Iran: Das Scheitern der feministischen Außenpolitik
Deutschland, allen voran Außenministerin Annalena Baerbock, hat die iranischen Frauen in ihrem Protest gegen die Islamische Republik im Stich gelassen – und damit die Glaubwürdigkeit einer wertegeleiteten Außenpolitik tiefgreifend beschädigt.
Die Straße, schreibt Golrokh Iraee, sei der einzige Weg zur Revolution und zum Ende der Diktatur. In ihrem Brief, den die heute 44-jährige Schriftstellerin im Frühjahr 2023 im Evin-Gefängnis verfasste und den die französische Zeitung Le Monde veröffentlichte, erklärt Golrokh Iraee außerdem: „Der September 2022 war ein Wendepunkt in der Geschichte Irans.“
Am 13. September 2022 wurde die 22-jährige Jina Mahsa Amini auf den Straßen Teherans von der sogenannten Sittenpolizei festgenommen. Drei Tage später war die junge Kurdin tot. Ermordet von einem Staat, der es nicht zulässt, dass Frauen sich frei kleiden, frei denken, frei handeln. Jina Mahsa Amini soll das obligatorische Kopftuch nicht „richtig“ getragen haben und musste dafür mit dem Leben bezahlen. Auf ihren Tod folgten die größten Proteste, die die Islamische Republik bis heute erlebt hat. Frauen rissen sich den Schleier vom Kopf, warfen ihn auf den Boden, ins Feuer, weit weg von ihrem Körper. Das Motto der Proteste: Frau, Leben, Freiheit.
Diese Proteste haben das Land verändert. Zum ersten Mal war der Protest gegen die Islamische Republik ein dezidiert feministischer. Es ging um nichts weniger als die Befreiung von Frauen, Minderheiten und marginalisierten Gruppen. Der Staat schlug erbarmungslos zurück. Hunderte wurden ermordet, Tausende inhaftiert, unzählige Menschen erleben bis heute in den Haftanstalten sexualisierte Gewalt und Folter.
Auch Golrokh Iraee ging im September 2022 auf die Straße und protestierte; dabei war sie erst wenige Monate zuvor gegen eine hohe Kaution aus der Haft entlassen worden. Seit 2014 saß die Schriftstellerin immer wieder im Gefängnis – weil sie eine Kurzgeschichte über die frauenverachtende Praxis der Steinigung geschrieben hatte. Golrokh Iraee wurde bei den Frau, Leben, Freiheit-Protesten festgenommen und ist seitdem wieder inhaftiert. Ihre Geschichte ist nur eine von vielen Geschichten von Menschen im Iran, die sich gegen Diktatur und Frauenhass auflehnen.
Es hätte ein Glücksfall sein können, dass genau zu jener Zeit, als die Proteste im Iran ausbrachen, in Deutschland eine Person das Außenministerium führte, die sich eine „feministische Außenpolitik“ auf die Fahnen geschrieben hat. Annalena Baerbock wollte, so schien es, als erste Frau im Amt Veränderungen in der deutschen Außenpolitik herbeiführen. Die feministischen Aufstände im Iran kamen damit genau zur richtigen Zeit. Die Worte der Außenministerin klangen vielversprechend. Ende September 2022 verkündete Baerbock im Deutschen Bundestag: „Wir sehen und wir hören diese Frauen; Frauen, die sich mutig dem scheinbar so mächtigen iranischen Sicherheitsapparat entgegenstellen.“ Und: „Es ist wichtig, dass wir […] dieses Verbrechen so klar benennen. Denn ja, das ist deutsche Außenpolitik. Das ist deutsche wertegeleitete, feministische Außenpolitik.“
Was ist seitdem passiert? Auf EU-Ebene wurden Sanktionen gegen einige Personen und Institutionen der Islamischen Republik verhängt, die nicht der Rede wert sind. Im UN-Menschenrechtsrat wurde eine Fact-Finding-Mission installiert, die Menschenrechtsverbrechen dokumentieren soll – das ist wichtig, hat aber für diejenigen, die diese Verbrechen begehen, keinerlei Folgen.
Derweil erhöht das Regime in Teheran die Gewalt gegen Frauen, die ihre Kopftücher seit den Protesten in der Öffentlichkeit nicht tragen, bis heute kontinuierlich. Die Sittenpolizei, die vor zwei Jahren Jina Mahsa Amini ermordete, treibt weiter ihr Unwesen. Für Frauen, die sich der Zwangsverschleierung nicht beugen, wurden die Strafen noch verschärft: Ihr Auto wird einkassiert, ihr Bankkonto wird geschlossen; sie müssen hohe Geldstrafen bezahlen, erhalten Ausreisesperren; werden ins Gefängnis gesteckt, bekommen Peitschenhiebe oder werden getötet.
Aus dem Außenministerium hört man wenig zur zunehmenden Brutalität gegen Frauen, die sich dem Verschleierungszwang widersetzen. Man hörte auch nichts zu der Hinrichtungswelle, die die Machthaber erwartungsgemäß nach Ende der Proteste anordneten. Im Jahr 2023 wurden mehr als 800 Menschen hingerichtet – so viele wie seit Jahren nicht. Die iranischen Machthaber können sich weiterhin sicher sein, dass es für die Bundesregierung keine roten Linien gibt, was Menschenrechtsverbrechen angeht.
Eine Relativierung von Werten
Als Bundeskanzler Olaf Scholz im Mai nach dem Tod des Staatspräsidenten Ebrahim Raisi durch einen Hubschrauberabsturz der Islamischen Republik kondolierte – Raisi war persönlich für die Ermordung Tausender politischer Gefangener in den 1980er Jahren verantwortlich und ordnete die Niederschlagung der Frau, Leben, Freiheit-Proteste ebenso wie die brutale Durchsetzung des Verschleierungszwangs an –, war im Iran niemand überrascht. Die Menschen haben keinerlei Vertrauen mehr in westliche Staaten. Es wundert auch nicht, dass das Regime weiterhin die deutschen Staatsbürger Jamshid Sharmahd und Nahid Taghavi in seiner Gewalt hält, während Geiseln aus anderen EU-Staaten freigekommen sind. Das Regime hat es nicht nötig, Deutschland gegenüber Konzessionen zu machen; es braucht die Bundesregierung nicht zu fürchten.
Eine „feministische Außenpolitik“ dient dabei als Feigenblatt für ein politisches System in Deutschland, das auf einer Relativierung von Werten beruht. Politiker wie Annalena Baerbock oder Olaf Scholz sprechen gerne über Gleichberechtigung und Demokratie, über Menschenrechte und Freiheit. Diese Werte aber gelten in diesem System nicht universell: Sie gelten nicht für Geflüchtete an den EU-Außengrenzen, sie gelten nicht für Uiguren in China – sie gelten nicht für Menschen im Iran. Die „mutigen“ Frauen im Iran werden gelobt; gleichzeitig verschafft man ihren Henkern Straflosigkeit, kondoliert ihnen, beugt sich ihren Regeln. Im Schatten schönklingender Reden einer „feministischen Außenpolitik“ ist es umso leichter, jegliche Werteorientierung fallen zu lassen.
Menschenrechte spielen in der deutschen Iran-Politik weiterhin keine bedeutende, schon gar keine zentrale Rolle. Die „feministische Außenpolitik“ unter Annalena Baerbock folgt dem Narrativ, nach dem Sicherheitsinteressen und Menschenrechte im Gegensatz zueinander stünden. Nicht nur der Blick auf die deutsche Russland-Politik vor dem Krieg in der Ukraine entlarvt diese grundfalsche Erzählung. Es gilt das Gegenteil: Menschenrechte müssen den Kern einer jeden Außenpolitik bilden. Alles andere ist naiv und gefährlich.
Mit ein paar feministischen Leitlinien lassen sich tief verankerte Strukturen nicht verändern. Gleichzeitig hat sich Annalena Baerbock dazu entschieden, das System einer Außenpolitik mitzutragen, das Menschenrechte in den Hintergrund stellt. Sie hätte offen kritisieren können, sie hätte sich widersetzen, sie hätte rebellieren können. Sie hat es vorgezogen, still zu bleiben, brav zu bleiben, das Spiel mitzuspielen. Die erste Frau im Amt der Außenministerin hätte eine Chance sein können. Dazu hätte es nicht einmal eine „feministische Außenpolitik“ gebraucht. Nur Ehrlichkeit.
„Wie auch immer der Weg, der vor uns liegt, aussieht“, beendet Golrokh Iraee ihren Brief aus dem Gefängnis, „ihr sollt wissen: Wir sind entschlossener denn je, alle Grundlagen der Unterdrückung zu stürzen.“ Es sind Menschen wie Golrokh Iraee, von denen man lernen kann, was Demokratie, Gleichberechtigung und Feminismus wirklich bedeuten. Man muss nur zuhören.
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Frau, Leben, Freiheit: das Scheitern der feministischen Außenpolitik" erschienen.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 48-49
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