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01. Juli 2019

Im Schatten der Zukunft

Wir sollten aus der Geschichte lernen. Dann ist eine Vorhersage möglich, wie die Zukunft des Terrorismus aussehen könnte. Drei Szenarien

Wieder einmal gilt der Terrorismus als besiegt – wenn man US-Präsident Donald Trump glauben kann, mehr oder weniger von ihm im Alleingang. Und in der Tat ist im März 2019 auch das letzte Refugium des „Kalifats“ des Islamischen Staates (IS) gefallen. Inwieweit der IS damit auch als Organisation bezwungen ist, darüber streiten die Experten ebenso wie über die Perspektiven des Konkurrenten Al-Kaida. Gegenüber einem anderen Trend ist Trump allerdings deutlich zurückhaltender: 2018 fielen in den USA so viele Menschen rechtsextremistischen Morden zum Opfer wie seit fast 25 Jahren nicht, unter ihnen die elf Toten des Überfalls auf eine Synagoge in Pittsburgh.

Handelt es sich um Momentaufnahmen oder lässt sich hier ein Wandel terroristischer Gewalt feststellen? Der US-amerikanische Politologe David C. Rapoport hat in einem 2004 veröffentlichten Artikel die ­Geschichte des Terrorismus als vier große Wellen konzipiert, die jeweils von bedeutsamen Ereignissen angeschoben werden und den Zeitraum einer Genera­tion von etwa 40 Jahren umfassen.

Die aktuelle, religiös motivierte Welle sei demnach zurückzuführen auf die Iranische Revolution, die sowjetische Invasion in Afghanistan ­sowie den Überfall islamistischer Terroristen auf die Große Moschee in Mekka – drei Ereignisse, die sich in diesem Jahr zum 40. Mal jähren. Der historischen Erfahrung nach müsste die aktuelle Welle des Terrorismus also an ihr Ende kommen und einer neuen, fünften Welle weichen.

Nach Rapoport ist die Geschichte des Terrorismus gekennzeichnet durch sich überlappende Wellen mit jeweils unterschiedlichem ideologischen Hintergrund: ­anarchistisch (ca. 1880er bis 1920er Jahre), antikolonial (1920er bis 1960er), links (1960er bis 1990er) sowie religiös (seit den 1980ern). Es beginnt in Russland, als sich im August 1879 die sozial­revolutionäre Bewegung spaltete und die radikale Narodnaja Wolja auf die „Propaganda der Tat“ setzte. Die vorherrschende Taktik der Anarchisten war das politische Attentat, das weltweit auch von Nationalisten adaptiert wurde und seinen Höhepunkt 1914 in Sarajevo fand.

Die Keimzelle der zweiten Welle bildete der Versailler Vertrag. Aufständische weltweit wandten das darin festgelegte Prinzip der nationalen Selbstbestimmung auch gegen die kolonialen Imperien der europäischen Siegermächte an und erkämpften nach dem Zweiten Weltkrieg größtenteils erfolgreich ihre Unabhängigkeit. Auslöser der dritten Welle war der ­Vietnamkrieg als Symbol des Kampfes gegen den US-Imperialismus. Gruppen der Neuen Linken agierten als Stadtguerilla und wollten Aufmerksamkeit mit Flugzeug­entführungen und Geiselnahmen erregen, letztlich allerdings ohne Erfolg. Während der linke Terrorismus abebbte, begann der Anstieg der vierten, religiös motivierten Welle, die spätestens seit Ende der 1990er Jahre vom islamistischen Terrorismus dominiert wird und deren Merkmal das Selbstmord­attentat ist.

Kennzeichnend für diese ­Wellen des modernen Terrorismus ist ihr internationaler Charakter: Ähnliche Aktivitäten breiten sich räumlich aus, angeregt durch global bedeutsame politische Ereignisse und vorangetrieben durch eine gemeinsame grundlegende „Energie“, einen ideologischen Zeitgeist. Alle Akteure verstehen sich dabei in unterschiedlicher Weise als Revolutionäre („Terror von unten“) gegenüber einer als unterdrückend empfundenen imperialis­tischen Weltordnung und insofern auch als Reaktionen auf wahrgenommenen Staatsterrorismus („­Terror von oben“).

Wiederkehrende Muster

Da die etablierte Ordnung auf die Herausforderung reagieren muss, schaukeln sich die Wellen durch Co-Radikalisierung in Eskalationsphasen hoch, bis sie sich schließlich totlaufen und in Kontraktionsphasen Platz für neue Entwicklungen machen. Rapoport macht dabei Generationseffekte als wesentliche Erklärung aus: Wellen enden, weil ihre Energie nicht ausreicht, eine neue Generation für ihre Ziele zu begeistern.

Zwar spielten in jeder Welle auch Gruppen mit anderen ideologischen Hintergründen eine Rolle, alle wurden aber durch die Hauptströmungen beeinflusst. In der dritten Welle übernahmen nationalistische Gruppen linke Ideologien, in der vierten gewannen dschihadistische Motive und Netzwerke an Bedeutung für lokale Aufstände. Neben diesen Effekten innerhalb von Wellen gibt es aber auch Diffusion zwischen diesen, da Gruppierungen aus vergangenen Doktrinen und Taktiken lernen. Diese Dynamiken lassen auf wiederkehrende Muster schließen.

Rapoport ist jedoch skeptisch, ob für das Ende der religiösen Welle dieselben Regeln gelten wie für ihre Vorgänger, die von säkularen Motiven angetrieben wurden und deren Anliegen zumindest teilweise durch reformierte politische Systeme absorbiert werden konnten. Es spricht einiges dafür, dass es der dschihadistischen Bewegung gelingen könnte, die Energie einer Welle zu erhalten ­beziehungsweise auf eine zweite Welle mit gleichem Hintergrund zu übertragen.

Szenario 1: Neo-Dschihadismus

Eine solche Welle würde die Konflikte und Lernprozesse eines Generationenübergangs widerspiegeln. Auslösende Ereignisse wären der Irakkrieg sowie der weitgehend gescheiterte Arabische Frühling. Der Kollaps Syriens brachte dabei zunächst mit dem IS als Abspaltung von Al-Kaida eine neue Dimension des Extremismus hervor, die sich durchaus als interne Rebellion einer neuen Generation gegen ihre Vorgänger unter dem Motto „Caliphate Now!“ verstehen lässt.

Während der IS den religiösen Kern noch radikaler auslegte, verstand er sich gleichzeitig als antikoloniale Kraft, die umsetzte und in zeitgemäßer Onlinepropaganda präsentierte, worüber verstaubte Gelehrte wie Al-Kaida-Führer Ayman al-Zawahiri nur als Zukunftsvision schrieben. Zwar ist das IS-Kalifat militärisch besiegt – als glorreiches Ideal der Überwindung einer vom Westen aufgezwungenen Staatsordnung wird es jedoch im Netz und in den Köpfen zukünftiger Kämpfer weiter bestehen. Zumal seine Ableger insbesondere in Süd- und Südostasien weiterhin aktiv sind: Die Attentate an Ostern in Sri Lanka waren möglicherweise nur ein Testlauf.

Parallel dazu vollzog sich ein Reformprozess der alten Dschihad­elite: Für Al-Kaida war nun weniger Radikalität der Schlüssel zum Erfolg: die Transformation einer terroristischen Avantgarde zu einer echten Massenbewegung, ein Ziel, an dem mit Ausnahme der zweiten die vorherigen Wellen gescheitert waren. Während Al-Kaida und seine Ableger trotz anderslautender Rhetorik seit 2010 kaum mehr Anschläge im Westen begangen haben, setzten sie in expliziter Distanzierung vom IS auf eine langfristige strategische Neuausrichtung, gekennzeichnet durch Regionalisierung und taktische Mäßigung. In den 2013 erschienenen „Leitlinien für den Dschihad“ werden strenge Regeln für Anschläge gegen Zivilisten aufgestellt. Gleichzeitig sollen die Ableger vor Ort auf strikte religiöse Belehrungen verzichten und stattdessen auf Kooperation mit lokalen Akteuren setzen. Als Symbol für Kontinuität im Wandel steht dabei der 30-jährige Sohn Osamas, Hamza Bin Laden, der zukünftig die Rolle der Inspirationsfigur übernehmen soll.

Die Folge einer erneuerten religiösen Welle wäre vor allem eine dauerhafte Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens sowie möglicherweise Südasiens, wo ein lokal orientierter Dschihadismus auch angesichts der Verletzungen durch den „Krieg gegen den Terror“ in den politischen Mainstream gelänge. Kompromisse mit militanten Kräften, wie heute schon mit den Taliban in Afghanistan absehbar, könnten dann für Regierungen unausweichlich werden.

Terrorgruppen der vier Wellen nehmen sich als Antwort auf Wellen des Staatsterrorismus wahr. Zugleich interagieren sie mit Staaten und provozieren sie zur Überreaktion, sodass man auch von Co-Eskalation sprechen kann. So könnten der anarchistischen Welle, der antikolonialen Welle, der Welle der Neuen Linken und der religiösen Welle auf staatlicher Seite Imperialismus, Kolonialismus, Kapitalismus und der Krieg gegen den ­Terror gegenüberstehen. Um dieses Muster von Aktion und Reaktion in die Zukunft zu projizieren, könnte man sich eine kommende fünfte Welle des Terrorismus als eine Reaktion auf die Globalisierung vorstellen.

Schaut man sich die vier vorangegangenen Wellen an, so fällt auf, dass sich die erste und dritte sowie die zweite und vierte ähneln. Anarchismus und die Welle der Neuen Linken propagierten Systemkritik; bei der antikolonialen und der religiösen Welle ging es um territoriale Ansprüche. Auch islamistische Gruppen wollen Gebiete von ihren Gegnern, ihrem Feindbild des westlichen Besatzers, befreien, zum Beispiel Palästina. So lassen sich die sozialistischen Aktivisten der dritten Welle durchaus als „Enkel“ der anarchistischen Revolutionäre begreifen, während sich arabische Islamisten auch als Befreier von neokolonialer Unterdrückung verstehen. Da eine Welle der jeweils übernächsten Welle ähnelt, könnte man von einem Generationenmuster sprechen, bei dem die „Großeltern“ ihr Erbe an die „Enkel“ weitergeben.

Szenario 2: Neue Rechte

Wenn sich dies fortsetzt, müsste die nächste Welle auf Systemkritik basieren. Wenn die fünfte Welle eine Reaktion auf die Globalisierung als aktuellem Ausdruck der dominierenden Weltordnung ist, könnte ihre Antwort im Rückzug auf das Lokale liegen. Das Erstarken antiliberaler und rechter Kräfte ist ein Trend, der sich mit dem Aufstieg von Populisten wie Donald Trump oder Viktor Orbán bereits abzeichnet. Traditionelle rechte Gruppen kooptieren allerdings staatliche Strukturen und sind Status-quo-orientiert. Im möglichen Entstehen einer revolutionären rechtsextremen Welle als dezentrale Gewalt von unten läge insofern etwas Neues. Die Formierung antistaatlicher Milizen in den USA spricht dafür. Auch in Deutschland führte der Fall des ­Oberleutnants Franco A., der als syrischer Flüchtling getarnt einen Anschlag geplant haben soll, zum Verdacht, dass hier eine Art Schattenarmee gegründet wurde.

Des Weiteren lässt sich im Rückgriff auf Traditionen und Bräuche des Lokalen – zum Beispiel in der Anknüpfung an das germanische Neuheidentum oder die amerikanische Frontier-Mentalität, aber auch an christliche Fundamentalismen – eine Parallele zur religiösen Welle entdecken. Zugleich verstehen sich neu-rechte Aktivisten wie die Identitäre Bewegung oder die Alt-Rights in den USA explizit als revolutionäre Akteure und übernehmen Zeichen und Konzepte der Linken. So beklagen sie beispielsweise Denk- und Sprachverbote als Resultat liberaler Antidiskriminierung. Paradoxerweise agieren diese Akteure über das Internet höchst global. So bezog sich der Attentäter von Christchurch explizit auf amerikanische Vorbilder und Diskurse sowie auf den norwegischen Attentäter Breivik.

Das Großeltern-Enkel-Muster, die Übernahme fundamentalistischer Tendenzen aus der religiösen Welle und die Ergänzung der Kooptierung staatlicher Strukturen durch Gewalt von unten machen eine fünfte rechte Terrorwelle schlüssig.

Szenario 3: Kosmopolitismus

Wie sähe ein Zukunftsszenario aus, das auf tiefgreifenden Lernprozessen basiert? Schaut man sich einzelne Gruppen an, kann man sehr wohl von Lernprozessen sprechen, auch wenn sie verschieden in Ausmaß und Tiefe sind. Besonders tiefe Erkenntnisse sammelten die inhaftierten Anführer der ägyptischen Terrorgruppe Gamaa Islamija, die sich in den 1990er Jahren infolge langer Gespräche mit Andersdenkenden in Gefängnissen mäßigten und daraufhin ihre Anhänger vom neuen Kurs überzeugten. In Büchern beschreiben sie, wie sie zu ihren Erkenntnissen kommen und haben Ratschläge für andere Gruppen parat – unter anderem, Lehren auch von Feinden anzunehmen.

Das Lernen vom Feind ist zentral, wenn es um Selbsterkenntnis geht. Auch die IRA hat von ihren Feinden Einsichten in eigene Schwächen und die Realität gewonnen. Dies könnte auch bedeuten, aus alten Mustern und Feindbildern auszubrechen. Zur Öffnung eines Konfliktsystems würde das Hinterfragen der den Konflikt bestimmenden Spielregeln beitragen. Würden Staaten und Terroristen voneinander lernen und die Mechanismen des Wellenmusters hinterfragen, könnte theoretisch auch die Spirale der Gewalt einem Modell der Interaktion weichen, zum Beispiel einem Modell des Dialogs. So könnten für neue Generationen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die ein Wiederaufbrechen von Gewalt in Form einer neuen Welle verhindern.

In einer optimistischen Wendung könnten Digitalisierung und Globalisierung das Beharren auf Grenzen, Identitäten und Feindbildern obsolet machen. Eine solche Vision des Kosmopolitismus würde angesichts der oben skizzierten Entwicklungen gegenwärtig vielleicht als naiv abgetan werden. Es ist fast ironisch, dass ausgerechnet die Gamaa Islamija davor warnt, in die Falle der These des „Kampfes der Kulturen“ zu tappen. Dabei muss sich der Frieden auch lohnen, wie es ein Mitglied der IRA ­sagte: „Wir alle wollten Frieden, aber nicht um jeden Preis.“

Wie hoch muss der Einsatz sein, damit die Karten neu gemischt und gewalttätige revolutionäre Bestrebungen überflüssig werden? Ein Mitglied der Roten Brigaden beschrieb die schwierige Selbsterkenntnis: „Es ist eine Sache, das Gefängnis zu verlassen, aber es ist eine andere Sache, das mentale Gefängnis zu verlassen.“ Ein Hinterfragen der immer wiederkehrenden Muster von Gewalt und Gegengewalt würde dazu beitragen, mentale Grenzen aufzubrechen und die Vorstellungskraft für eine friedliche Welt zu stärken. Dazu könnte auch ein Aufbrechen von Generationsgrenzen beitragen: Es könnte gerade die Integration verschiedener Generationen sein, die zu strategischen Veränderungen führt.

Das größere Bild sehen

Alle drei Szenarien können als logische Folge vergangener Entwicklungen verstanden werden. Daher ist es auch folgerichtig anzunehmen, dass es sich nicht um alternative, sondern um komplementäre Entwicklungen handelt, die aufeinander reagieren und sich gegenseitig beeinflussen.

Anzeichen für alle drei Szenarien sind bereits deutlich wahrzunehmen. Sie basieren auf der Beobachtung bisheriger Muster und damit auf der grundlegenden Annahme, dass uns die Geschichte etwas sagen kann. Die Anführer der Gamaa Islamija erkannten die Sinnlosigkeit wiederkehrender Gewalt, als sie im Gefängnis saßen: „Das Beste ist, sich die Zeit zu nehmen, nachzudenken, wenn du dem Kampf entrückt und fähig bist, das größere Bild aus der Distanz wahrzunehmen.“

Was auf den ersten Blick als neue Entwicklung erscheint, könnte sich als die Fortsetzung des Bekannten erweisen. In der Erkenntnis von Mustern liegt auch die Chance zur Einflussnahme. Der Umgang mit Syrienrückkehrern etwa ist eine Herausforderung, die zur erneuten Verhärtung, aber auch zum Durchbrechen des Wellenmusters beitragen könnte.

Aber natürlich sind auch Überraschungen denkbar. Entwicklungen wie der Klimawandel könnten uns vor völlig neue Tatsachen stellen, wenn man die Wechselwirkungen zwischen Umweltveränderungen, Gewalt, Armut und Flucht bedenkt. Dialog und Verhandlung sollten grundsätzlich geeignete Mittel sein, um Konflikte zu lösen und neuen Konflikten vorzubeugen. Nicht zuletzt kann das Lernen von Terrorgruppen Aufschluss über Aktions-Reaktions-Muster geben und Entscheidungsträgern auf staatlicher Seite helfen, das größere Bild zu sehen.

Dr. Michael Fürstenberg ist Research Fellow in der Forschungsgruppe „Wie ‚Terroristen‘ lernen“ am Max-Planck-Institut für ethnologische ­Forschung in Halle (Saale).

Dr. Carolin Görzig leitet die Forschungsgruppe „Wie ‚Terroristen‘ lernen“ am Max-Planck-Institut für ethnologische ­Forschung in Halle (Saale).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/ August 2019, S. 104-109

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