Intifada der 15-Jährigen
Brief aus … Athen
Zorn statt Zukunft: Griechenlands Jugend hat den Glauben an die Politik verloren
Die Bilder brennender Banken und abgefackelter Autos sind aus den Fernsehnachrichten und von den Titelseiten der Athener Zeitungen wieder verschwunden. Die Chaostage vom vergangenen Dezember, als Nacht für Nacht Qualm und Tränengasschwaden durch die Straßen zogen, scheinen vergessen. Und doch treffe ich bei meinem Gang durch Athen noch immer auf ihre Spuren: das ausgebrannte Autohaus auf der Syngrou Avenue, die rußgeschwärzte Ruine an der Filellinon Straße, die zertrümmerten Glasfassaden an der Amalias Allee. Zwar genießen die Athener in den Straßencafés die ersten sonnigen Frühlingstage. Aber die Stimmung täuscht nicht darüber hinweg, dass es unter der Oberfläche weiter brodelt. Immer wieder gehen nachts Autos in Flammen auf, explodieren selbstgebastelte Brandsätze, wie jüngst vor den Häusern von 17 Staatsanwälten, Richtern und Politikern.
Die konservative Regierung tut sich noch immer schwer mit der Aufarbeitung der Protestwelle, die durch den Todesschuss eines Polizisten auf einen 15-jährigen Schüler ausgelöst wurde. Premier Kostas Karamanlis stempelte die vermummten Chaoten zu „Feinden der Demokratie“ ab und würgte damit jede weitere Diskussion über die Ursachen der Revolte ab. Ob man nicht doch den Wurzeln der Krise nachspüren müsse, wurde die konservative Abgeordnete Katerina Papakosta im Fernsehsender Antenna TV gefragt. Ihre Antwort: Das sei „ein Luxus, den sich die Regierung nicht leisten kann“. Erst als nach den Autonomen auch die Schüler zu Zehntausenden auf die Straßen gingen, ahnte die Regierung, welches Protestpotenzial sich da zu rühren begann. „Wir müssen aufpassen, dass wir die Jugend nicht verlieren“, sagte mir ein Regierungspolitiker alarmiert. Doch daraus sprach eher die Sorge vor Stimmenverlusten als Interesse an den Nöten der Jugendlichen. Die Zeitung Eleftheros Typos schrieb von einer „Intifada der 15-Jährigen“ und kam damit dem Kern des Problems näher. So sind es vor allem die haarsträubenden Missstände im Bildungswesen, welche die Jugend auf die Straße treiben.
Bei einer dieser Demos vor dem Athener Parlamentsgebäude traf ich die 16-jährige Anna. Sie geht auf ein Lyzeum, was der deutschen gymnasialen Oberstufe entspricht. Ihr Tagesablauf sieht aus wie der vieler griechischer Gymnasiasten: Unterricht von 8 bis 15 Uhr, eine kurze Mittagspause, am Spätnachmittag drei Stunden „Frondistirion“ – so heißen die privaten Nachhilfeschulen, auf die viele griechische Eltern ihre Kinder schicken. „Ohne Frondistirion schaffst du es nicht“, sagt Anna. Das Ziel der Büffelei? Die „Panhellenischen Examina“, die Aufnahmeprüfungen der staatlichen Hochschulen, bei denen die Pennäler das ihnen eingetrichterte Wissen möglichst wörtlich reproduzieren müssen. „Wir müssen Prüfungswissen pauken“, sagt die 16-Jährige, „mit dem wir weder im Studium noch im Leben etwas anfangen können.“
Keiner der anderen 30 OECD-Staaten gibt so wenig Geld für die Schulbildung aus wie Griechenland. Das Bildungssystem produziert vor allem Arbeitslose: Jeder vierte der unter 25-Jährigen sucht vergeblich nach Arbeit, die höchste Quote in der EU. Nicht nur Schulabgänger finden keinen Job, auch viele Universitätsabsolventen müssen feststellen, dass ihre Abschlüsse praktisch wertlos sind. Nicht die Qualifikation entscheidet in Griechenland über die Karriere, sondern das „messon“, die Beziehungen. Wer keine hat, muss nach dem Studium als Kellner jobben oder mit dem Moped Pizza ausfahren. Für 681 Euro im Monat, den Mindestlohn, weshalb die Griechen auch von der „Generation der 700er“ sprechen.
Nicht einmal dazu kann sich Vagia Panagopoulou zählen. Die 24-Jährige hat ein Informatikdiplom der Athener Wirtschaftsuniversität. Ein Jahr lang arbeitete sie in der EDV einer Schweizer Spedition. Dann machte die Firma zu. Jetzt hat sie einen Halbtagsjob als Kassiererin im Supermarkt Alpha Beta, für 350 Euro. „Ich habe vier Jahre umsonst studiert“, lautet ihr bitteres Fazit. Überleben kann sie nur, weil sie wieder zu ihren Eltern zog. Auch der 25-jährige Leontis Chatzis hatte sich seine Lebensplanung anders vorgestellt: Nach viereinhalb Jahren Ingenieursstudium fährt er nun Taxi. „Unsere Abschlüsse sind nicht viel wert – die Jobs bekommen jene, die im Ausland studieren.“
Seit Generationen wird Griechenland von wenigen Politclans regiert. Der konservative Premier Kostas Karamanlis und der sozialistische Oppositionsführer Giorgos Papandreou sind typische Sprösslinge dieses Systems. Der Premier ist ein Neffe Konstantin Karamanlis, des „griechischen Adenauer“, der die politischen Geschicke des Landes von Mitte der fünfziger bis in die neunziger Jahre hinein maßgeblich mitbestimmte; Papandreous Vater und Großvater waren ebenfalls Ministerpräsidenten. Beide Politiker verdanken ihren Aufstieg vor allem ihren Familiennamen. Nicht nur die Jugend ist angesichts dieser Günstlingswirtschaft frustriert. Quer durch alle Altersklassen verlieren die Griechen ihr Vertrauen in die Demokratie. Wie dramatisch es um sie bestellt ist, zeigt eine gerade veröffentlichte Meinungsumfrage, welchen von 48 vorgegebenen Institutionen die Griechen am meisten vertrauen. Das Ergebnis: Die Regierung landet auf dem vorletzten, die Parteien auf dem letzten Platz. Das Parlament schafft es gerade mal auf Rang 36. Am meisten vertrauen die Griechen ihrer Feuerwehr – und dem Wetterdienst.
GERD HÖHLER ist Korrespondent des Handelsblatt in Athen. Er lebt seit 30 Jahren in der griechischen Hauptstadt.
Internationale Politik 3, März 2009, S. 96 - 97.