Kommentar

01. Sep 2020

Israels Annexionspläne waren ein Schritt zum Frieden

Ein Kommentar

Mit der dramatischen Ankündigung einer vollständigen Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde Mitte August auch eines bewiesen: der Nutzen der israelischen Regierungspläne, in Teilen des Westjordanlands israelisches Recht anwenden zu wollen, sprich zu annektieren.

Der Monat Juli war vergangen, ohne dass die Regierung diese Pläne umgesetzt hätt. Ein Koalitionsabkommen zwischen Netanjahus Likud-Partei und Gantz’ Blau-Weiß-Bündnis hatte Annexionen ab dem 1. Juli möglich gemacht; von Anfang an wurde klargestellt, dass dies in enger Abstimmung mit der Regierung von US-Präsident Trump geschehen würde.



Die Verzögerung kam nicht überraschend. Die palästinensische Führung mochte glauben, dass dies ihrem diplomatischen Geschick oder dem Druck der EU zu verdanken sei. Die wahrscheinlichere Erklärung für die Verzögerung liegt aber wohl darin, dass inmitten einer zweiten, großen Corona-Welle, der wirtschaftlich schlechten Lage vieler Israelis, der politischen und sozialen Spannungen und der Konfrontation mit dem Iran und der Hisbollah (ganz abgesehen von den türkischen Ambitionen im Mittelmeer) die Regierung sich für einen anderen Weg entschied, die Annexionen als Druckmittel einzusetzen.



Die hinter dem Projekt der Annexionen stehende Idee galt dabei stets weiter; und auch wenn es gegen Intuition und Willen vieler in Israel und Europa ging, hat allein die Möglichkeit dieses Schrittes tatsächlich zum Frieden beigetragen. Indem Israel sie auf dem Tisch behielt, gelang es, aus einem extrem langen Stillstand herauszukommen. Möglicherweise wurden so auch Voraussetzungen für künftige Verhandlungen geschaffen, die eine tragfähige Version der sogenannten Zwei-Staaten-Lösung beinhalten könnte. Es hat einen Grund, dass die rechten Hardliner in Israel das Vorhaben strikt ablehnen. Um diese Logik zu verstehen, muss man sich das JWP, wie ich es nenne, anschauen: das „Jeder weiß es“-Paradigma.

 

Der Deal des Jahrhunderts

Das JWP ist eine andere Art zu sagen, dass eine völkerrechtliche Anerkennung (al-shar’iyyah al-duwaliyyah, wie die Palästinenser es noch immer nennen) nur dann möglich ist, wenn Israel sich von 100 Prozent des Territoriums zurückzieht, das es im Krieg von 1967 von Jordanien erobert hat, mit geringem ausgleichenden Austausch. Wenn die lebendige Stadt Jerusalem geteilt wird; wenn Israel beim „Recht auf Rückkehr“ den Palästinensern entgegenkommt. Und all das, ohne dass die Palästinenser die Legitimität des Staates Israel anerkennen, da dieser das Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes verkörpert – was die Palästinenser entschieden ablehnen. Die israelische Linke, ein Großteil (aber nicht alle) der EU-Staaten und der progressive Flügel der Demokratischen Partei in den USA scheinen dies als unangefochtene Interpretation der relevanten UN-Resolutionen zu akzeptieren. Es gibt nur ein großes, unüberwindbares Problem mit dem JWP: Es ist nicht implementierbar, und keine israelische Regierung wird es in absehbarer Zukunft akzeptieren (zudem spiegelt es nicht wirklich internationales Recht oder den Wortlaut der UN-Resolutionen wider; aber diese Debatte würde über den Rahmen dieses Textes hinausgehen).



Die Umsetzung würde bedeuten, dass Zehntausende Menschen gewaltsam entwurzelt werden, dass die Stadt Jerusalem, wie man sie kennt, nicht mehr existiert, und es wäre mit inakzeptablen Sicherheitsrisiken für Israels östliche Gebiete verbunden – und wofür? Jitzchak Rabin, der Märtyrer für den Frieden, hat dies genau verstanden, als er weniger als einen Monat vor seiner Ermordung vor der Knesset sprach und erklärte, dass Israel niemals zu den Grenzen vor 1967 zurückkehren, sondern auch an den Gebieten im Jordangraben und um Jerusalem festhalten müsse.



Der Plan von Präsident Trump baut auf der Vision von Rabin auf, der im November 1995 ermordet wurde; seine komplizierte Agenda ist zurzeit die einzige Möglichkeit, aus der Zwangsjacke des JWP auszubrechen und einen Weg hin zu Frieden, Wohlstand und einer besseren Zukunft für Israelis und Palästinenser zu finden.



Dieser Plan kann eine neue politische Landschaft in Israel schaffen, die die starre Trennung zwischen der Linken (die meinen, der „Deal des Jahrhunderts“ gebe den Palästinensern zu wenig) und der harten Rechten (die den Palästinensern überhaupt nichts geben wollen) überwindet und hoffentlich eine neue politische Mehrheit in der Mitte hervorbringt, die einen palästinensischen Staat unterstützt – aber nicht zu palästinensischen Bedingungen.



Ja, viele gute Leute der Linken in Israel und auch viele Beobachter in Europa und anderswo würden den Trump-Plan am liebsten auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Aber sie sollten sich lieber gut überlegen, ob die reale Alternative, sollte sie denn eintreffen, noch den Ideen der Linken entspricht – oder ob sie doch eher die Vorstellungen der herrschenden Meinung in Israel spiegelt, die den Palästinensern schlicht keinerlei Hoffnung lässt. Deshalb sollte der Trump-Plan ans Laufen gebracht werden, damit er nicht ein weiteres totes Dokument ohne jeden Einfluss auf das Leben der Menschen wird. Für die Umsetzung muss es Veränderungen vor Ort geben, so schwierig sie auch sein werden. Der „Schock“ einer begrenzten Annexion von Teilen des Jordangrabens, wo die Sicherheitserfordernisse klar sind, könnte den richtigen Effekt in einer total verfahrenen Situation haben.



Das Paradox des Jahrhunderts könnte nun darin liegen, dass der „Plan des Jahrhunderts“, den die Palästinenser so laut und aggressiv ablehnen, sich als der einzige Weg heraus aus dieser Sackgasse erweist, welche ihre Zukunft bedroht. Und dass die Vision von Rabin aus dem Jahr 1995 den Grundstein legen könnte für eine machbare und umsetzbare Zwei-Staaten-Lösung – selbst wenn der erste Schritt ihrer Umsetzung von Israel ohne die Zustimmung der Palästinenser erfolgen würde.

 

Dr. Eran Lerman arbeitet in leitender Funktion am Jerusalem Institute for Strategy and Security.



Aus dem Englischen von Melina Lorenz.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2020, S. 108-109

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