine Täterschaft unterstellt wurde. 

Je stärker der Vorwurf der Täterschaft, desto wirkmächtiger die vermeintliche Entlastung. Ihre extremste Ausprägung findet diese Art der Täter-Opfer-Umkehr in einer direkten Gleichsetzung: „Die Israelis machen doch auch nichts anderes als die Nazis.“ Diese Aussage zielt darauf ab, eine attestierte moralische Verwerflichkeit Israels zur Relativierung der deutschen Schuld heranzuziehen – oder zumindest die fortdauernde Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord infrage zu stellen „Jetzt muss doch endlich mal ein Schlussstrich gezogen werden!“ 

Verharmlosungen und Verallgemeinerungen

Dieses Phänomen existiert auch im Kontext des aktuellen Gazakriegs, wie nicht nur Studien und Erhebungen zeigen. Erst diese Woche berichtete ein israelischer Kollege, wie ihm eine deutsche Frau ins Gesicht brüllte, die Israelis seien „nicht anders als die Nazis“ – noch bevor er überhaupt ein Wort über seine (sehr kritische) Haltung zum Gazakrieg sagen konnte.

Eine solche Haltung der Täter-Umkehr kann und soll im deutschen Diskurs benannt und kritisiert werden. Dennoch ist die verallgemeinernde Anwendung des Täter-Opfer-Umkehr-Prismas auf jene, die sich kritisch zum Geschehen in Gaza äußern, zu undifferenziert – wenn nicht gar verharmlosend oder schlimmstenfalls instrumentalisierend.

Wer das Sprechen insbesondere über Kriegsverbrechen im Gazakrieg pauschal als Täter-Opfer-Umkehr bezeichnet, insinuiert, dass die sprechende Person eine Grenze überschritten habe – und mindestens latent antisemitisch sei. Wichtig ist dabei: Die Behauptung der Täter-Opfer-Umkehr impliziert, dass es keinerlei Realitätsbezug zwischen der vorgebrachten Kritik und dem israelischen Vorgehen gibt; die als antisemitisch deklarierte Aussage wird von jeglicher Handlung Israels entkoppelt.  

Keine Legitimation von Antisemitismus

Denn wie die Antisemitismustheorie zu Recht betont, können Handlungen von Jüdinnen und Juden ebenso wenig wie das Handeln des Staates Israel Grundlage oder Rechtfertigung für antisemitische Einstellungen sein. Eine solche Argumentation würde Antisemitismus nicht nur legitimieren, sondern im schlimmsten Fall Jüdinnen und Juden selbst die Verantwortung dafür geben. Das hieße: Es gäbe „berechtigte Gründe“, antisemitisch zu sein. Antisemitismus ist jedoch per definitionem ein Vorurteil, das keiner Begründung bedarf.

Umgekehrt bedeutet das in diesem Kontext aber auch: Kritik an Israel, die mit dem Label der Täter-Opfer-Umkehr belegt wird, erscheint von vornherein als illegitim. Sie verdient nicht einmal, inhaltlich geprüft zu werden, sondern wird unmittelbar als absurd und antisemitisch abgetan – als Hirngespinst, das keine Verankerung in der Realität hat, ja haben kann. 

Doch darin liegt eine Gefahr: Der Vorwurf der Täter-Opfer-Umkehr droht, von einem analytischen Instrument zu einem politischen Kampfbegriff zu werden – mit dem Ziel, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, unabhängig vom tatsächlichen Sachverhalt.

Ein zu enger Deutungsrahmen

Damit verbunden ist ein weiterer zentraler Aspekt: Das Prisma der Täter-Opfer-Umkehr bietet kein analytisches Instrumentarium, um den israelischen Staat als Handelnden zu betrachten – also als Akteur, der möglicherweise Kriegsverbrechen begangen haben könnte. In diesem Deutungsrahmen kann Israel strukturell nur als Opfer erscheinen.

Eine solche Sichtweise prägt folgerichtig auch den Blick auf das aktuelle Kriegsgeschehen. Wer es durch die Brille der Täter-Opfer-Umkehr betrachtet, legt zumindest nahe, dass der furchtbare Terrorangriff vom 7. Oktober 2023 sämtliche darauffolgenden israelischen Handlungen rechtfertigt – oder rechtfertigen müsste. Kritische Auseinandersetzungen mit dem israelischen Vorgehen erscheinen dann als unzulässig oder werden ausgeblendet, vermieden.

Zweifellos war der 7. Oktober der Kriegsgrund – ein tiefgreifender Einschnitt in der Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Die Brutalität, mit der die Hamas und andere Gruppen vorgingen, war bis dahin beispiellos – ebenso wie die Geiselnahme von 251 Menschen.

Allerdings darf all das nicht davon ablenken (und schon gar nicht von vornherein rechtfertigen), wie Israel diesen Krieg führt: ohne belastbaren Nachkriegsplan, ohne klare Vorstellungen für ein Kriegsende, aber mit einer vielfach angezweifelten Motivlage des Ministerpräsidenten für die Fortsetzung des Krieges. Laut einer Umfrage des israelischen Fernsehsenders Kanal 12 vom Juli 2025 denken etwa 49 Prozent der israelischen Bevölkerung, dass der Krieg vor allem aus politischen Gründen nicht beendet wird; nur noch 36 Prozent sehen Sicherheitsaspekte im Vordergrund. Rund drei Viertel der Israelis befürworten ein Ende des Krieges im Rahmen eines Deals, der die Befreiung aller Geiseln einschließt.

Ein endloser Krieg?

Es ist ein Krieg mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung in Gaza: fast 60.000 Tote, eine nahezu vollständige Zerstörung des Gazastreifens und eine humanitäre Katastrophe, die nicht nur in Kauf genommen, sondern offenbar gezielt herbeigeführt wurde. All das lässt sich kaum allein mit der Verweigerungshaltung der Hamas erklären.

Das vielleicht klarste Beispiel unter vielen betrifft die Frage, warum Israel den Gazastreifen nicht schlichtweg mit Hilfsgütern geflutet hat – gerade, wenn man sich Sorgen machte, dass die Hamas die Hilfsgüter abgreifen und als Machtmittel einsetzen könnte. Stattdessen verhängte Israel Anfang März zunächst eine elfwöchige Komplettsperre, unter der die Zivilbevölkerung massiv gelitten hat. Anschließend versuchte man, mit der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) ein alternatives System zu den etablierten UN-Hilfseinrichtungen aufzubauen – ein Versuch, der katastrophal gescheitert ist: Statt rund 400 Verteilzentren für Nahrungsmittel und andere lebenswichtige Güter existieren nur mehr vier. Diese sind schwer zugänglich, begleitet von Chaos, und immer wieder kommt es zu tödlichen Zwischenfällen. Menschen sterben bei dem Versuch, Hilfsgüter zu erhalten – nicht selten zu Dutzenden, auch durch Schüsse der israelischen Armee.

Videos dokumentieren die chaotischen Zustände: lange Schlangen, Menschenmassen hinter Gittertoren, die sich oft nur für wenige Minuten öffnen. Diese Szenen zeigen eine dystopische Realität – Bilder, wie man sie eher aus verstörenden Filmen kennt als von einem geordneten humanitären Zugang.

Die Installation dieses Versorgungssystems liegt nicht in der Verantwortung der Hamas – und es handelt sich dabei auch nicht um Hamas-Propaganda. Für dieses System ist Israel verantwortlich. Wer diesen Umstand benennt, ist deshalb noch lange kein Apologet der Hamas.

Gazas Zukunft ohne die Hamas

Zweifelsohne trägt auch die Hamas eine erhebliche Verantwortung – für diesen Krieg ebenso wie für das wiederholte Scheitern von Waffenstillstandsvereinbarungen. Klar scheint auch, dass eine Fortsetzung ihrer Herrschaft in Gaza kaum vorstellbar ist. Und natürlich muss alles dafür getan werden, um die verbleibenden Geiseln zu befreien. Die jüngsten menschenverachtenden Videos der Geiseln unterstreichen dies. 

Natürlich ist es ein legitimes Anliegen Israels, diese Geiseln zu befreien. Ob dies mit rein militärischen Mitteln gelingen kann, muss man wohl bezweifeln. Das hat zuletzt auch eine lange Liste ehemaliger israelischer Geheimdienstchefs und Oberbefehlshaber der Armee moniert. Unabhängig davon sollte aber außer Frage stehen: Die derzeitige humanitäre Situation in Gaza ist untragbar. Das Aushungern des Gazastreifens trägt nichts zur Befreiung der Geiseln bei. Und es lässt sich kaum leugnen, dass für die hier beschriebene, desaströse humanitäre Situation Israel einen großen Teil der Verantwortung trägt.

Wer hier von Täter-Opfer-Umkehr spricht, will damit jede Verantwortung von Israel ablenken. Das ist nicht nur unlauter, es ist letztlich auch von enormer Kurzsichtigkeit für das deutsche Verhältnis zu Israel: Wer Israels Verantwortung im Gazakrieg nicht benennt und ein binäres Verantwortungs- und Moralschema anlegt, fordert letztlich eine bedingungslose Solidarität mit Israel – egal, was in Gaza geschieht. Die Folge ist eine weitere Polarisierung.

Von verantwortungsvoller Politik

Die deutsche Israel-Politik beruhte nie allein auf der besonderen historischen Verantwortung, sondern orientierte sich stets auch an universellen Werten wie dem Völkerrecht und den Menschenrechten. Wer heute verlangt, sich zwischen Solidarität mit Israel und der Verteidigung universeller Werte zu entscheiden, stellt auch eine historische Verantwortung zur Disposition. Verantwortungsvolle Politik muss beides benennen: die berechtigten Gründe für diesen Krieg und das zynische Kalkül der Hamas – aber auch die Verantwortung Israels für die Folgen der Kriegsführung und die menschengemachte humanitäre Katastrophe. 

Allgemeiner gesprochen: Wenn deutsche Politik ihre historische Verantwortung für Israel aufrechterhalten will, geht dies nur, wenn sie auch notwendig kritische und substanzielle Antworten auf die konkreten Handlungen einer israelischen Regierung hat – gerade dann, wenn sie so radikal ist wie die aktuelle. Historische Verantwortung funktioniert nur, wenn man sie mit universellen Werten in Dialog bringt. Sie als Gegensatz zu begreifen, beschädigt beides. 

Israel ist in diesem Krieg Opfer und Täter zugleich. Wer das verkennt, verschließt seine Augen vor der Realität. 

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik, Online-Veröffentlichung, 12. August 2025

Teilen

Dr. Peter Lintl ist Politikwissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin und beschäftigt sich vor allem mit dem Nahen Osten und mit israelbezogenen Themen.

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.