Titelthema

21. Juni 2023

Interview mit Carlo Masala: „Ich halte unsere Gesellschaft für nicht besonders wehrhaft“

Wie lässt sich die liberale Demokratie gegen autokratische Angriffe verteidigen? Ein Gespräch über Destabilisierung und Desinformation, über woke Streitkräfte und schmutzige, aber notwendige Deals.

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Bild: Porträt von Carlo Masala mit verschränkten Armen
Prof. Dr. 
Carlo Masala lehrt Internationale 
Politik an der Universität der Bundeswehr in Mün
chen. Er ist einer der Hosts des Podcasts „Sicherheitshalber“. Sein neues 
Buch „Bedingt abwehrbereit. Deutsch
lands Schwäche in der Zeitenwende“ 
erscheint in diesem 
Sommer beim Verlag C. H. Beck in München.
Lizenz
Alle Rechte vorbehalten

IP: Herr Masala, wir möchten mit Ihnen über demokratische Wehrhaftigkeit sprechen. Sie haben im Podcast „Sicherheitshalber“ gesagt, es sei ein Fehler, demokratische Wehrhaftigkeit aufs Militärische zu reduzieren. Wie lautet Ihre Definition?

Masala: Sie lautet, dass Staaten und Gesellschaften wehrhaft sein müssen. Eine wehrhafte Gesellschaft muss in der Lage sein, für ihre Werte zu kämpfen – und das eben nicht nur im militärischen Sinne. Letztlich heißt es, sich das Privileg bewusst zu machen, in einer freiheitlichen Demokratie zu leben, und bereit zu sein, ihre Fundamente mit allen Mitteln zu verteidigen.



Wie verbreitet ist denn das Bewusstsein für dieses Privileg?

Ich fürchte, es nimmt ab. Seit ein paar Jahren leben mehr Menschen in autokratischen Staaten als in demokratischen. Auch in Deutschland und Europa ist die Überzeugung auf dem Rückzug, dass es etwas Besonderes ist, Teil einer freien, demokratischen Gesellschaft zu sein. Und damit wird auch die Bereitschaft schwächer, diese Werte zu verteidigen.



Zum erweiterten Verständnis von Wehrhaftigkeit passt der Sicherheitsbegriff des Politikwissenschaftlers Richard Löwenthal. „Sicherheit ist die Freiheit der gesellschaftlichen Entwicklung“, hat Löwenthal Anfang der 1970er Jahre gesagt, und Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock hat diesen Gedanken im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine wieder aufgenommen. Was macht diesen Satz so zeitlos?

Zeitlos ist dieser Satz deshalb, weil er den Kern der Sicherheit von Staaten und Gesellschaften beschreibt: frei in seiner eigenen Entscheidung zu sein. Wir können uns gesellschaftliche Zwänge bei unserer Entscheidungsfreiheit auferlegen, aber sie sind selbst auferlegt. Und wir entscheiden über unsere innere und äußere Entwicklung auf der Basis unserer eigenen Diskussionen. Löwenthals Satz kommt aus der Hochzeit des Ost-West-Konflikts, aus einer Zeit, in der Sicherheit primär militärisch gedacht wurde. Seit den 1990er Jahren wurde der Begriff erweitert, etwa ökonomisch oder ökologisch, aber im Kern ging es immer um die Freiheit von Gesellschaften, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen.



Warum ist der Satz heute so aktuell?

Weil wir aufgrund des russischen Angriffskriegs viele Bedrohungen wieder primär militärisch sehen. Allerdings verkennen wir dabei, dass dieser Krieg auch ein hybrider Krieg ist, der gegen eine bestimmte Art und Weise zu leben geführt wird, gegen die Freiheit, gegen die Demokratie. Wir müssen zwar nicht befürchten, dass russische Panzer durch Berlin fahren oder russische Interkontinentalraketen hier niederregnen. Aber gegen uns wird seit Jahren ein Desinformations- und Destabilisierungskrieg geführt, der Beschränkungen der Freiheit und der gesellschaftlichen Entwicklung zur Folge hat.



Wie kann sich der demokratische Staat dagegen verteidigen? Von dem Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt das Diktum, wonach der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Die Freiheit, die dieser Staat seinen Bürgern gewähre, müsse sich von innen her regulieren, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft. Mit Zwang und Autorität könne der Staat diese Regulierungskräfte nicht garantieren, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben …

Böckenförde hat das stark juristisch gemeint. Einer meiner akademischen Lehrer, Ulrich Matz, hat einmal gesagt: „Das Problem der Demokratie ist, dass zu wenige Demokraten für sie sterben wollen.“ In jeder Ideologie, ob im radikalen Islamismus, im Kommunismus oder im Faschismus, gibt es eine erhebliche Anzahl fanatisierter Menschen, die bereit sind, ihr Leben für diese Ideologie zu geben. Das ist bei der Demokratie nicht der Fall – sie ist keine Ideologie. Die Demokratie akzeptieren wir als gegeben. Selbst wenn sie auf dem Spiel steht, ist die Demokratie nicht in der Lage, Massen zu mobilisieren.



Wäre der Zweite Weltkrieg nicht ein ­Gegenbeispiel?

Im äußeren Verhältnis schon. Es war eine Demokratie, die eingegriffen hat, aber nicht, weil ihre eigene Demokratie gefährdet war, sondern um zu verhindern, dass Nazideutschland die Hegemonie über die eurasische Landmasse erreicht. Aber es ist etwas anderes, wenn die Demokratie selbst angegriffen wird. Dann brauchst du Leute, die bereit sind, gegebenenfalls ihr Leben dafür zu lassen. Das erleben wir gerade in der Ukraine. Aber in den etablierten westeuropäischen Demokratien haben wir schon das Problem, dass es zu wenige Menschen gibt, die wirklich bereit sind, sie zu verteidigen.



Zeigt der Ukraine-Krieg aber nicht auch, dass sich die westlichen Demokratien zusammenschließen können, wenn sie durch einen äußeren Feind bedroht sind?

Ja, vielleicht müsste ich präziser sein und den äußeren Angriff von inneren Erosionen trennen. Wir beobachten seit Jahren, wie Populisten in den USA und Europa die Axt an die pluralistische Demokratie legen. Von einem massiven Widerstand dagegen kann keine Rede sein. Und ich halte auch dieses ganze Gerede à la: „In der Ukraine werden unsere Demokratie und Freiheit verteidigt“ für Unsinn. Ich glaube, wir unterstützen die Ukraine, weil wir wissen, dass die Sicherheit und Stabilität Europas für die nächsten 10, 20 Jahre perdu sind, wenn Russland sich dort durchsetzt.

 

Aber kommt das nicht aufs Gleiche raus? Früher nannte man das den Domino­effekt, wenn ein Land nach dem anderen ins Wanken gerät.

Erstens hat sich die Domino-Theorie empirisch nicht bewahrheitet. Und zweitens sehe ich eine Gefahr für Moldau und die baltischen Staaten, nicht aber für Polen oder Deutschland.



Ein Angriff Russlands auf die baltischen Staaten wäre ja schon ein Bündnisfall.

Ja, nur: Würde das Bündnis entsprechend darauf reagieren? Ich halte das für eine offene Frage. Sind die USA bereit, ihre eigene Sicherheit zur Befreiung der baltischen Staaten zu riskieren? Ganz sicher davon ausgehen würde ich nicht. Wenn man erklärt, dass jeder Meter des NATO-Territoriums verteidigt werden solle, dann bleibt die Frage, ob das letzten Endes mit aller Konsequenz durchgezogen wird, gegebenenfalls unter Einsatz von Nuklearwaffen – und mit der Perspektive, einen dritten Weltkrieg zu riskieren.



Sie haben davon gesprochen, dass sich Russlands Angriffskrieg auch gegen eine bestimmte, gegen eine freiheitliche Lebensweise richtet. Wo würden Sie den Krieg im Konflikt zwischen Demokratie und Diktatur einordnen?

Ich würde einen anderen Begriff verwenden: Es ist der Krieg einer revisionistischen Macht. Wir haben es hier aber nicht mit Revisionismus im klassischen Sinne zu tun, sondern mit einem moralisch-werte­mäßigen Revisionismus, der all die Errungenschaften, die unsere liberalen, demokratischen Gesellschaften in den vergangenen 50 Jahren erreicht haben, revidieren will. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass Russland nicht so sehr die linksextremen Kräfte in den westeuropäischen Gesellschaften unterstützt, sondern die Rechtsextremisten oder Rechtspopulisten – denn die teilen sein Weltbild. Da kommen ein innenpolitischer und ein außenpolitischer Revisionismus zusammen.



Ist es auch ein Krieg gegen die Diversität, gegen die Vielfalt?

Ja, in der zweiten Ordnung schon. Zweite Ordnung meint einen Krieg gegen die Art und Weise, wie die meisten unserer Gesellschaften sich in den vergangenen 50 Jahren entwickelt haben. Und das heißt offener und toleranter, weniger stark geprägt von religiösen Einflüssen, von traditionellen Familienvorstellungen.



Sie haben einmal den US-Politikwissenschaftler Jason Lyall zitiert, der gesagt hat, Armeen seien umso stärker auf dem Schlachtfeld, je stärker sie die Diversität der Gesellschaften widerspiegelten, für die sie kämpfen. Inwiefern ist „woke und wehrhaft“, wie Sie es nennen, ein militärischer Trumpf?

Wenn ich Streitkräfte habe, die in ihren Grundstrukturen die Diversität ihrer Gesellschaft widerspiegeln, sexuell, ethnisch, religiös, dann wissen die, was sie verteidigen. Andernfalls hat man eine Art Spartaner-Armee, bestehend aus jungen, weißen, heterosexuellen Männern. Warum sollen die für eine Gesellschaft kämpfen, die sie vielleicht wertemäßig komplett ablehnen? Warum sollen sie die Rechte von homosexuellen oder transsexuellen Menschen verteidigen oder die Rechte von Menschen, die hier geboren sind, aber den Pass dieses Landes nicht haben?



Könnte das eine Erklärung für die Schwäche der russischen Armee sein?

Zumindest teilweise. Die russische Armee spiegelt nicht ihre Gesellschaft wider. Und innenpolitisch beschneidet Putin die Diversität, indem er seinen Repressions­apparat gegen alle mobilisiert, die nicht seinem klassischen Gesellschaftsverständnis entsprechen.



Die Armee der USA ist eine große Integrationsmaschine, in der Ukraine werden queere Kämpfer hoch respektiert, in Israel werben die Streitkräfte auf CSD-­Paraden für sich. Ist Deutschland hier auf einem guten Weg?

Ich fürchte, dass die aktuelle Diskussion um Landes- und Bündnisverteidigung dazu führen wird, dass wir einen Schritt zurück bei der Diversität machen, weil „traditionelle“ Militärthemen im Mittelpunkt stehen. Und ich glaube, das wäre der falsche Weg. Warum etwa sollte sich eine Transperson nicht fürs Militärische interessieren? Wir sprechen keine Türken mit deutschem Pass an, wir müssten noch viel stärker auf Frauen zugehen. Obwohl wir so viele muslimische Soldaten haben, gibt es noch immer keine Imame in der Bundeswehr. Wir beschäftigen uns im Wesentlichen mit der klassischen deutschen Klientel, und damit grenzen wir alle anderen aus, die in dieser Republik zahlenmäßig mittlerweile sehr stark vertreten sind. Ich glaube, da könnte und müsste die Bundeswehr lockerer werden, moderner.



Was können wir da von anderen lernen, insbesondere von den Amerikanern?

In den USA ist der Gedanke sehr stark verbreitet, dass die Streitkräfte den Angehörigen bestimmter ethnischer Gruppen Chancen bieten, die sie sonst nicht hätten. Es gibt Möglichkeiten der Weiterentwicklung, nicht nur der individuellen, auch der beruflichen. Die Bundeswehr konnte bisher auf derartige Anreize im Großen und Ganzen verzichten, weil wir die Wehrpflicht hatten, die man in den USA im Zuge des Vietnam-Krieges abgeschafft hatte.



Jetzt haben wir sie auch nicht mehr …

Ja, und jetzt stellen wir fest, dass wir unser personelles Soll nicht erfüllt bekommen. Angesichts der demografischen Entwicklung in Deutschland muss unsere Armee sich Gedanken machen, wie sie alle möglichen Interessierten ansprechen kann.



Alles eine Frage des politischen Willens?

Alles eine Frage des politischen Willens. Ich nenne mal ein Beispiel: Die Bundespolizei hat anderthalb Jahre juristisch prüfen lassen, ob es möglich ist, EU-Ausländer bei sich aufzunehmen. Nach eineinhalb Jahren war das Ergebnis da, und jetzt macht die Bundespolizei das. Die Bundeswehr beschäftigt sich seit mindestens sieben Jahren mit dieser Frage, und vor zwei Jahren wurde sie vom damaligen General­inspekteur Eberhard Zorn in einer Rede mit einer Randbemerkung weggewischt. Offenbar will man Teilen der Gesellschaft so etwas nicht zumuten.



Schauen wir doch einmal genauer auf das Verhältnis dieser Gesellschaft zu ihrer Bundeswehr. Inwieweit würden Sie sagen, dass der Ukraine-Krieg da etwas verändert hat? Ist die Akzeptanz der Bundeswehr gestiegen, hat der Gedanke, dass wir wehrhaft sein müssen, an Gewicht gewonnen?

Nein. Die Deutschen haben ein ausgesprochen schizophrenes Verhältnis zu ihren Streitkräften, finde ich. Alle Umfragen kommen zu dem Ergebnis, dass die Bundeswehr eine der vertrauenswürdigsten Institutionen ist und dass die Deutschen eine Armee wollen, die vernünftig ausgerüstet ist. Aber sie möchten sie nicht einsetzen. Die Bundeswehr ist noch immer dann am beliebtesten, wenn sie im Rahmen der Amtshilfe tätig wird.



Als das berühmte „bewaffnete Technische Hilfswerk“?

Genau. Was die Soldaten für einen Zuspruch erfahren, wenn sie mal ein Telefon im Gesundheitsamt in die Hand nehmen, das ist unglaublich. Dazu kommen Einsätze wie der bei der Flutkatastrophe im Ahrtal. Das finden die Deutschen super. Aber wenn es um die originären Aufgaben der Bundeswehr geht, ist die Skepsis groß. Hinzu kommt, dass wir im Ukraine-Krieg ein inhärentes demokratisches Problem erleben: Am Anfang wurde die Verteidigung der Ukraine bei uns von großer Zustimmung begleitet. Aber derzeit habe ich das Gefühl, dass die Solidarität schwindet. Bei Corona war es ähnlich: Die Zustimmung zu den Maßnahmen der Regierung war im ersten Jahr der Pandemie groß, aber je länger sie sich zog, desto mehr brach das ab. In demokratischen Gesellschaften fehlt der lange strategische Atem. Autokratien dagegen sind nicht so sehr auf die Zustimmung ihrer Bevölkerung angewiesen, weil sie andere Methoden haben, mit Protesten umzugehen.

 

Nun kommt ja, wie wir in den USA und anderswo gesehen haben, die autokratische Bedrohung nicht nur von außen. Wenn wir erleben möchten, wie eine Demokratie „kippen“ kann, genügt ein Blick nach Ungarn. Was sind aus Ihrer Sicht, analog zur Ökologie, die „Kipppunkte“ des demokratischen Systems – die Eckpfeiler, die nicht fallen dürfen?

Ich glaube, ein Pfeiler, der stehen bleiben muss, ist die Kommunikation; Kommunikation in die Breite, nicht nur mit dem engeren Kreis der Expertinnen und Experten. Wenn Menschen das Gefühl haben, sie können nicht mehr nachvollziehen, warum bestimmte Sachen passieren, dass „die da oben machen, was sie wollen“: Dann kommt irgendwann der Punkt, an dem die Leute sich abwenden.



Was die Kommunikation zusätzlich erschwert, sind Desinformation und Fake News, besonders in den sozialen Netzwerken. Wie kann sich der freiheitliche Staat dagegen wehren, ohne, wie es bei Böckenförde heißt, seine Freiheitlichkeit aufzugeben?

Das ist in der Tat ein Problem. Aber wir haben ja nicht umsonst im Grundgesetz das Prinzip der wehrhaften Demokratie. Nehmen wir noch einmal die Corona-Pandemie. In dem Moment, in dem Desinformation und Fake News dazu führen, dass lebensrettende Entscheidungen konterkariert werden, muss dieses Prinzip greifen. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Aber wenn sie ganz bewusst als Instrument eingesetzt wird, um den Staat zu untergraben, dann sollte man sich überlegen, inwieweit man da reagieren muss. Das ist ein schwieriger Balanceakt. Aber ich glaube, man muss ihn wagen.



Was halten sie von Initiativen wie Joe Bidens „Summit for Democracy“, wo es darum geht, dass sich Demokratien zusammenschließen, um sich der autokratischen Bedrohung zu erwehren?

Ich bezweifle, dass das der richtige Weg ist. Meines Erachtens verläuft die künftige Bruchlinie nicht zwischen Demokratien und Autokratien, sondern zwischen Status-quo-Mächten und revisionistischen Staaten. Schauen Sie einmal, wer sich angesichts des russischen Angriffskriegs neutral verhält: Das sind nicht nur Autokratien, da sind auch Demokratien dabei, die ein anderes internationales System wollen, etwa Südafrika oder Indien. Und gleichzeitig haben wir Autokratien wie Viet­nam, einen krypto-kommunistischen Staat, der aber beim Thema China an der Seite der USA steht. Wenn ich jetzt eine Trennlinie zwischen Autokratien und Demokratien ziehe, dann gerate ich als Demokratie in die Gefahr, mit doppelten Standards zu arbeiten. Ich kooperiere mit Vietnam und verletze so meine eigene Trennlinie. Wir werden mit autokratischen Systemen zusammenarbeiten müssen; wir werden teilweise sogar Rüstungsexporte dahin betreiben müssen, weil man dort unser Interesse an der Stabilität des internationalen Systems teilt. Und deshalb habe ich ein Problem mit der Unterteilung zwischen Demokratien und Autokratien.



Wenn die Linie zwischen Status quo und Revision verläuft: Ist dann die Blockbildung zwischen China und Russland ein Beispiel dafür, dass gleichgesinnte ­Staaten zusammenkommen?

Gleichgesinnt insofern, als dass beide das internationale System grundlegend ändern wollen, ja.



Brasilien unter Lula da Silva verhält sich ähnlich …

Brasilien ist ein gutes Beispiel, denn in dieser Frage unterscheiden sich Jair Bolsonaro und Lula nicht so sehr. Sie mögen innenpolitisch komplett unterschiedliche Vorstellungen haben, aber außenpolitisch gibt es eine große Kontinuität, und das ist aus ihrer Perspektive eine antiimperialistische. Da sind sie den Russen und Chinesen näher als den Amerikanern und uns.



Sollten sich die Demokratien also künftig mit Status-quo-Staaten zusammentun und so am Erhalt einer regelbasierten Weltordnung arbeiten?

Richtig, genau das wäre es. Bei der Bewertung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sehen wir, analog zum amerikanischen Wahlsystem, eine Reihe von Swing States. Die sitzen quasi auf dem Zaun und entscheiden fallweise, auf wessen Seite sie sind. Deswegen ist es in unserem Interesse, mit diesen Staaten zu kooperieren, um zu verhindern, dass sie sich öfter auf die russisch-chinesische Seite schlagen als auf die amerikanisch-europäische. Und ich glaube, das ist momentan auch ein Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik.



Kollidiert das nicht mit der vielbeschworenen werteorientierten Außenpolitik?

Ja, natürlich, denn es heißt auch, dass man schmutzige Deals eingehen muss. Diesen Zwiespalt muss man ganz offen thematisieren. Wie ein Robert Habeck seine eigenen Dilemmata beim Gas-Deal mit Katar kommuniziert hat, fand ich vorbildlich. Ich glaube, das spricht viele Menschen an, denn so können sie nachvollziehen, warum man kein Gas mehr vom autokratischen Russland bezieht, aber sehr wohl vom autokratischen Katar.



Spielt es dann überhaupt eine Rolle, wie attraktiv das System Demokratie im Vergleich zur Autokratie ist? Oder geht es nur um die rationalen Vorteile, die eine Kooperation mit uns bringen könnte?

Ich glaube, das hängt davon ab, wen man erreichen will. Wenn es nur um die Staats- und Regierungschefs geht, dann muss die Demokratie nicht attraktiv sein, dann muss ich lediglich Angebote machen, die attraktiv für mein Gegenüber sind. Will ich aber die Gesellschaften erreichen, dann benötige ich schon ein attraktives Modell. Denn letztlich müssen Gesellschaften auch in Autokratien eine bestimmte Politik mittragen. Wenn ich das richtig sehe, beobachten wir derzeit in Afrika einen wachsenden Widerstand gegen chinesische Infrastrukturprojekte, weil die keinerlei lokalen Bezug haben.



Was können wir den lokalen Gesellschaften konkret anbieten?

Einiges! Erleichterungen bei der Visa­regelung, Studienplätze, im Grunde alles das, was mit Soft Power bezeichnet wird. Dadurch lassen sich weitaus nachhaltigere Beziehungen aufbauen. Wenn man nur auf der Staats- und Regierungsebene kooperiert, muss man damit rechnen, dass irgendwann andere ans Ruder kommen, eventuell aus der Opposition, und dann hat man im Zweifel ein Problem.



Zum Abschluss unseres Gesprächs möchten wir Sie noch um eine Wertung bitten. Wie stark schätzen Sie den Verteidigungswillen und die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie ein?

Auf einer Skala von 1 bis 10? Bei einer 3. Ich halte unsere Gesellschaft für nicht besonders wehrhaft. Ich fürchte, in der Situation, in der sich die Ukraine befindet, würden größere Teile unserer Gesellschaft sagen: Lasst uns kapitulieren. Ich finde es erstaunlich, dass gerade in einem Land, das seine Freiheit der Befreiung durch die Alliierten 1945 verdankt, signifikante Teile der Bevölkerung bereit sind, die Ukraine zu opfern, damit sie ihre Ruhe haben.



Das wäre ein hervorragendes Schlusswort, aber kein besonders erfreulicher Ausblick …

Ich habe das mal an anderer Stelle gesagt: Wenn Sie etwas Positives haben möchten, dann müssen Sie jemand anderen fragen.

 

Die Fragen stellten Martin Bialecki, Henning Hoff, Joachim Staron und Louisa Warth.   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 4-11

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