Weltspiegel

05. Juni 2024

Investitionen in die Ukraine

Verlässliche Finanzhilfen, eine bessere Absicherung von Kriegsrisiken sowie interne Reformen für ein günstigeres Investitionsklima sind die entscheidenden Faktoren.

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Bild: Personal in einem Ukrainischen Zug
Zu den Sektoren, die große Resilienz gezeigt haben, gehört das Transportwesen. Trotz der russischen Angriffe ist der Zugverkehr nie zum Erliegen gekommen. Für Investitionen ist Transport von großer Bedeutung.
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Die Volkswirtschaft der Ukraine wuchs 2023 nach offiziellen Schätzungen um 5,3 Prozent. Zu einer ähnlichen Prognose gelangte das German Economic Team von Berlin Economics und das Institute for Economic Research and Policy Consulting (IER) in Kiew. Für 2024 erwarten wir ein Wachstum um 4 Prozent. Allerdings bleibt die ukrainische Wirtschaft damit weit unter dem Vorkriegsniveau, nach dem Einbruch des BIP 2022 um 29 Prozent.

Während erhöhte Binnennachfrage der Haupttreiber des aktuellen Wachstumspfades ist, der durch die positive Entwicklung der Exportlogistik durch den Schwarzmeerkorridor weiter gestärkt wird, begrenzen die jüngsten russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur, die landesweit zu Stromausfällen führen, die Wachstumsperspektiven.


Finanzierungsherausforderungen

Vor Beginn des großangelegten russischen Angriffs war der Privatsektor die treibende Säule der ukrainischen Wirtschaft und stand für rund vier Fünftel der Bruttowertschöpfung und drei Viertel der Beschäftigung. Mit einem Anteil von 88 Prozent überwogen inländische Unternehmen deutlich, während ausländische Firmen nur rund 12 Prozent ausmachten. Auch heute bleiben Investitionen aus dem Privatsektor der Schlüssel für eine stabile Wirtschaft unter Kriegsbedingungen ebenso wie für einen nachhaltigen langfristigen Wiederaufbau entsprechend der „Build Back Better“-Grundsätze. 

Schätzungen der Weltbank, der Europäischen Union, der ukrainischen Regierung und der Vereinten Nationen gehen von Wiederaufbaukosten in Höhe von 486 Milliarden Dollar aus (Stand Dezember 2023). All diese Institutionen betonen, dass der Privatsektor eine entscheidende Rolle bei der Bewältigung dieser gewaltigen finanziellen Aufgabe spielen muss. Der öffentliche Sektor kann und soll nicht allein die Kosten tragen. Stattdessen kommt privaten Investoren eine entscheidende Rolle zu.

Analysen aus der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung zeigen, dass ausländische Direktinvestitionen (foreign direct investment, FDI) zu ökonomischen Produktivitätsgewinnen führen. Sie tragen dazu bei, Wachstumskurven anzuheben sowie Verdrängungseffekte des öffentlichen Sektors zu vermeiden. Folgerichtig betonen Torbjörn Becker und andere in dem Bericht „A Blueprint for the Reconstruction of Ukraine“ (2022), veröffentlicht vom Centre for Economic Policy Research, die Bedeutung von FDI als „Grundstein“ für die Modernisierung und den Wiederaufbau der ukrainischen Wirtschaft.

Eine erfolgreiche FDI-Strategie für die Ukraine hängt von drei Faktoren ab, die wir in den nächsten Absätzen näher beschreiben werden: verlässliche und nachhaltige öffentliche Finanzhilfen; Risikominimierung und Sicherheit vor Kriegsrisiken; und Reformen zur Verbesserung des Investitionsklimas inklusive des EU-Beitrittsprozesses. 


Verlässliche öffentliche Unterstützung

Erstens ist für die Resilienz der Ukraine entscheidend, dass die wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung ihrer Partner aufrechterhalten wird. Die Finanzierung des Haushalts ist eine notwendige Bedingung, um soziale Hilfsleistungen an Kriegsopfer, Sold und Gehälter an Soldatinnen und Soldaten, an Lehrerinnen und Lehrer und andere Staatsbedienstete sowie Fördergelder an Unternehmen zu zahlen. Schon dies ist keine leichte Aufgabe. Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet für die vier Jahre bis 2027 mit einem kumulierten Haushaltsdefizit von 81 Milliarden Dollar, das aus inländischen Quellen nicht zu finanzieren ist. Trotz einiger Anstrengungen, die Steuern zu erhöhen, ist die Ukraine von externen öffentlichen Finanzhilfen durch ihre Partner abhängig.

Die jüngst von der EU ­eingerichtete Ukraine-Fazilität dient vor diesem Hinter­grund als wichtigster Anker. Ihre erste Säule stellt dem ukrainischen Haushalt rund 41 Milliarden Dollar (38 Milliarden Euro) zur Verfügung und ist damit für diesen Zeitraum die wichtigste Finanzierungsquelle. Darüber hinaus erhält das Land Unterstützung von internationalen Finanzinstitutionen wie dem IWF und bilateral von Partnerländern wie Kanada, Norwegen und Japan. Zwar helfen all diese Anstrengungen dabei, das erwartete Haushaltsdefizit der Ukraine zu verkleinern, doch bleibt noch eine Lücke von rund 21 Milliarden Dollar. Auch um diese Lücke weiter zu schließen, war das im April vom US-Kongress beschlossene Hilfspaket für die Ukraine, das zusätz­liche acht Milliarden Dollar bereitstellt, so wichtig. 

Neben der Finanzhilfe, die notwendig ist, um den ukrainischen Staat funktionsfähig zu halten, bedarf es weiterer Unterstützung, um auch die wirtschaftliche Resilienz des Landes zu stärken. Eine Erfolgsgeschichte ist beispielsweise die Wiedereinrichtung eines Exportkorridors im Schwarzen Meer: Er hat die ökonomische Widerstandsfähigkeit der Ukraine erhöht. Diese Maßnahme konnte ganz ohne öffentliche Finanzhilfen umgesetzt werden. Eine weitere denkbare Maßnahme wäre, der Ukraine einen teilweisen Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu gewähren sowie die Grenzblockaden aufzuheben und in Zukunft zu vermeiden. 

Die EU spielt bereits heute die Hauptrolle; das wird sie auch künftig tun. Ihre Bedeutung wird umso größer, je näher die Ukraine der EU-Mitgliedschaft kommt. Die Unterstützungsleistungen – ob für den Haushalt oder für die Entwicklung der Exporte – erhöhen die internationalen Währungsreserven der Ukraine. Dies erlaubt es der Nationalbank der Ukraine, Kapitalverkehrskontrollen zu lockern, die seit der Einführung des Kriegsrechts greifen. Für ausländische Unternehmen in der Ukraine bedeuten die Kapitalverkehrskontrollen ein erhebliches Hindernis – betroffen sind u.a. die Überweisung von Dividenden ins Ausland, was Neuinvestitionen behindert. Daher ist die Fortführung der öffentlichen Unterstützungsmaßnahmen eine notwendige Bedingung für weitere Liberalisierungsschritte.


Höhere Investitionssicherheit

Private Investitionen während des Krieges und nach seinem Ende setzen, zweitens, sowohl Finanzierungshilfen als auch Versicherungsgarantien voraus. Banken müssen wegen des schlechten Ratings der Ukraine hohe Risikogewichte für die Finanzierung von Investitionen im Land ansetzen. Die Kreditzinsen sind dementsprechend sehr hoch. Nicht wenige Unternehmen haben überdies Vermögenswerte verloren, die als Sicherheiten fungierten. Marktbasierte Finanzierung ist unter diesen Umständen praktisch unmöglich. 

Auch vor diesem Hintergrund ist die Ukraine-Fazilität der EU das entscheidende Instrument: Mit ihrer zweiten Säule schafft sie einen Investitionsrahmen, der auf die Reduzierung von Risiken abzielt, indem er europäischen Finanzinstitutionen acht Milliarden Euro für die Einrichtung von Finanzgarantiesystemen zur Verfügung stellt. Diese Mittel sollen Unternehmen zugutekommen, die in der Ukraine investieren.

Schon die Aussicht auf  einen EU-Beitritt hat lange vor der tatsächlichen Aufnahme positive Effekte für ausländische Direktinvestitionen

Ein weiterer Baustein ist die Versicherung von Investitionen. Direkte Schäden an Infrastruktur und Unternehmen beliefen sich nach einer Schätzung der Kyiv School of Economics bis Januar 2024 auf 155 Milliarden Dollar. Daher ist die Versicherung privater Investitionen gegen Kriegsschäden für die Planung neuer Investitionen während des Krieges, aber auch danach, von sehr großer Bedeutung. Investitionsgarantien wie die von der deutschen Bundesregierung liefern diese Art von Schutz und helfen, private Investitionen deutscher Unternehmen zu mobilisieren. Freilich bleibt das Gesamtvolumen mit 55 Millionen Euro – trotz eines Rekordwerts von 22 genehmigten Anträgen 2023 – vergleichsweise gering.

Internationale Finanzinstitutionen wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung oder die Multilaterale Investitions-Garantie-Agentur (die zur Weltbank-Gruppe gehört) arbeiten aktuell an ähnlichen Programmen. Insbesondere eine Verlagerung der Garantieprogramme auf Inlandsinvestitionen könnte eine ­entscheidende Wende bedeuten. 


Verbesserung des Investitionsklimas

Drittens ist von großer Bedeutung, den seit Langem bestehenden Herausforderungen in Sachen Rechtsstaatlichkeit zu begegnen, um das Wirtschafts- und Investitionsklima zu verbessern. Justizreformen und Anpassung an die Normen und Regularien der EU sind elementar, um mehr FDI anzuziehen und bei den Beitrittsverhandlungen Fortschritte zu erzielen. Auch hier spielt die Ukraine-Fazilität der EU, mit ihrer dritten Säule, eine Schlüsselrolle. Sie leistet technische Unterstützung und gewährt Heranführungshilfe.

Trotz der offensichtlichen kriegsbedingten Herausforderungen müssen die Reformen zur Verbesserung des Investitionsklimas vorangetrieben werden. Eine jüngst erschienene gemeinsame Studie der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK Ukraine) und GET hat darin 30 konkrete politische Handlungsempfehlungen formuliert. Zu diesen Vorschlägen, die auf Angaben von Mitgliedsunternehmen der AHK Ukraine beruhen, zählen horizontale und vertikale Marktreformen in verschiedenen Wirtschaftssektoren. Wie zudem Erfahrungen aus den früheren EU-Erweiterungsrunden 2004 und 2007 zeigen, hat schon die Aussicht auf einen EU-Beitritt vor der tatsächlichen Aufnahme positive Effekte auf ausländische Direktinvestitionen.


Schlüsselsektoren für Investitionen

Zentraler Bezugspunkt für alle drei Säulen der Ukraine-Fazilität ist der Ukraine-Plan. Dieser Reformplan, der von der ukrainischen Regierung erarbeitet und von der EU gebilligt wurde, identifiziert Reformbereiche und vier Schlüsselsektoren: Landwirtschaft, Energie, Transportwesen und kritische Rohstoffe. Reformen und Investitionen in diesen Sektoren haben demnach für die ukrainische Wirtschaft entscheidende Bedeutung, verbessern ihre Wachstumsaussichten und liefern Synergieeffekte für die sektorübergreifenden Ziele der grünen und der digitalen Transformation. 

Von besonderer Bedeutung sind der Energiesektor und die grüne Transforma­tion. Während Russland die kritische Energieinfrastruktur fortwährend attackiert, muss die Ukraine eine Balance finden: Einerseits gilt es, den schnellen, pragmatischen Wiederaufbau zu organisieren, um die Wirtschaft am Laufen und die Städte bewohnbar zu halten; andererseits darf sie beim Wiederaufbau auch die langfristigen Nachhaltigkeitsziele nicht aus den Augen verlieren. In diesem Zielkonflikt kann die stärkere Dezentralisierung des Energiesystems – im Ukraine-Plan als Kernziel hervorgehoben – hilfreich sein, indem Energiesicherheit und Resilienz gleichzeitig gestärkt werden. Beispielsweise können Fotovoltaik-Anlagen auf Dächern von Einrichtungen der kritischen Infrastruktur, etwa von Schulen, zusammen mit Speicherbatterien ein wirtschaftlich effizientes, dezentrales System etablieren. 

Die Ukraine betrachtet den Reformplan als einen Eckpfeiler, um Investitionen in die eigene wirtschaftliche Erholung zu generieren und um die ökonomische Annäherung an Staaten wie Polen voranzutreiben, die bereits EU-Mitglieder sind. Zudem ist auch der Verteidigungssektor ein wichtiges Investitionsfeld: Dass Vizekanzler Robert Habeck bei seinem Besuch in Kiew im April von einer Wirtschaftsdelegation aus der deutschen Rüstungsindustrie begleitet wurde, zeigt das Interesse sowohl der deutschen als auch der ukrainischen Seite. 

Die Ukraine beschreitet derzeit einen Weg, der von ökonomischer Resilienz hin zu Erholung und Wiederaufbau führt – und das während eines laufenden Krieges. Um diesen Weg zu beschreiten, bedarf es eines mehrdimensionalen Ansatzes, der finanzielle und wirtschaftliche Hilfen, Verbesserungen des Investitionsklimas sowie Vereinbarungen zur Absicherung und Risikominimierung für private Investitionen einschließt. Indem das Land all diese Herausforderungen angeht und die Zusammenarbeit zwischen inländischen und internationalen Akteuren fördert, kann die Ukraine die Herausforderungen des Krieges meistern und gestärkt aus ihnen hervorgehen. Bestenfalls lässt sich so das Fundament für nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum und Stabilität legen. Maßnahmen zur Unterstützung der Wirtschaft zu priorisieren, ist für die Dauer des Krieges unerlässlich. Um das Überleben der Ukraine zu sichern, muss ihre wirtschaftliche Widerstandsfähigkeit erhöht werden. Es braucht fiskalische Unterstützung im Zusammenspiel mit Maßnahmen zur Steigerung der wirtschaftlichen Fähigkeiten.

Zwar müssen die Anstrengungen, das Investitionsklima zu verbessern und die Investitionssicherheit zu erhöhen, kontinuierlich fortgesetzt werden. Allerdings wird der Zustrom privaten Kapitals voraussichtlich erst dann Fahrt aufnehmen, wenn der Krieg endet. Dann wird sich ein gradueller Übergang von öffentlichen zu privaten Finanzierungsquellen einstellen – ein Schlüsselmoment für die wirtschaftliche Erholung der Ukraine.

Die Rolle der EU kann nicht hoch genug bewertet werden. Neben der andauernden militärischen, finanziellen, wirtschaftlichen und humanitären Hilfe wird der EU-Beitrittsprozess in zweierlei Hinsicht potenziell einen enormen Einfluss auf private Investitionen haben: erstens durch Reformen im Bereich Rechtsstaatlichkeit, einem traditionellen Schwachpunkt im Institutionengefüge der Ukraine; zweitens durch den Zugang zu den Möglichkeiten, die der Binnenmarkt mit über 450 Millionen Konsumenten eröffnet.

Aus dem Englischen von Matthias Hempert

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2024, S. 60-64

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Robert Kirchner ist Prokurist und stellvertretender Teamleiter des German Economic Team (GET) bei Berlin Economics.

Garry Poluschkin ist Berater und Länderkoordinator Ukraine des GET bei Berlin Economics.