Globale Konsensmaschine
Im Geflecht internationaler Organisationen wird die OECD immer wichtiger
Im Kalten Krieg geboren, hat sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung unter der Führung von Angel Gurría vom Mauerblümchen zum weithin geschätzten Standardsetzer und Ideengeber gemausert. Beim weiteren Aufbau einer regelgestützten Weltwirtschaftsordnung kommt der OECD eine Schlüsselrolle zu.
Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit verschieben sich derzeit die Gewichte im Geflecht der internationalen Institutionen, die als Stützen einer schwach ausgeprägten wirtschaftlichen „Global Governance“ dienen. Am bemerkenswertesten ist dabei der Aufstieg der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, zu einer global akzeptierten Dienstleistungs- und Zuträgerorganisation, die auf Grundlage einer soliden Datenbasis und dank breit aufgestellter Expertise die Ziele der G-20-Staaten mitformuliert und inhaltlich untermauert.
Erreicht hat das der Generalsekretär der OECD, der frühere mexikanische Außen- und Finanzminister Angel Gurría. Ende Mai wurde er für eine dritte Amtszeit nominiert und wird die Organisation bis 2021 führen. Seit er 2006 antrat, hat sich im Hauptquartier, dem Pariser Château de la Muette, und in den Außenbüros viel getan: Das Mauerblümchen-Dasein als Thinktank ist passé – und lang sind die Zeiten vergessen, in denen ein OECD-Generalsekretär die Parole ausgab: „Je weniger man von uns spricht, desto besser.“
Es waren aber auch Jahre, in denen die nach dem Auslaufen des Marshall-Plans 1961 gegründete Organisation durch Beratung ihrer Mitgliedstaaten ein solides Fakten- und Datenwissen aufbaute, das heute weit über wirtschafts- und strukturpolitische Fragen hinausgeht und auch in Fragen des Umweltschutzes, der Bildung, guter Regierungsführung, Sozialpolitik, Energie und Entwicklung. Wissen und Spezialisten vorweist, die gefragt sind.
Anders als Organisationen, die häufig in einem Fachgebiet herausragen, hat es die OECD zu ihrer Spezialität gemacht, die Fragen der Zeit „horizontal“ zu bearbeiten. Dies ist besonders wichtig bei der Aufarbeitung der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008, die von internationalen Organisationen nicht erkannt wurde, weil jede für sich in den eigenen Denkkategorien und Zuständigkeiten steckte (Projekt „New Approaches to Economic Challenges“). Andere Themen sind die Entwicklung fundierter Empfehlungen im Zielkonflikt zwischen Klima- und Wirtschaftspolitik („Aligning Policies for the Transition to a Low Carbon Economy“), die Herausforderungen durch wachsende Ungleichheit und hoher Arbeitslosigkeit („Inclusive Growth“) oder auch die demografischen Probleme alternder Gesellschaften und die Gefahr der Altersarmut – Fragen, die nicht nur Soziales und Arbeitsrecht, sondern auch Themen wie Migration, Ausbildung und Gesundheitsfürsorge einschließen.
Kein Kind des Kalten Krieges mehr
Die OECD, Nachfolgerin der für die Verteilung der Marshall-Plan-Hilfe 1948 gegründete OEEC, hat ihre Herkunft als „Kind des Kalten Krieges“ weit hinter sich gelassen und auch den Geruch einer neoliberalen, nur auf die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und strukturelle Fragen -fixierten Einrichtung abgestreift.
Dies hat auch mit der wachsenden und sich diversifizierenden Mitgliedschaft zu tun. Waren die ursprünglichen Staaten im Wesentlichen NATO-Mitglieder, traten ab 1964 Australien, Finnland, Japan und Neuseeland bei, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die ehemaligen Ostblockstaaten Tschechien, Polen, Slowakei und Ungarn (noch vor ihrer Aufnahme in die EU) sowie Südkorea und Mexiko. Später wurden dann noch Chile, Estland, Israel, Slowenien und Russland eingeladen beizutreten, die ersten vier kamen dem 2010 nach. Kolumbien, Lettland, Litauen und Costa Rica durchlaufen derzeit den anspruchsvollen Aufnahmeprozess. Die schwierigen und langsam voranschreitenden Beitrittsgespräche mit Russland sind durch Beschluss des Rates vom 12. März 2014 ausgesetzt. Auf technischer Ebene ist Russland aber in den Komitees präsent, in denen es auch schon zuvor ein Teilnehmer war.
Die neuen Mitglieder haben aber nicht verhindert, dass die OECD-Staaten heute bei Weitem nicht mehr den größten Teil – wie früher über 80 Prozent – des Bruttosozialprodukts der Welt ausmachen. Der Aufstieg großer Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien und Indonesien haben dazu geführt, dass die 34 in der OECD zusammengefassten Industrie- und Schwellenländer heute weniger als 50 Prozent des Bruttosozialprodukts der Welt aus-machen, Tendenz fallend.
Die Organisation hat in den vergangenen Jahren die großen Schwellenländer zu „Schlüsselpartnern“ erhoben, die nach Wunsch an Komitees der Organisation mitarbeiten können und häufig auch bevorzugt beraten werden. Nach einigem Zögern nutzen Länder wie China und Brasilien das Angebot. So fiel beim diesjährigen OECD-Ministerrat Anfang Juni auf, dass Brasilien mit Außen- und Finanzminister vertreten war.
Besonderes Augenmerk hat Generalsekretär Gurría in den vergangenen Jahren auf China gelegt. Angesichts der derzeit heiß debattierten Frage, ob China bewusst ein paralleles Finanzsystem zu den Bretton-Woods-Institutionen aufbaut oder bereit ist, sich in das herrschende System einzufügen, war der Besuch des chinesischen Premierministers Li Kequiang am 1. Juli bei der OECD von besonderer Bedeutung. Früher von China als „Klub der reichen Industrieländer“ angeprangert und bei G-20-Treffen nur unwillig geduldet, nähert sich China mit deutlichen Schritten der OECD an und bezeichnet sie neuerdings als „Best Practice“-Organisation.
Auch Frankreich scheint die Expertise der Organisation wieder stärker nutzen zu wollen. Seit seinem Amtsantritt 2012 hat Staatspräsident François Hollande die OECD bereits vier Mal aufgesucht, um sich beraten zu lassen oder sie als Plattform für Botschaften zu nutzen. Als Gastgeber der diesjährigen Klimaschutzkonferenz COP21 geht es den Franzosen natürlich auch darum, die Organisation als Verstärker für die Umsetzung der Konferenzziele zu nutzen. Mit Blick auf die COP21 und das Entwicklungsfinanzierungstreffen in Addis Abeba im Juli hatte auch UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon am 28. April 2015 der OECD einen offiziellen Besuch abgestattet. Seine Rede zeigte, dass es den Willen zu einer engeren Zusammenarbeit bei der Umsetzung der im September verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungsziele gibt und die UN dabei die Ressourcen der OECD auch nutzen wollen.
„Servicestation“ mit Konkurrenten
Der Aufschwung, den die Organisation genommen hat, und die wachsende Rolle, die sie als „Servicestation“ für die G-20 spielt, können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die OECD vor großen Herausforderungen steht. Sie konkurriert mit Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Weltbank oder auch der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die zwar einen enger, klar definierten Auftrag haben, aber durch ihre globale Mitgliedschaft und Inklusivität von zahlreichen Mitgliedern der Staatengemeinschaft als Ansprechpartner bevorzugt werden.
Besonders schwierig ist das Verhältnis zu den Vereinten Nationen. Aus den UN heraus wird die OECD immer wieder infrage gestellt, weil sie in ihren Mitgliedschaften nicht global verankert ist. Beim jüngsten Treffen für Entwicklungsfinanzierung in Addis Abeba wurde die OECD erneut angegriffen, weil ihr Projekt zur Bekämpfung aggressiver Steueroptimierungspraktiken multinationaler Unternehmen („Base erosion and profit shifting“, kurz BEPS) nicht auf einer globalen intergouvernementalen Plattform basiert. Dabei hat das BEPS-Projekt gerade gezeigt, dass die OECD unter Einbeziehung von Fachleuten der Mitgliedstaaten und der Schlüsselpartner, d.h. auch Brasilien und China, in erstaunlich kurzer Zeit ein komplexes Arbeitsprogramm erarbeiten und umsetzen kann.
Als Konsensorganisation relativ gleichgesinnter Staaten gelingt es der OECD, Politikoptionen zu entwickeln, wo sich globale politische Institutionen im UN-Rahmen schwer tun. Auf der Grundlage soliden Fachwissens und mit ihrem unpolitischen „Low key“-Profil gelingt es der OECD dann meist, andere Staaten – auch Nichtmitglieder – für gemeinsame Richtlinien zu gewinnen; Richtlinien, die zwar meist nicht bindend sind, aber als „soft law“ mit der Zeit einen Druck erzeugen, der nicht unterschätzt werden darf.
Die Arbeit kann Grundlage internationaler Vereinbarungen sein, die in einer politisierten intergouvernementalen Verhandlung kaum, jedenfalls nicht in einer überschaubaren Zeit, zu erreichen sein würden. In Fragen der globalen Politik wird es in Zukunft immer mehr darauf ankommen: Wer schafft es, Übereinkommen zu erarbeiten, die als Grundlage für globalen Konsens dienen?
Über die Jahrzehnte hat die OECD – oft unbemerkt – Standards gesetzt, die heute weltweit wirken: bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Vermeidung von Doppelbesteuerung, bei der Unternehmensführung oder auch mit dem im internationalen Umweltrecht inzwischen verankerten „Polluter-pays“-Prinzip. Nach diesem „Verursacherprinzip“ müssen die Kosten durch wirtschaftliche Aktivitäten ausgelöster Umweltbelastungen vom Verursacher getragen werden.
Koalitionen der Willigen
Die OECD bleibt dabei in ihrer Struktur auch flexibel und erlaubt es Einzelnen oder einer Gruppe von Staaten, Themen voranzubringen – eine wirtschaftliche „Koalition der Willigen“, wie es in Foreign Affairs hieß.1 Daraus entwickeln sich nicht immer, aber immer wieder weiterführende Initiativen wie das von der Bundesregierung gemeinsam mit Großbritannien und Frankreich initiierte BEPS-Projekt. Beim G-20-Gipfel fand es breite Unterstützung aller wichtigen Staaten, auch der OECD-Nichtmitglieder China, Brasilien und Südafrika.
Zwar geraten derartige Entwicklungen selten in die Schlagzeilen und sind zu komplex, um der allseits empfundenen fehlenden Handlungsfähigkeit der Gipfeldiplomatie zu begegnen; sie zeigen aber Wege auf, wie Fortschritte in der „economic governance“ erzielt werden können. Solange es auf der Weltbühne keine demokratischen Institutionen gibt, denen es gelingen kann, die richtige Kombination von Zugeständnissen zu finden und allseits akzeptierte Lösungen für wirtschafts- und finanzpolitische Fragen durchzusetzen, braucht man Organisationen, die dazu beitragen, durch konsensuellen Dialog der Fachleute gemeinsame Grundlagen zu finden.
Bis es zu einer wirtschafts- und finanzpolitischen globalen Wirtschafts- und Finanz-„Regierung“ kommt, wird der OECD ein breites Betätigungsfeld bleiben, um Lösungsansätze für wirtschaftspolitische Probleme und entwicklungspolitische Fragen zu finden. Die Entwicklungsziele der UN bieten viele Anhaltspunkte, zu denen die OECD-Expertise von Nutzen sein wird, zum Beispiel für gut gestaltete Steuerpolitik.
Zu den Herausforderungen, vor denen die OECD steht, zählen aber durchaus auch interne Fragen. Die Organisation ist in den vergangenen Jahren rapide gewachsen und wird vom Generalsekretär mit energischer Hand geleitet. Dabei führt die Ausweitung des Themenspektrums, auch die starke Öffnung hin zu sozialen Themen, dazu, dass Konsistenz und Übereinstimmung der Arbeitsresultate gelegentlich hinter dem Wunsch zurückbleiben, rasch Ergebnisse zu produzieren. Unterschiedliche Sichtweisen der verschiedenen Direktorate, die intensiv die Zielkonflikte (z.B. zwischen Klimaschutz und Wirtschaftsentwicklung) diskutieren, befruchten zwar die Arbeit der Institution. Aber die OECD muss am Ende dann umso stärker darum ringen, ihre Ergebnisse und datenbasierte Evidenz auch in konsistente Politikempfehlungen zu verwandeln.
Die inhärente Spannung zwischen einer mitgliederbestimmten Organisation und der vom Generalsekretär verantworteten Arbeitsergebnisse des Sekretariats, des Think-tank-Elements der OECD, erfordert ein wachsames Eingehen auf die Mitgliedstaaten und politisches Fingerspitzengefühl. Dabei ist es die „likemindedness“, die weitgehende Übereinstimmung der an einer freien, regelgeleiteten Wirtschaft interessierten Mitglieder, die dem Generalsekretär und dem Thinktank Freiheiten zur Entwicklung von Politikoptionen eröffnet, die eine globale Organisation wie die UN nicht hat. Neue Mitgliedschaften sollten daher sorgsam geprüft werden.
Wie andere internationale Organisationen auch stützt sich die OECD stark auf freiwillige Beiträge. Vielen Staaten gelingt es, durch freiwillige Beiträge Projekte und Untersuchungen auf den Weg zu bringen, um politische Prioritäten durch die Arbeit der Organisation zu untermauern. Dies ist durchaus positiv zu sehen. Wenn die OECD die Arbeit einiger Staaten stützt, darunter Deutschland, um den Richtlinien für verantwortliches unternehmerisches Handeln zu mehr Durchschlagskraft zu verhelfen, so hat dies politischen Sinn.
Heute ist die OECD für Berlin ein Verbündeter in der Förderung einer regelbasierten Weltwirtschaft. Die Bundesregierung hat mit dem G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 früh begonnen, die OECD einzubeziehen; Bundeskanzlerin Angela Merkel lädt sie auch zu den regelmäßigen Gesprächen mit anderen wirtschaftspolitischen Organisationen (IWF, ILO, WTO und Weltbank) ein und besuchte im Februar 2014 als erste deutsche Regierungschefin das Château de la Muette. Auch beim G-7-Gipfel in Elmau konnte die OECD zu Themen wie guter Unternehmensführung oder Förderung der Frauenselbständigkeit Beiträge leisten. Es dürfte kein Zufall sein, dass die OECD eine der wenigen internationalen Organisationen ist, in denen der deutsche Personalanteil der geleisteten Budgetzuwendung entspricht.
Die größere Rolle der OECD ergibt sich aus einer einerseits komplexer, andererseits „flacher“ und ebenbürtiger werdenden Welt: Allen ist letztlich an einer regelgestützten Wirtschaft gelegen und die globale Vergleichbarkeit ist von wachsender Bedeutung, wenn es jetzt darum geht, für alle Staaten die gleichen nachhaltigen Entwicklungsziele umzusetzen. Dabei sind auch in Zukunft von der OECD wichtige Impulse zu erwarten.
Dr. Hans-Jürgen Heimsoeth war bis Juli 2015 deutscher Botschafter und Ständiger Vertreter der BRD bei der OECD. Er gibt in dem Artikel seine persönliche Meinung wieder.
- 1Stewart Patrick und Naomi Egal: Economic Coalition of the Willing – the OECD reinvents itself, Foreign Affairs, 11.3.2015.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S.92-96