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01. Febr. 2005

Gemeinsam morden

Buchkritik

Nicht erst das bekannte Buch von Daniel Goldhagen stellt die Frage: Warum wurden die Deutschen zu Völkermördern? Ein identitätstheoretischer Ansatz und die Widerstandsforschung könnten einander ergänzen.

Mit seiner These von den Deutschen als „Hitlers willige Vollstrecker“ stieß Daniel Jonah Goldhagen 1996 eine Kontroverse an, die dank ihres Provokationspotenzials und einer medialen Inszenierung unter Wissenschaftlern wie in der Öffentlichkeit gleichermaßen geführt wurde. An diesen in Verkaufszahlen greifbaren Erfolg anknüpfen zu wollen, scheint auch der Propyläen-Verlag beabsichtigt zu haben, als er die neueste Publikation des Schweizer Historikers Philippe Burrin unter dem Titel „Warum die Deutschen?“ veröffentlichte. Assoziationen zur Goldhagen-Debatte sind angesichts einer solchen Frage schnell hergestellt. Tatsächlich aber vermittelt schon der französische Originaltitel „Ressentiment et apocalypse“, dass Burrin weit davon entfernt ist, ein zweiter Goldhagen zu sein.

Im Mittelpunkt des Buches steht die These, die Mehrzahl der Deutschen habe sich die nationalsozialistische Identität als nationale Identität angeeignet, und damit habe auch der Antisemitismus als bestimmendes Element der NS-Identität Eingang in die kollektive Identität und die Selbstdefinition der Deutschen gefunden habe. Die Deutschen seien dadurch zwar kein Volk radikaler Antisemiten geworden, wohl aber seien sie von Judenfeindlichkeit „durchdrungen“ gewesen. Dieses Potenzial wiederum habe Hitler für die Umsetzung seiner Verfolgungspolitik der Juden nutzen können, indem er im Verlauf des Zweiten Weltkriegs eine „Kultur des Ressentiments“ propagierte. Sein Deutungsmuster des „jüdischen Krieges“ als eines apokalyptischen Kampfes von Gut gegen Böse habe in der deutschen Bevölkerung zu einem tödlichen Desinteresse geführt. Deutschland habe sich im Weltkrieg von einer Apartheidsgesellschaft zu einer „genozidären Gemeinschaft“ gewandelt.

Dem Autor gelingt es, ein kohärentes Deutungsmuster zu formulieren, das selbst auf die Frage, ob der Holocaust lange von Hitler geplant oder Folge systemimmanenter Radikalisierungsspiralen gewesen sei, eine verblüffende Antwort weiß: In einer Interpretation der Rede des Reichskanzlers vom 30. Januar 1939 führt Burrin aus, dass in Hitlers apokalyptischer Ideologie eine „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ zwar bereits zu diesem Zeitpunkt fest verankert gewesen sei, diese Prophezeiung jedoch an die Bedingung geknüpft gewesen sei, dass das „internationale Finanzjudentum in und außerhalb Europas“ die „Völker noch einmal in einen Weltkrieg“ stürzen würde, wie Hitler sich ausdrückte. Da diese Voraussetzungen erst im Sommer 1941 mit dem wachsenden Widerstand der Sowjetunion und dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten gegeben waren, hätte Hitler auch erst von da an die physische Vernichtung der Juden angestrebt.

Die Logik dieser Interpretation ist bestechend und dürfte doch gerade deshalb Zweifel selbst bei denjenigen provozieren, die einem intentionalistischen Erklärungsansatz des Nationalsozialismus das Wort reden. Ob Hitler tatsächlich in dieser abstrakten Kohärenz zu denken verstand? Ob seine ideologischen Vorstellungen, die von Strukturalisten wie Hanns Mommsen als unklar eingeschätzt werden, tatsächlich einen derart sinnhaften Kern besaßen, der der Forschung bis heute entgangen sein sollte? Und wenn man Hitler doch eine solche intellektuelle Fähigkeit bescheinigen wollte: Warum sollte er dann eine Ideologie kreieren, die in sich „endlich“ ist? Burrin ist Recht zu geben, wenn er behauptet, dass eine eigene Identitätsdefinition dann als besonders radikal anzusehen ist, wenn in ihr ein negatives Gegenbild – in diesem Fall die Juden – als konstitutives Element integriert ist. Die von Burrin formulierte Konsequenz, dass eine solche Identität aber nur dann gedeihen könne, wenn das Negativbild „unmittelbar verschwindet“, ist aber fragwürdig. Was, wenn das Negativbild „verschwunden“ ist? Die Konsequenz wäre auch die Auflösung oder zumindest radikale Modifizierung der eigenen Identität.

Die Belege, die der Autor zur Untermauerung seiner Ausführungen anbietet, sind zweifelsohne viel zu punktuell. Auch wenn es ihm in seinen Ausführungen nach eigenem Bekunden im Wesentlichen darum geht, Fragen zu formulieren und Perspektiven zu eröffnen, was ihm gelingt, so scheint die Wahl der Textsorte doch nur wenig geglückt. Die These von der „genozidären Gemeinschaft“ der Deutschen verlangt nach Belegen, die ein knapper Essayband unter Verzicht auf einen Anmerkungsapparat nicht zu geben imstande ist. Um ihr Gewicht zu verleihen, hätte zumindest die Frage, wie die Deutschen die apokalyptische Ideologie Hitlers verinnerlicht haben sollen, einer genauen Analyse bedurft und nicht einer essayistischen Simplifizierung des Themas zum Opfer fallen dürfen. Nicht nur, dass man die Rolle der Propagandamaschine der Nationalsozialisten und der Rezeption dieser Propaganda durch die Bürger eingehender hätte analysieren müssen. Gleichfalls ist von – zwar nur in bescheidenem Maße, aber dennoch vorzufindenden – widerständischem Verhalten kaum die Rede. Warum widerstehen die einen, während die überwiegende Mehrheit in „tödliches Desinteresse“ verfällt? Und wie verträgt sich die Behauptung der „genozidären Gemeinschaft“ mit der desillusionierten Einschätzung des Widerständlers Helmuth James Graf von Moltke vom März 1943, dass „mindestens neun Zehntel der Bevölkerung“ nicht wüssten, „dass wir Hunderttausende von Juden umgebracht haben“?

Solche Fragen will das Buch „Für ein anderes Deutschland“ des Freiburger Historikers Gerd R. Ueberschär weder beantworten, noch kann es das. Seine Publikation möchte nur Überblick und Bilanz über die Geschichte des Widerstands gegen die Nationalsozialisten auf dem neuesten Forschungsstand sein. Und dennoch belegt gerade das dieser Veröffentlichung entnommene Zitat Moltkes, wie die ergänzende Lektüre beider Werke neue Fragezeichen zu setzen und das vielschichtige Bild „der Deutschen“ zur Zeit des Nationalsozialismus entgegen monokausalen Erklärungsansätzen zu problematisieren imstande ist.

Der Schwerpunkt der Ausführungen Ueberschärs liegt auf dem militärisch-konservativen Widerstand, und doch gelingt es ihm, ein weit verzweigtes Panorama des deutschen Widerstands zu zeichnen, in dem entsprechend des eigenen Anspruchs auch Ergebnisse der jüngeren und jüngsten Forschung zur Geltung kommen. Neben weithin bekannten Widerstandskreisen wie der „Weißen Rose“, dem „Kreisauer Kreis“ oder dem Attentatsversuch Johann Georg Elsers werden so auch Formen von Widerstand, Nonkonformismus, Resistenz und kritischer Distanz sozialdemokratischer, kommunistischer, kirchlicher und jugendlicher Kreise thematisiert, die bis hin zum Kampf gegen den Nationalsozialismus aus der Kriegsgefangenschaft und dem Exil reichen.

Dass Ueberschär seinen Ausführungen einen derart weiten Widerstandsbegriff zugrunde legt, kommt den Ausführungen zugute. Eine noch vielschichtigere Ausbreitung der Einstellungen und des Verhaltens der breiten Masse wäre allerdings an manchen Stellen wünschenswert gewesen. Gerade solchen Ausführungen hätte das Potenzial innegewohnt darzulegen, wann und warum Bürger im NS-Staat auf kritische Distanz zu den Machthabern und ihrer Ideologie gingen und wann und warum nicht. Beispielsweise war der öffentlichen Auflehnung der Gläubigen gegen die Absetzung der Landes-bischöfe Wurm und Meiser 1934 ebenso Erfolg beschieden wie den Stellungnahmen der Kirchen und auch der Bevölkerung 1941 gegen die Euthanasie-Aktionen.

Der vom Autor nur bezüglich der Kirchen formulierten, aber de facto weitgehend auch auf das Volk zu übertragenden Frage, warum Proteste gegen die Verfolgung und Misshandlung der Juden unterblieben, hätte durch solche Ausführungen besonderes Gewicht verliehen werden können, zumal deutlich herausgearbeitet wird, dass häufig ein Zusammenhang zu erkennen ist zwischen der Bereitschaft, sich Widerstandsaktionen anzuschließen, und dem Wissen über die Verbrechen des Systems.

Spiegelbildlich zu Burrin gelesen, offenbart die Darstellung Ueberschärs, dass sich Widerstand gegen den Nationalsozialismus immer dann regte, wenn das Regime in die persönliche Lebenswelt des Einzelnen eingriff und – um in der Sprache Burrins zu argumentieren – dessen Identitätsdefinition herausforderte. Die Militärs, die in der Ermordung von Zivilisten eine Verletzung ihres militärischen Ehrenkodex erblickten; die Soldaten, welche – in Kriegsgefangenschaft geraten – den Wahnsinn der nationalsozialistischen Endsieg-Losung realisierten; die einfachen Bürger, welche immer deutlicher vom Regime abrückten, je öfter sie im Bombenhagel um Leib und Seele fürchten mussten: Sie alle (hier beispielhaft genannt) entwickelten zumeist erst dann widerständisches oder distanziertes Verhalten, als sie sich in ihrem eigenen Selbstverständnis angegriffen fühlten.

Der ausbleibende Widerstand gegenüber den Deportationen der Juden aus dem Altreich ab 1941 muss angesichts dieser Feststellung nicht zwangsläufig Ausdruck einer „genozidären Gemeinschaft“ sein, auch wenn ein weit verbreiteter Antisemitismus in Deutschland außer Frage steht. Vielmehr könnte auch die These formuliert werden, dass die Juden zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend aus den Identitätsdefinitionen der Deutschen ausgeschieden waren. Beispielsweise lebten in München 1941 gerade noch rund 3500 jüdische Mitbürger bei einer Gesamtbevölkerungszahl von rund 800 000 Bürgern. Die Zahl derjenigen, für die eine Verfolgung dieser verbliebenen Juden ein Angriff auf ihre persönliche Identitätsdefinition bedeutet hat, muss als äußerst gering eingeschätzt werden – zumal man im Krieg forciert auf die eigene Lebenswelt konzentriert war. Gerüchte über die nationalsozialistischen Verbrechen aus entfernten Gegenden berührten das Selbstverständnis wohl nur noch peripher. Die Frage, warum die Judenverfolgung geduldet wurde, würde damit auf die Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg konzentriert werden. Hier aber greift die von Burrin formulierte These der Identitäts-übernahme nur bedingt.

Der Ansatz, Deutschland im Nationalsozialismus unter identitätstheoretischen Aspekten zu beleuchten, erscheint somit Erkenntnisgewinn zu bringen. Die Frage, warum Nationalsozialismus und Genozid Teil deutscher Geschichte sind, bleibt allerdings auch nach Burrin unbeantwortet. Gerade die Ergebnisse der Widerstandsforschung, wie sie Ueberschär überblicksartig zusammengefasst vorgelegt hat, sind zu ihrer Beantwortung aber unabdingbar zu berücksichtigen. Motive des Widerstands und der Resistenz offenbaren zugleich auch Motive der Zustimmung und der Anhängerschaft. Zusammen ergeben sie das Bild einer deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945, die das Unfassbare mindestens zuließ.

Philippe Burrin: Warum die Deutschen? Antisemitismus – Nationalsozialismus – Genozid. Propyläen Verlag, Berlin 2004. 140 Seiten, 16 €.

Gerd R. Ueberschär: Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat 1933–1945. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005; bisher zu beziehen als Lizenzausgabe der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Darmstadt. 400 Seiten, 29,90 €.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2005, S. 128 - 131.

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