Indonesiens Balancepolitik: Rudern zwischen den Riffen
Indonesien ist mit seiner Politik von Balance und Äquidistanz ein attraktiver, berechenbarer Partner. Europa sollte mehr Initiative zeigen und das Verhältnis neu bestimmen.
In Europa ist allgemein so wenig über Indonesien präsent, dass jede Hinführung zum Thema zunächst versichern muss, wie wichtig und bevölkerungsreich das Land sei – ein Zeichen, dass es an Vertrautheit und eingespielten Beziehungen fehlt. Und wenn Indonesien zur Sprache kommt, wird es häufig als ein vorrangiger Vertreter des Globalen Südens angeführt – was bei genauerem Hinsehen jedoch eher wie eine Kategorisierung von außen erscheint. Wie verhält sich Indonesien also zur Welt? Welche Maximen bestimmen seine Außenpolitik?
Der langsame, unauffällige, doch nachhaltige Aufstieg des Landes lädt zu einem tieferen Verständnis und natürlicheren Umgang mit der Archipelnation ein. Indonesien, aktuell auf Platz 16 der größten Volkswirtschaften, wird bei anhaltenden Wachstumsraten den Weg in die Top 10 finden. Der weitaus größte Markt der Region weist eine junge Bevölkerungsstruktur mit einer expandierenden, dynamischen Mittelschicht auf. Gleichzeitig ist das Land die einzige eingespielte Demokratie der Region. Nicht zuletzt machen Konstanten der indonesischen Weltsicht und Außenpolitik das Land zu einem attraktiven Partner für europäische Politik und Wirtschaft.
Indonesien erkämpfte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Unabhängigkeit von der niederländischen Kolonialherrschaft und japanischen Besatzung im Kontext der Blockbildung des Kalten Krieges und der Dekolonialisierung. Sukarno, einer der Führer der Unabhängigkeitsbewegung und der Gründungspräsident des Landes, gab als kosmopolitisch veranlagter Visionär dem jungen Staatswesen eine globale Perspektive: Mit Vermeidung der großen Blocksysteme des Kalten Krieges suchte Indonesien Weltrang als antikoloniale Führungsmacht der blockfreien Staaten und Sprecher eines weltweiten Tiers-Mondisme. Sukarno’s Vize und Außenminister Mohammad Hatta brachte dies auf die vielzitierte Formel des „Ruderns zwischen zwei Riffen“.
Nach innen wurden die globalen Ambitionen durch eine Synthese von Kommunismus, Islam und Nationalismus ergänzt und die wichtigsten politischen Strömungen des Landes an der Macht beteiligt. Die Bandung-Konferenz der blockfreien und dekolonisierenden Staaten Asiens und Afrikas 1955 war der symbolische Höhepunkt dieses global ausgerichteten Indonesiens.
Innere Spannungen und äußerer Druck zur Lagerkonformität brachten das Sukarno-System Mitte der 1960er Jahre zur Implosion. Nach dem Massenmord an den Anhängern der Kommunistischen Partei Indonesiens war der Weg zur Annäherung an den Westen vorgezeichnet. Indonesiens Beziehungen mit der Sowjetunion litten, Verbindungen mit China wurden sogar völlig gekappt. Die Blockfreiheit erhielt sich dennoch als Grundkonstante.
Als eine militärisch dominierte Entwicklungsautokratie herrschte das New- Order-Regime unter Suharto für die nächsten drei Jahrzehnte. Nationale Entwicklungsziele standen im Vordergrund. Nicht zuletzt ging den Spitzen des Regimes in der charakteristischen Selbstbezogenheit kleptokratischer Regime auch die intellektuelle Verfasstheit für Führungsrollen über den eigenen Tellerrand hinaus ab. Ein geistiger Rückzug nach innen bei gleichzeitiger wirtschaftlicher Öffnung nach neoliberalen Mustern kennzeichnete diese Phase.
Selbstverständnis als Einzelakteur
Auch nach dem Übergang zur Demokratie in den späten 1990er Jahren folgte kein radikaler Wandel dieser Grundposition. Jedoch rückte mit zunehmendem Erfolg der inneren Entwicklungsziele der Blick wieder mehr nach außen – eine Entwicklung, die besonders unter dem aktuellen Präsidenten Joko Widodo deutlich geworden ist. Dabei findet gelegentlich ein Rückbezug auf frühere Maximen unter dem Schlagwort „Bandung“ statt, ist jedoch nicht handlungsleitend.
Indonesien sieht eigene Vorteile am ehesten in guten Beziehungen zu allen Weltmächten
Hiermit verbundene Kategorien wie der Globale Süden finden somit zwar gelegentlich den Weg in den außenpolitischen Diskurs, doch dominant ist ein viel grundlegenderes Selbstverständnis als Einzelakteur, gefolgt von der Situierung im regionalen Umfeld und der Konkurrenz zwischen den Großmächten China und den USA. Maßgeblich ist also weniger eine abstrakte Solidarität innerhalb des Globalen Südens, sondern vielmehr der interessengeleitete Blick von innen nach außen. Die Ziele des Landes im Inneren, vor allem im Feld von Wirtschaft und Entwicklung, prägen die außenpolitische Grundhaltung. Resultat ist eine selbstbewusste Interessenpolitik ohne eine breitere ideologische Agenda, Führungsansprüche oder andere konfliktträchtige Haltungen.
Eine abwägende Balancepolitik
In der außenpolitischen Praxis Indonesiens bedeutet dies, eine ruhige, abwägende Balancepolitik zwischen verschiedenen Akteuren auszugestalten und mit allen diesen Akteuren möglichst gute, wirtschaftlich fruchtbare Beziehungen anzustreben. Weltsicht und Außenpolitik finden in der Balancepolitik zusammen.
Dieser zurückhaltende Charakter mag dazu beigetragen haben, dass Indonesien in Europa oft übersehen oder unterschätzt wurde und dass das Land nicht immer gemäß seines Gewichts Einfluss entfalten konnte. Balance und Ausgleich ist dabei weniger als idealistische Grundhaltung zu verstehen, sondern als Interessenpolitik eines Akteurs, der kleiner als die drei großen Machtpole China, Indien und USA, aber gleichzeitig größter Pol innerhalb der eigenen Region ist. Es liegt nahe, dass Indonesien im Dreieck der Weltmächte eigene Vorteile am ehesten in guten Beziehungen zu allen sieht, statt sich zum Anhängsel einer Seite zu machen.
Wirtschaftliche Kooperation: China dominiert die indonesischen Export- und Importstatistiken
Die indonesische Balancepolitik basiert auf einer Reihe einfacher Grundprinzipien: die Vermeidung von Parteinahme in internationalen Konflikten und in der Großmachtkonkurrenz zwischen China, Indien und den Vereinigten Staaten; die Vermeidung eigener auswärtiger Konflikte (Indonesien hat keine bedeutsamen Territorialkonflikte mit seinen Nachbarn) sowie die Priorisierung wirtschaftlicher Entwicklung und ökonomischer Beziehungen gegenüber Maximen, die zum Beispiel aus verpflichtenden Allianzsystemen erwachsen würden.
Äquidistanz zu den großen Machtpolen erlaubt Indonesien, wirtschaftlich enger an China angebunden zu sein, in militärischen Belangen aber stärker mit westlichen Partnern, vor allem den USA und Australien, zu kooperieren und gleichzeitig mit Indien fruchtbare Beziehungen zu kultivieren.
Strategische Partnerschaft mit den USA
Die Vereinigten Staaten und Indonesien können auf eine längere Kooperation zurückblicken. Seit den Massakern an der indonesischen Kommunistischen Partei in den 1960ern lehnten sich insbesondere Armee und Sicherheitsapparat in Indonesien an westliche Partner an – eine inzwischen traditionelle Orientierung, die sich erhalten hat. Dennoch vermied Indonesien bis heute formelle Allianzsysteme.
In den folgenden Jahrzehnten wurde amerikanisches Gebaren seitens der indonesischen Bevölkerung häufig als Einmischung in innere Angelegenheiten und als hegemonialer Hochmut empfunden, was seinen Teil zu antiamerikanischen Einstellungen in der Bevölkerung beigetragen hat. Dies schlägt sich jedoch nicht in der offiziellen Politik nieder, Beziehungen und wirtschaftlicher Austausch entwickelten sich in ruhigen Bahnen. 2023 unterzeichneten Indonesien und die USA ein Abkommen zur strategischen Partnerschaft, das von Kultur über Investitionsförderung bis hin zur Diversifizierung der globalen Halbleiterproduktion Absichtserklärungen in vielen Feldern umfasst. Insgesamt sind diese bilateralen Beziehungen jedoch aufgrund der indonesischen Grundhaltung von Balance und Äquidistanz lockerer und informeller als etwa jene der USA mit den Philippinen oder Vietnam.
Chinesisch-indonesische Beziehungen entwickelten sich positiv und konfliktfrei seit dem Ende des Kalten Krieges. Diese Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen wurde durch bereits vorhandene Kanäle der chinesischstämmigen Indonesier (geschätzt auf über drei Millionen Menschen zumeist aus Minderheitengruppen Südchinas) erleichtert, die traditionell eine starke Position im Handel und Unternehmertum Indonesiens innehaben. Heute dominiert China die indonesischen Export- und Importstatistiken. Besonders aktiv ist das Land im Rohstoffabbau, zu dem neue Felder wie die Batterieproduktion für Elektrofahrzeuge kommen.
Die Achse Indien–Indonesien ist die dritte und vergleichsweise am wenigsten entwickelte der indonesischen Balancepolitik zwischen den Großmächten. Beide Staaten haben sich aus der blockfreien Phase des Kalten Krieges eine eher zurückhaltende außenpolitische Tradition bewahrt. Seit circa einem Jahrzehnt bemühen sich beide Seiten, ihre Beziehungen zu intensivieren. Indien sieht Indonesien als Teil einer weitläufigen zivilisatorischen Sphäre, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten unter dem kulturellen Einfluss Indiens und des Hinduismus stand.
Mit dem Freihandelsabkommen von 2003 zwischen Indien und den ASEAN- Staaten wurde eine Wachstumsphase im indonesisch-indischen Handel begründet, der so bald en par mit dem indonesisch-amerikanischen Handel sein dürfte.
Die Balancepolitik bedeutet bei vielen internationalen Konflikten ein abwägendes, konfliktvermeidendes Manövrieren zwischen den Polen und Konfliktparteien. Konkret heißt dies etwa, dass Indonesien an den vietnamesisch-philippinisch-chinesischen Konflikten um die Inselarchipele des Südchinesischen Meeres weder beteiligt ist noch sich in diese einmischt.
Die Sorgen der ASEAN-Partner ob der maritimen Expansion Chinas beobachtet Indonesien bequem aus sicherer Distanz. Ebenso unterhält Indonesien gute Wirtschaftsbeziehungen mit Taiwan, vermeidet aber Schritte, die Festlandchina verärgern würden. Zu Beginn der russischen Invasion der Ukraine verurteilte die indonesische Regierung kriegerische Handlungen gegen die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine, schloss sich jedoch in keiner Weise den westlichen Reaktionen an. Unter der G20-Präsidentschaft Indonesiens 2022 reiste Präsident Joko Widodo zu Friedensgesprächen nach Kiew und Moskau und unterstrich auch so Indonesiens Selbstbild als Mittler und neutraler Pol.
Neben der Balancepolitik bilden die regionale Situierung und kulturelle Solidaritäten weitere Achsen der indonesischen Weltsicht, die sich in der Außenpolitik des Landes niederschlagen. Diese sind das südostasiatische Umfeld und die Kooperation innerhalb der ASEAN-Gemeinschaft sowie die Ausrichtung hin zur islamischen Welt. Indonesien ist die Führungsmacht der lockeren Interessengemeinschaft und Freihandelszone unter dem Dach der ASEAN-Kooperation, dessen Sekretariat sich in der indonesischen Hauptstadt Jakarta befindet.
Ausrichtung hin zur islamischen Welt
Traditionell unterhält Indonesien gute Beziehungen zu allen Teilen der islamischen Welt. Durch die Missionsbestrebungen finanzkräftiger Golfstaaten und Arbeitsmigration entstanden mehr Verbindungen und Mobilitätsformen zwischen Indonesien und arabischen Ländern. In den vergangenen Jahren intensivierten sich auch die Beziehungen zur Türkei, die ein hervorragendes Ansehen in Indonesien genießt. Die türkische Seite hat diesen Vorteil inzwischen erkannt und bemüht sich intensiv um indonesische Studenten und militärische Kooperation.
Indonesien verweigert Israel weiterhin die Anerkennung und engagiert sich humanitär in den palästinensischen Gebieten. Islamistische Strömungen sind ein Teil der politischen Landschaft Indonesiens, sie spielen nach Jahren des steigenden politischen und kulturellen Einflusses in den letzten Wahlen vom Februar 2024 aber nur noch eine untergeordnete Rolle.
Luft nach oben: Europa und Indonesien
Ähnlich wie die indonesischen Beziehungen zu den drei großen Mächten sind auch die zur Europäischen Union frei von grundlegenden Konflikten. Jedoch entwickelten sie sich nicht im gleichen Maße – besonders EU-Regularien führten zu holprigen Phasen. Deshalb bieten die Beziehungen zwischen Europa und Indonesien noch viel Potenzial.
Wichtiger als die koloniale Vergangenheit sind heute Unstimmigkeiten über den Rohstoff-, insbesondere den Nickelhandel
Die koloniale Vergangenheit spielt dabei kaum noch eine Rolle. Mit Ausnahme einer regen Wissenschaftskooperation sind die Niederlande von marginaler Bedeutung für Indonesien. Von Groll oder Revanchismus gegen die ehemaligen Kolonisatoren ist wohl auch wegen dieser geschmälerten Bedeutung in Indonesien wenig zu spüren. Im Gegenteil: Die indonesische Sicht auf die Niederlande ist zumeist freundschaftlich und sich einer besonderen Verbindung bewusst. Als sich sowohl der König als auch der Premierminister für die Gewaltexzesse der Kolonialzeit entschuldigten, ging dies eher von den Niederlanden selbst aus und war nicht seitens Indonesiens eingefordert worden. Erinnerung an den Kolonialismus dient hier zumeist dazu, via Erzählungen vom historischen antikolonialen Widerstand eine geeinte indonesische Nation in die Vergangenheit zu projizieren, ist aber sonst weniger präsent.
Unstimmigkeiten entsprangen vielmehr ganz profanen Dingen wie dem Nickelhandel. Indonesien verfügt über einen massiven Überschuss im Handel mit Europa, der sich aus der Bedeutung des Rohstoffexports ergibt. Nachdem die indonesische Regierung mehr von der Wertschöpfungskette im Land behalten und nur noch Nickelprodukte exportieren lassen wollte, eröffnete die EU ein Verfahren bei der Welthandelsorganisation, das zu Ungunsten Indonesiens ausging.
Verhandlungen zum indonesisch-europäischen Handelsabkommen ziehen sich seither in die Länge. Europäische und deutsche Firmen sind auf dem indonesischen Markt unterrepräsentiert. Beispielhaft zeigt sich dies etwa im Autosektor, der von japanischen und koreanischen Marken dominiert ist.
Stabilität und Berechenbarkeit
Wie die vergangenen Jahre gezeigt haben, ist die indonesische Balancepolitik kein Automatismus für prosperierende Beziehungen; sie bietet dafür jedoch gute Grundlagen. Das Land ist in sich ebenso stabil, wie es die Grundorientierungen von Weltsicht und Außenpolitik sind. Innenpolitische Verschiebungen, wie jüngst der Erfolg Prabowo Subiantos, bedeuten somit kein Ende der Balancepolitik.
Verteidigungsminister Prabowo, ein ehemaliger General und Schwiegersohn von Suharto, gewann die Präsidentschaftswahlen im Februar souverän mit einem Kontinuitätsversprechen zur vorangegangenen Regierung. Auch während des Wahlkampfs wurde nochmals deutlich, dass alle Kandidaten bezüglich der Balancepolitik nur in Nuancen verschiedene Akzente setzen wollen. Beobachter erwarten unter dem neuen Präsidenten, der sein Amt im Oktober antreten soll, eine stärkere Betonung militärisch-sicherheitspolitischer Aspekte bei gleichzeitiger Neigung zu westlichen Partnern – jedoch ohne andere Partner vor den Kopf zu stoßen.
Konflikte fundamentaler Natur sind kaum denkbar. Deshalb dürfte Indonesien im Kontext von Diversifizierung und De-Risking ein attraktiver Partner im ostasiatischen Raum sein
Wahlsiege unterschiedlicher Fraktionen tauschen Akteure und klientelistische Netzwerke aus, stellen aber nicht die Grundorientierung der Außenpolitik zur Disposition. Die Balancepolitik wird von allen relevanten politischen Akteuren geteilt, denn in der politischen Klasse ist unstrittig, dass Indonesiens Interessen auf diese Art am besten gedient ist. Die Frage, ob profiliertere Positionen in der Außenpolitik nicht auch dem wachsenden Gewicht Indonesiens entsprechen und seinen Interessen dienen würden, scheint sich aktuell nicht zu stellen.
Diese Konfiguration der indonesischen Politik schafft Stabilität und Berechenbarkeit. Konflikte fundamentaler Natur mit Indonesien sind kaum denkbar. Indonesien dürfte somit im Kontext von Diversifizierung und De-Risking im ostasiatischen Raum ein attraktiver Partner sein. Umgekehrt hat auch Europa viel anzubieten auf dem Weg von einer ressourcenbasierten Exportwirtschaft hin zu wissens- und technikintensiveren Entwicklungsschritten. Jedoch haben indonesische Politik und Wirtschaft in einem allseitig dynamischen, sich vernetzenden Umfeld viele alternative Betätigungsfelder und Europa ist aus indonesischer Sicht nicht mehr unentbehrlich. Es wird daher an Europa sein, die Initiative zu ergreifen und das Verhältnis zu Indonesien neu zu bestimmen.
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Zwischen den Riffen rudern" erschienen.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 96-101
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