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01. Juli 2013

Giraffen vor Bürotürmen

Nairobi entwickelt sich zum regionalen Wirtschafts- und Finanzzentrum

Kenias Hauptstadt ist ein Moloch. Ihr Bevölkerungswachstum ist das rasanteste in ganz Afrika. Die Hälfte der Bewohner lebt in Slums. Und doch ist Nairobi zugleich das IT-Zentrum der Region, zahlreiche multinationale Konzerne, Banken und NGOs siedeln sich hier an. Sie eröffnen jungen, gut ausgebildeten Arbeitskräften neue Zukunftschancen.

Wenn Onesmus Mwendwas Handy ihn aus dem Schlaf reißt, muss er blinzeln, um auf dem zerkratzten Display die Zeit zu erkennen, obwohl er es weiß: 5.15 Uhr in Nairobi. Zu dieser Zeit sind bereits zahlreiche Nachbarn an seinem fensterlosen Zimmer vorbei zu den fünf Duschen und zehn Latrinen gegangen, die den etwa 200 Bewohnern der 150 Räume zur Verfügung stehen, Wasserkanister in der Hand, denn den Luxus von fließendem Wasser bietet die Anlage nicht. Onesmus Mwendwa wirft sich im Dunkeln hastig seine Kleidung über, denn das Kerosin ist ihm in der Nacht ausgegangen; auch eine Stromversorgung ist nicht installiert in seinem Verschlag für 18 Euro Miete im Monat. 

Der 33-Jährige ist spät dran: Um 6 Uhr muss er seinen Dienst als Wachmann in einer privaten Wohnanlage antreten. Er ringt mit sich, ob er wertvolle 40 Cent seiner 80 Euro Gehalt für den Kleinbus ausgeben soll, um pünktlich zu sein, oder ob er, wie fast jeden Tag, 45 bis 60 Minuten vom Slum Kawangware bis zur Mittelklassegegend Kileleshwa zu Fuß geht, so wie etwa die Hälfte der Wege in Nairobi zurückgelegt werden. Nur ein Drittel der Wege erledigen Matatus, notorisch unzuverlässige Nissan-Kleinbusse, die mit ihren phantasiereichen Designs über Kenias Grenzen hinaus Berühmtheit erlangt hatten, bis die Kreativität ihrer Künstler vor Jahren von offizieller Seite auf einen gelben Streifen in der Mitte des Kleinbusses reduziert wurde. Gut 15 Prozent aller Wege schließlich bewältigen Autos und bringen das enge Straßennetz der Stadt regelmäßig zum Erliegen. Der Zustrom an Autos in die Stadt scheint dem Ausbau der Infrastruktur immer ein paar Schritte voraus zu sein.

Nairobi, die Staustadt. Nairobi, der Moloch. Nairobi, die grüne Stadt in der Sonne. Die Baustelle. Die 24-Stunden-Wirtschaft. Die wahrscheinlich einzige Stadt der Welt, in der sich ­Giraffen vor der Kulisse von Bürotürmen beobachten lassen. Vor einem Jahr erklärte die Economist Intelligence Unit (EIU) Nairobi zur zweitschlimmsten Metropole, in der man weltweit leben könnte: Kriterien wie Bevölkerungsdichte, Luftverschmutzung, Grünflächen und Zugang zum Nahverkehr waren die Grundlage für das vernichtende Urteil. 

Monate später entspann sich auf Twitter eine muntere Diskussion über die wenig charmante Beschreibung der Stadt – Kenia ist nach Süd­afrika das zweit­aktivste afrikanische Land auf Twitter –, mit der Selbstironie und amüsierten Distanz, wie sie Nairobiern eigen ist: „Weil wir mehr falsche als echte Polizisten haben“, argumentierte einer – ein Verweis auf die als höchst korrupt empfundenen  und erlebten Beamten in Blau. „Jedem wird hier mindestens einmal das Handy gestohlen. So heißen wir Besucher willkommen“, twitterte ein anderer. Ein bekannter Kolumnist teilte die folgende Erfahrung: „Ich mache unglaubliche Schnäppchen, wenn ich mit meinem Auto im Stau stehe. Meine Taschenlampe ‚made in China‘ funktioniert immer noch.“ 

Doch auch an Kritik an der EIU-Studie mangelte es nicht: „Ich liebe Nairobi. Warum werden keine Städte in den USA bewertet, wo Kinder mit Waffen in die Schule kommen und jeden umbringen?“ Eine Ausländerin findet, „würde Nairobi nach dem Humor seiner Einwohner bewertet, wäre es eine der besten Städte der Welt“. 

In diesem Jahr feiert Kenia den 50. Jahrestag seiner Unabhängigkeit, und genauso lange wurde das ostafrikanische Land zentralistisch von der Hauptstadt Nairobi aus regiert. Auch wenn die 2010 verabschiedete neue Verfassung ein dezentralisiertes Regierungssystem mit Bezirksregierungen (Counties) vorsieht, die seit den Wahlen im März 2013 etabliert werden sollen, wird Nairobi weiter das unumstrittene wirtschaft­liche Zentrum des Landes bleiben. Die Stadt steht für 60 Prozent der 41,3 Milliarden-Ökonomie (nominales BIP 2012). Für 2013 wird, je nach Quelle, ein Wirtschaftswachstum zwischen 4,1 und 4,7 Prozent für Kenia erwartet.

Nairobis Einwohnerzahl ist seit der Unabhängigkeit um das Zehnfache gestiegen, und seine Bevölkerung gilt als die am schnellsten wachsende in Afrika. Drei Viertel dieses Wachstums werden von Slums aufgefangen. Heute leben in der Stadt, deren Name in der Sprache der Massai „Ort des kühlen Wassers“ be­deutet, Regierungsangaben zufolge 3,1 Millionen Einwohner. Nach Schätzungen leben zwischen 50 und 70 Prozent dieser Bewohner in Slums, die jedoch nur 6 Prozent der Wohnfläche der Stadt ausmachen. Sie entstehen an den Rändern wohlhabender Stadtteile und versorgen diese mit billigen Arbeitskräften. 

Zwei Drittel der Einwohner von Nairobi arbeiten ohne rechtliche Absicherung, so wie Onesmus Mwendwa, der seine fünf Kinder und die entfernte Verwandtschaft zu versorgen versucht. Und doch sind nach einer Studie der Immobilienfirma Knight Frank die Mieten in Nairobi im Jahr 2012 um 17,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen – die höchste Steigerungsrate der weltweit 16 untersuchten Metropolen. An jeder Ecke wird gebaut: Straßen, Apartmentblocks, Banken, Hotels, Bürotürme. Hohe Mieten, häufige Stromausfälle aufgrund veralteter Transformatoren und des schier unstillbaren Energiebedarfs sowie Wasserknappheit sind nur einige der vielen Hürden, die den Alltag in der Hauptstadt der größten Wirtschaftsmacht Ostafrikas ausmachen, die bis 2030 den Status eines Landes mittleren Einkommens erreichen will. 

Man spürt das Ächzen einer Stadt, deren veraltete Strukturen ihrer rasanten Entwicklung nicht gewachsen sind. Aber die ist nicht aufzuhalten. Nairobis Jomo-Kenyatta-Flughafen, von dem aus 44 afrikanische Hauptstädte innerhalb von vier bis fünf Stunden zu erreichen sind, bekommt endlich eine zweite Landebahn und will seine Terminalfläche bis 2017 verdreifachen. Die großen Golf-Flug­linien Emirates, Qatar und Etihad fliegen Nairobi genauso an wie die führenden europäischen Fluglinien, und so entsteht hier ein internationaler Verkehrsknotenpunkt. 

Das in Nairobi ansässige Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) ist im Februar zur UN-Umweltversammlung aufgewertet worden: Während es bisher als Rat mit ständig wechselnden Staaten fungierte, sind nun alle UN-Staaten automatisch Mitglied und stärken damit ihr Mandat, Prioritäten für die globale Umweltpolitik festzulegen. Nairobi erwartet mehr diplomatischen Verkehr und internationale Konferenzen, wovon wiederum Hotels und Kongresszentren profitieren werden.

Ebenfalls im Februar erhielt die ruandische Bank of Kigali als erste Bank der Ostafrikanischen Gemeinschaft (EAC) den Zuschlag, eine Niederlassung in Nairobi zu eröffnen. Sie ist das siebte internationale Finanzinstitut, das nun in Kenia aktiv ist. Auch wenn ihr bisher nur gestattet wird, Finanzgeschäfte abzuschließen, aber keine Einlagen zu verwahren, ist dies ein Schritt dahin, Nairobi zu einem internationalen Finanzzentrum zu machen, wie es die ambitionierte „Vision 2030“ der Regierung des früheren Präsidenten Mwai Kibaki vorgesehen hatte. Doch auch kenianische Banken expandieren rasant und eröffnen Filialen in ländlichen Gebieten, die zuvor ignoriert wurden, bis mobile Zahlungssysteme wie ­M-PESA, die das Versenden und Empfangen von Geld über Handynetze ermöglichen, zu einer ernsthaften Konkurrenz geworden sind. 

Enormes Potenzial

„Ein sicherer Indikator für den Erfolg eines Standorts ist die Zahl multinationaler Konzerne, die nach mehr als zwei oder drei Jahren mittelfristig noch immer dort operieren“, erklärt Kwame Owino, Direktor des Institute of Economic Affairs, eines unabhängigen Think-Tanks in Nairobi. So haben in wenigen Jahren unter anderem Google, IBM, Visa, General Electric, Pepsi oder Nestlé ihre Büros in Nairobi eröffnet; die International ­Finance Corporation, eine Tochter der Weltbank-Gruppe, betreibt jetzt hier ihr Regionalbüro. „Nairobi hat enormes Potenzial“, sagt Owino. „Die Stadt verfügt über Kenias innovativste und am besten ausgebildete Arbeitskräfte. Die größten und wichtigsten privaten Firmen finden sich hier, die besten Verdiener, die wiederum teure Güter und Wohnungen nachfragen. Zahlreiche internationale und lokale NGOs sind lukrative Arbeitgeber. Von Nairobi aus ist man in zwei Stunden in der Wildnis. Handwerker, Wachleute, Kinderfrauen und Fahrer, die im wachsenden informellen Sektor arbeiten, sprechen Englisch und sind wegen ihrer großen Zahl relativ preiswert anzustellen. Nairobi wird so als Vorbild für andere Städte fungieren und sich gut entwickeln.“

Gut entwickelt, so sieht es jedenfalls sein Manager Jimmy Gitonga, hat sich auch das iHub, eines von sechs Technologie-Inkubationszentren in Nairobi (und Kenia) und von insgesamt 16 in Subsahara-Afrika. Vor drei Jahren als Treffpunkt für Programmierer, Webdesigner, Investoren und junge Unternehmer unter anderem mit Hilfe der Weltbank und Hivos gegründet, hat das iHub laut Gitonga heute 250 Mitglieder (90 Prozent jünger als 30 Jahre und ein Fünftel Frauen), die sich um nachhaltige IT-Lösungen bemühen. Junge Entwickler können sich hier austauschen und werden kostenlos bei ihrer Unternehmensgründung beraten beziehungsweise an Investoren vermittelt, die konkrete IT-Applikationen suchen. So wird Nairobi zum IT-Zentrum der Region. 

„Technologie sollte Probleme lösen und nicht um ihrer selbst willen existieren“, sagt Gitonga und beschreibt damit die Anfänge vieler Entwickler, die im iHub Unterstützung dabei suchen, ihre Ideen in ein nachhaltiges Geschäft zu verwandeln. Gitonga weiß von 48 Projekten, „die auf einem guten Weg sind“, darunter m-Farm, eine mobile Applikation für Bauern, die darüber die gängigen Preise für landwirtschaftliche Güter abrufen können. Kwame Owino ist eher skeptisch: „IT schafft nur wenige Arbeitsplätze, doch die sind es, die Kenia dringend braucht, um das Problem der Massenarmut zu lösen. Nairobi ist eine gute Basis für Informationstechnologie, aber ich denke nicht, dass es die führende Branche des Landes werden wird. Da kann sie einfach nicht mit arbeitskräfteintensiven Sparten wie dem Tourismus konkurrieren. Das iHub muss sich in eine internationale Wertschöpfungskette einbringen, um langfristig erfolgreiche junge Unternehmer hervorzubringen.“ Auch immer mehr Universitäten in Nairobi haben erkannt, dass ihre Absolventen unternehmerische Fähigkeiten benötigen, um sich selbständig zu machen und damit weniger auf formale Jobs angewiesen zu sein, und eröffnen universitätseigene iHubs.

„Für die deutsche Wirtschaft ist Nairobi das Sprungbrett in die ostafrikanische Region, aber auch nach ganz Afrika“, sagt Ingo Badoreck, Delegierter der deutschen Wirtschaft in Kenia. Sein Büro gehört zum Auslandshandelskammernetz und nahm hier vor einem Jahr die Arbeit auf. Von den etwa 100 Firmen mit zumindest deutschen Verbindungen sind 85 in Nairobi ansässig, darunter die Bayer-Gruppe, Siemens, BASF und Beiersdorf. DHL hat angekündigt, Nairobi zum Zentrum seiner regionalen Expansion auszubauen. Deutsche Unternehmen führen vor allem Maschinen etwa für die Nahrungsmittel- oder Verpackungsindustrie, den Straßenbau, aber auch Krankenhaustechnik ein. „Deutsche Güter sind ja nur interessant, wenn ein gewisser Entwicklungsstand der Wirtschaft da ist“, so Badoreck. Dies sei in Kenia gegeben. „In Zukunft wird meiner Einschätzung nach das produzierende Gewerbe extrem zunehmen“, prognostiziert er. „Nairobi erlebt eine starke Urbanisierung und hat eine junge, gut ausgebildete Bevölkerung, die bereit ist zu konsumieren.“

Wachsende Mittelschicht

Zu der jungen, gut ausgebildeten Bevölkerung und damit zu der stetig wachsenden kenianischen Mittelschicht gehört auch die Malerin Emily Odongo, die im Hauptberuf als Grafikdesignerin bei der größten Innen­architekturfirma Nairobis arbeitet. Sie lebt in dem Mittelklasseviertel Kileleshwa und entwirft seit Jahren Beschilderungen für Banken, die sich eine neue Zentrale in Nairobis Upper Hill sowie Dutzende neuer Filialen bauen, für Restaurants, die ihre Ableger auch in der nächsten neuen Einkaufsmeile haben müssen. 

Die Wohnungen, in denen sie in den vergangenen acht Jahren lebte, sind teurer, aber nicht größer geworden. Ihr Gehalt hat sich vervielfacht, aber nicht unbedingt ihre Kaufkraft: „Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mit meinem relativ geringen Gehalt vor acht Jahren mehr anfangen konnte als mit den 1000 Euro, die ich heute verdiene“, sagt die 39-Jährige, deren jüngere Schwester bei ihr lebt und für die sie die Ausbildung bezahlt. Die täglichen Transportkosten zur Arbeit haben sich für die Designerin verdreifacht, bei Nahrungsmitteln, Versicherungen ist es ähnlich. „Doch, ich liebe Nairobi, ich würde nirgendwo anders leben wollen: Die Auswahl an Restaurants und Klubs, die Einkaufsmöglichkeiten, die Menschen aus aller Welt, die ich hier treffe, das ist genau die richtige Mischung. Aber wenn ich meine Bilder nicht verkaufen könnte, wüsste ich nicht, wie ich über die Runden kommen sollte.“

Von der neuen Dezentralisierung, die Nairobi in einen Bezirk verwandelt, wird Emily Odongo nicht viel bemerken. „Die neue Regierungsstruktur wird lediglich Richtlinien beeinflussen“, erwartet Elic Aligula vom Kenya Institute for Public Policy Research and Analysis (KIPPRA), das die Regierung bei der Umsetzung von Richtlinien berät. „Nairobi kann von der Zentralregierung ein Budget von 101 Millionen Euro erwarten. Darüber hinaus verfügt der neue Bezirk über eine gesunde Steuergrundlage in Höhe von 64 bis 92 Millionen Euro. Wie diese Gelder verwendet werden, ist die Schlüsselfrage“ – aber auch, wie die 366 Millionen Euro Schulden getilgt werden können. Aligula kann sich Nairobi künftig als Transport- und Kommunikationszentrum der Region vorstellen, auch Medizintourismus, der viele Kenianer bisher aufgrund der geringeren Behandlungskosten nach Indien führte, hält er für möglich. „Schon heute kommen Patienten aus der Demokratischen Republik Kongo, um sich in Nairobi behandeln zu lassen.“ 

In der verarbeitenden Industrie sieht er die Zukunft Nairobis. „Wir können landwirtschaftliche Produkte vor Ort für große Supermarktketten im Ausland verarbeiten. Hier sind internationale Investitionen willkommen: Wer ein hochwertiges Produkt zu einem vernünftigen Preis herstellen kann, darf eine hohe Rentabilität erwarten.“ Die Bezirksregierung müsse jedoch dringend Probleme wie Wasser- und Stromversorgung sowie Kriminalität angehen.

18 Uhr, Feierabend für Onesmus Mwendwa. Er reiht sich ein in den Strom der Gelegenheitsarbeiter, die von Kileleshwa nach Hause in die Slums laufen. Da der Monat fortgeschritten ist, wird der Verkehr allmählich weniger, da den ersten Nairobiern jetzt schon das Geld fürs Benzin ausgeht. Fast wäre auch Mwendwa Teil der Mittelklasse geworden; er war ein guter Schüler am Gymnasium, doch dann verletzte sich sein Vater bei einem Sturz vom Baum; die sechs Geschwister mussten versorgt werden und so war der Traum vom Universitätsstudium ausgeträumt. Von seinem Vorschuss hat Mwendwa 20 Euro per ­M-PESA an seine Frau im Dorf gesandt. Den ganzen Tag hat er nichts gegessen, ihm bleiben noch fünf Euro, von denen er für den Rest des Monats einkauft: Bohnen, Reis, Maismehl, etwas Gemüse. Heute ist auch einer der beiden Tage im Monat, an denen er sich Fleisch zum Abendessen leistet.

Anja Bengelstorff arbeitet als freie Journalistin in Nairobi.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2013, S. 110-115

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