Geheimdienste
Den einen gelten sie als Gefahr für die Demokratie, anderen als inkompetente Versagertruppen, wieder anderen als eigentümliche Mischung aus beidem: Geheimdienste haben in Deutschland kein gutes Image. International drängen derweil Spionageorganisationen als schlagkräftige Akteure von Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den Vordergrund. Zeit, mit liebgewonnenen Vorurteilen aufzuräumen.
„Geheimdienste sind ein Staat im Staate und Teil einer Weltverschwörung“
Das ist gefährlicher Unsinn. Es ist der wohl bekannteste, am häufigsten wiederholte, am leichtesten zu widerlegende und dennoch langlebigste Mythos über Geheimdienste: Sie kontrollierten entweder klandestin oder ganz offen als „eigener Staat“ das Weltgeschehen.
Speisen konnte sich dieser Mythos aus einer Mischung von Unkenntnis, Verschwörungsglauben, übertriebener Geheimhaltung und gezielter Übertreibung. Daher ist er der beste Beweis für die Dringlichkeit einer unaufgeregten Auseinandersetzung mit Geheimdiensten.
Die Berührungsängste, die oftmals klammheimliche Ehrfurcht oder die offene Angst vor ihrer vermeintlichen Stärke verleihen Geheimdiensten eine Macht, die nicht real ist. Organisationen wie Gestapo, Stasi oder KGB haben diese psychologische Macht gezielt eingesetzt, um da Kontrolle über die Bevölkerung auszuüben, wo sie es mit ihren tatsächlichen Möglichkeiten nicht vermochten.
Geheimdienste können gar nicht im Verborgenen die Welt, ja nicht einmal einen Staat steuern. Dazu müssten sie in der Lage sein, jederzeit überall in alles einzugreifen, politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse vorherzusehen und zu steuern – und das auch noch so, dass es niemand mitbekommt. Trauen wir dies behördlichen Strukturen wirklich zu?
Denn Geheimdienste – und das ist wohl der wichtigste Grund, warum sie kaum zur großen Verschwörung taugen – waren und sind nun einmal Behörden mit allen dafür typischen Eigenschaften: mit festgelegten, hierarchischen und schwerfälligen Abläufen, mit Risikoabwägung, Rücksprache mit Entscheidungsträgern, Fristen, Budgetkontrolle und so weiter. Was hier regiert, hat wenig mit Allmacht zu tun und viel, man verzeihe das Klischee, mit Amtsschimmel.
Wenn Geheimdienste Aktionen planen, steckt ein erheblicher Arbeitsaufwand dahinter: Zeit, Geld und Personal müssen beantragt, bewilligt und bereitgestellt werden. Selbst die gefürchteten Mordanschläge der Stasi oder der heutigen russischen Geheimdienste liefen nach diesem Schema ab: Auftrag, Operationsplanung, Begutachtung, Revision, Freigabe, Durchführung, Dokumentation. Personelle und finanzielle Ressourcen reichen nicht für allumfassende, „weltverschwörerische“ Aktionen.
Ein Mord, ein Putsch, Beeinflussung von Journalisten oder Politikern – das funktioniert noch. Aber alles gleichzeitig und zu jeder Zeit: Das liegt weit außerhalb der Möglichkeiten selbst der größten und aggressivsten Geheimdienste. Auch die abenteuerlichsten Schätzungen von „Schatten“-Budgets oder Personalstärke ergeben, dass die Dienste verglichen mit den Polizeien oder Armeen ihrer Länder über wesentlich geringere Mittel verfügen. Eine „Weltverschwörung“ ist so nicht zu machen.
Hinzu kommt: Der Kreis von Mitwissern selbst bei den sensibelsten Geheimdienstaktionen wie Mord, Sabotage, Regime Change oder Einflussoperationen ist zwar klein, aber nicht so klein, dass nichts nach außen dränge. Die Einbindung in komplexe staatliche Machtstrukturen führt nicht nur zu einem System von Kontrollstufen, sondern auch zu einem erweiterten Kreis von Mitwissern. Hinzu kommt der Einsatz digitaler Technik, die das Vervielfältigen und die anonyme Verbreitung von Informationen erheblich erleichtert. Große Verschwörungen bleiben so unmöglich top secret.
„Spionage ist illegal und unmoralisch“
Da ist was dran – aber auch nicht übermäßig viel. Abhören, bespitzeln, täuschen, lügen, verraten, schmuggeln, foltern, töten und entführen – all das gehört zum Geschäft der Geheimdienste. Fast jeder von ihnen hat im Laufe seiner Geschichte fast alles auf dieser Liste abgehakt. Die CIA hat vermeintliche Terroristen in Spezialgefängnissen mit „erweiterten Verhörmethoden“ gefoltert, der FSB (Föderaler Dienst für Sicherheit der Russischen Föderation) lässt Ex-Agenten im Ausland vergiften, der BND hört massenhaft ab, und der französische Auslandsgeheimdienst DGSE hat ein Boot von Greenpeace-Aktivisten in die Luft gesprengt. Wie moralisch oder legal kann da Geheimdienstarbeit sein?
Nun, die Realität ist nicht ganz so einfach. Zunächst einmal sind diese Aktivitäten keineswegs ein eingetragenes Markenzeichen von Geheimdiensten: Die Polizei hört ab, hat Informanten und verdeckte Ermittler und wendet – ebenso wie das Militär – Gewalt an. Trotzdem genießt sie ein ziemlich hohes Ansehen und gilt nicht als unmoralisch. Auch Journalisten setzen – etwa bei investigativen Recherchen – auf vertrauliche Informationen, Trickanrufe oder sogar auf Abhörtechniken.
Auch mit der Illegalität in der Spionage ist es so eine Sache: Geheimdienste brechen täglich geltendes Recht – aber eben zumeist das Recht anderer Staaten. Und weil das alle tun (einen Staat ohne Geheimdienst gibt es nicht), kann sich die Weltgemeinschaft nicht auf ein Verbot von Spionage einigen. So ist Spionage nach internationalem Recht per se erst einmal nicht illegal.
Aber geheimdienstliche Tötungen, wird man hier einwenden, die sind doch in jedem Falle illegal und unmoralisch? Die überraschende Antwort: Nein!
Gezielte Tötungen sind nach internationalem Recht nicht illegal. Allerdings müssen bestimmte Regeln beachtet werden, damit sie rechtmäßig sind: Sie müssen notwendig zur Abwehr direkten Schadens sein; sie sind zur Selbstverteidigung erlaubt; sie müssen verhältnismäßig und das letzte Mittel sein; sie müssen gerechtfertigt und begründet werden; sie müssen Zielpersonen treffen, die direkt an feindseligen Kampf- oder Angriffshandlungen beteiligt sind oder solche planen. Auf ausländischem Territorium dürfen sie nur durchgeführt werden, wenn der andere Staat sein Einverständnis gibt, wenn die Tötung durch Selbstverteidigung gerechtfertigt ist, der Zielstaat an einem Angriff gegen den ausführenden Staat beteiligt ist oder der Zielstaat Gewalt, die von seinem Territorium ausgeht, nicht unterbinden kann oder will. Illegal sind sie vor allem dann, wenn sie zur Rache oder zur Abschreckung dienen.
Legale geheimdienstliche Tötungen sind also durchaus möglich, auch wenn die Mehrheit der Fälle als illegal eingestuft wird. Und sind sie wirklich unmoralisch? Darüber lässt sich trefflich streiten, denn beileibe nicht jeder geheimdienstliche Mordanschlag schockiert uns in gleichem Maße.
Der Giftanschlag auf den Oppositionellen und Putin-Kritiker Alexej Nawalny etwa hat die Öffentlichkeit mit Recht erschüttert. Aber die von Agenten des israelischen Mossads 1965 in Uruguay durchgeführte Mordoperation gegen den NS-Kriegsverbrecher und „Henker von Riga“ Herberts Cukurs? Die „Operation Foxely“, der vom britischen Geheimdienst SOE geplante Mordanschlag auf Adolf Hitler 1944? Das Attentat auf Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts und NS-Kriegsverbrecher, am 27. Mai 1942?
Ein moralischer Aufschrei vermag uns hier kaum über die Lippen zu kommen. Dabei war der Heydrich-Anschlag nach heutigem internationalen Recht illegal, da die ausführenden Personen getarnt und verkleidet operierten und keine öffentliche Rechtfertigung erfolgte. Gleiches galt auch für die aus Rache erfolgten Tötungen von NS-Kriegsverbrechern.
Geheimdienstarbeit und Spionage müssen also nicht per se unmoralisch und illegal sein. Stattdessen gibt es Theorien von einer moralisch akzeptablen Geheimdienstarbeit ähnlich jener vom „gerechten Krieg“. In einer „Leiter der Eskalation“ werden geheimdienstliche Methoden in aufsteigender Reihenfolge aufgelistet und einer entsprechenden Bedrohungsstufe gegenübergestellt. Extreme Mittel sind demnach nur in Situationen extremer Gefahr moralisch annehmbar. Das Abhören von Telefonen oder eine Totalüberwachung etwa ist nur durch eine konkrete und schwere Bedrohung der nationalen Sicherheit zu rechtfertigen. Der ungezielte Einsatz von Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen hingegen bedarf nach dieser Theorie keiner weiteren moralischen Begründung. Einzig Folter steht ganz außerhalb der Moral.
„Geheimdienste handeln, wie es ihr Name sagt: streng geheim“
Das war einmal. Heute befinden wir uns im Zeitalter des öffentlichen Geheimdiensts. Als die ersten Geheimdienste der Moderne im britischen Weltreich gegründet wurden, waren sie durch eine starke horizontale und vertikale Geheimhaltung gekennzeichnet: Weder andere Behörden und Stellen im Staatsapparat noch die Öffentlichkeit wussten von ihnen.
Bis Anfang der 1990er Jahre waren die Existenz, Hauptquartiere und selbst die Identität der Direktoren der britischen Geheimdienste offiziell ein Staatsgeheimnis. Allerdings lautete ein geflügeltes Sprichwort in den Straßen Londons, dass niemand die Adresse des Geheimdiensts kenne – außer natürlich alle Taxifahrer und KGB-Agenten.
Auch der deutsche BND hängte erst in den 1990er Jahren ein offizielles Schild an sein Hauptquartier im Münchner Vorort Pullach. Ganz zu schweigen von seinen Mitarbeitern, die sich selbst untereinander mit Decknamen ansprechen mussten, seinem geheimen Budget und seiner geheimen Arbeit. Das mutet nicht nur aus heutiger Sicht seltsam an, sondern war es schon damals. Und trug – zumindest in Deutschland – nicht unbedingt zum Vertrauen in die Fähigkeiten und Absichten der Geheimdienste bei.
Heute sind Geheimdiensthauptquartiere nicht nur öffentlich bekannt, sondern verfügen auch über einen öffentlich besuchbaren Teil, museale Ausstellungen und Kaffeefahrten für Bildungsreisende aus allen Winkeln der Republik. In den sozialen Medien posten Geheimdienste Stories aus ihrem Innenleben, Rätsel, Spiele und – wie etwa die CIA – ihre besten Operationen. Geheimdienstmitarbeiter nehmen an öffentlichen Diskussionen teil, veröffentlichen Bücher, und offizielle Historikerkommissionen beweihräuchern entweder die heldenhaften Operationen der Dienste (CIA, FBI, MI 6 und MI 5) oder arbeiten kritisch ihre Geschichte auf (BND und Verfassungsschutz). Parlamentarische Untersuchungsausschüsse veröffentlichen Tausende Seiten mit teils tiefgehenden Details über operative Geheimnisse, und in Arbeitsgruppen tauschen sich Geheimdienstler mit anderen Behörden aus.
Unterdessen hat die digitale Revolution nicht nur dafür gesorgt, dass Geheimdienste immer mehr Daten abgreifen können. Auch Journalisten, Aktivisten, Hacker und NGOs können heute auf ein Instrumentarium zur Informationssammlung zurückgreifen, das noch vor nicht einmal zehn Jahren ausschließlich den Diensten und Militärs vorbehalten war. Das digitale Investigativkollektiv von Bellingcat ist das wohl beste Beispiel dafür: Anhand von – heute für nahezu jedermann zum Schnäppchenpreis online käuflichen – Satellitenbildern und auf Plattformen geposteten Videos konnten sie nachweisen, dass eine an Separatisten gelieferte russische Rakete 2014 ein ziviles Passagierflugzeug über der Ukraine abgeschossen hatte.
Im Jahr 2018 identifizierte Bellingcat dann anhand von ein paar veröffentlichten Überwachungsbildern die Attentäter des Nowitschok-Anschlags auf den ehemaligen russischen Geheimdienstoffizier Sergej Skripal. Dieses Kunststück wiederholten sie seitdem in mehreren hochbrisanten Fällen.
Satellitenbilder, Informanten, offen verfügbare Quellen, Social-Media-Posts, Kommunikations-Metadaten – wenn man es nicht besser wüsste, würde man diese Mittel zur Informationsgewinnung einem Geheimdienst und nicht Journalisten zuschreiben. Kaum zufällig stellte Bellingcat-Gründer Elliot Higgins sein Manifest unter den Titel „An Intelligence Agency for the People!“.
In welchem Maße sich die Geheimnisse um die einstmals so geheimen Dienste angesichts von Demokratisierung, digitaler Öffentlichkeit und neuem Aufgabenprofil verflüchtigt haben, zeigte der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine: Monate vor der Invasion veröffentlichte die CIA beinahe im Tagesrhythmus neue Erkenntnisse über die russische Entschlossenheit zum Krieg. Der US-Präsident persönlich kommentierte die Erkenntnisse seines Geheimdiensts, und der CIA-Chef flog mit viel Presse-Tamtam zur Geheimdienstdiplomatie nach Moskau. In einem eigenen Arbeitsstab arbeiten Weißes Haus und CIA seit Kriegsbeginn daran, Geheimdienstinformationen zu „deklassifizieren“ und für die Veröffentlichung freizugeben.
Der britische Geheimdienst sendet seine Einschätzungen zur Lage des russischen Militärs gleich per Twitter, und auch der BND sorgte dafür, dass die deutsche Öffentlichkeit mitbekam, dass er Telefonate russischer Soldaten mitgehört hatte, die als Belege für Kriegsverbrechen in Butscha galten. Diese Liste ließe sich nahtlos fortsetzen und zeigt deutlich: Wir sind bereits in die Ära von Public Intelligence eingetreten, das Zeitalter der öffentlichen Geheimdienstarbeit.
„Desinformation, Propaganda und Fake News lassen sich mit Fakten stoppen“
Schön wär’s. Fact-Checking und Entlarvung werden gerne als Heilmittel gegen die digitale Seuche manipulierter und manipulativer Informationen angepriesen. Egal ob Covid-Verschwörungstheorien oder russische Kriegspropaganda: „Faktenchecker“ beschäftigen sich damit, durch Detailarbeit und Sachlichkeit der Öffentlichkeit zu erklären, dass trotz millionenfacher Klicks, Likes und Shares die Welt keine Scheibe ist, der Coronavirus nicht von amerikanischen Milliardären in die Welt gesetzt und nicht die Ukraine Russland, sondern Russland die Ukraine überfallen hat. So löblich das auch ist, dieses Unterfangen hat einen gewaltigen Haken: Es kann nicht erfolgreich sein.
Fact-Checking kommt immer zu spät, es reagiert immer auf den größten Unsinn, der gerade viral geht. Doch dieser Unsinn ist anpassungsfähig; kaum hat ein Faktenchecker in tagelanger Arbeit recherchiert und eine Spielart manipulativer Informationen zurechtgerückt, mutiert die Desinformation, wird gezielt abgeändert und neu ausgerichtet, und das Spiel beginnt von vorne. Studien zeigen zudem: Falschinformationen verbreiten sich bis zu zehnmal schneller und weiter als die folgenden Dementis, Analysen und Entlarvungen.
Hinzu kommt: Fact-Checking dringt nur selten zu denselben Zielgruppen durch wie die Falschinformationen, mit denen sich diese beschäftigen. So können die Fact-Checker zwar die Mitte der Gesellschaft erreichen und hoffentlich einer allzu breiten Streuung von Desinformation vorbeugen – den Teil der Bevölkerung aber, der Messenger- und Social-Media-Kanäle als Hauptinformationsquelle nutzt, werden sie verfehlen.
Hinzu kommt, dass Propaganda und Desinformation gar nicht auf Fakten und Rationalität setzen. Ihnen geht es um Emotionen, um Überzeugungen, um Polarisierung und Übertreibung. Weder der politische noch der biologische Mensch besteht und denkt alleine in der Kategorie von Fakten. Emotionen machen einen oftmals auch unbewussten Großteil unseres Denkens und unserer erlebten Realität aus. Im Kampf zwischen Fakten und Emotionen ziehen erstere viel zu oft den Kürzeren.
Und noch eine schlechte Nachricht: Heutige Versionen von Künstlicher Intelligenz bauen auf dem Wissen und den Informationen auf, die sie gerade online finden und mit denen sie gefüttert und trainiert werden. Also auch mit Unmengen an Desinformation. Wohin das in der schönen neuen Welt des immersiven Internets („Metaverse“) führen kann, zeigte die Vorstellung eines für das Metaverse designten KI-Bots, der im Gespräch mit Nutzern freimütig gegen Corona-Impfungen vom Leder zog und eben jene abstrusen Thesen wiederholte, die er beim eigenständigen Lernen aufgesaugt hatte.
„Die russischen Geheimdienste sind besonders erfolgreich“
Das stimmt nicht so ganz. Natürlich, diese Dienste sind – gerade in den vergangenen zehn Jahren – hochgradig aggressiv in der Welt unterwegs. Was können sie also besonders gut? Eine Antwort darauf ist: Menschen für sich gewinnen, sprich: Quellen, Informanten und andere Agenten anwerben. Das war schon zu Sowjetzeiten ihre große Stärke. Das liegt vor allem daran, dass sie Kandidaten gründlich untersuchen, Schwächen, Stärken, Möglichkeiten einschätzen und ein sehr genaues Psychogramm ihrer Zielpersonen erstellen.
Zudem wissen die russischen Geheimdienste vielleicht schon länger und besser als ihre westlichen Pendants, dass die enge, fürsorgliche und langfristige Bindung einer Quelle an ihren anleitenden Geheimdienstoffizier von größter Bedeutung ist. Verbunden mit einem Charme, den man in populären Fehleinschätzungen einem russischen Geheimdienstler nicht zutrauen will, schaffen sie es so, Menschen für sich zu gewinnen.
Zudem gilt: Russische Geheimdienste lassen sich beim Aufbau ihrer Quellen viel Zeit. Ihre berühmten „Schläfer-Agenten“, die unter falschen Identitäten im Ausland leben, wurden und werden teils über Jahrzehnte aufgebaut. Und auch in das sogenannte Verbindungssystem, also die Kommunikation und Treffen mit ihren Quellen, investieren die russischen Dienste traditionell viel Zeit und Geld.
Doch was die russischen „Spezialoperationen“, also Cyber- Attacken, Auftragsmorde und Einflussaktionen, angeht, ist die Erfolgsbilanz bestenfalls durchwachsen. Zwar fallen die russischen Geheimdienste durch große Aggressivität, spektakuläre Aktionen, riesige Ressourcen und vor allem eine globale Präsenz auf; das sollte jedoch nicht zwangsläufig mit „Erfolg“ verwechselt werden.
Nehmen wir das Thema Cyber-Spionage. Grundsätzlich muss die Leistungsfähigkeit russischer Geheimdienste hier als „sehr gut“ eingestuft werden. Von amerikanischen Parteizentralen über das Auswärtige Amt bis hin zum Bundestag oder zu multinationalen Unternehmen: Kein System ist vor den Hackern von GRU & Co sicher. Doch auch hier gilt eine Einschränkung: Rein kommen sie, aber was sie mit den erbeuteten Informationen anfangen, ist keineswegs immer eine Meisterleistung. Nach dem „Election Hack“ während der US-Präsidentschaftswahl 2016 etwa kreierten dieselben Meisterhacker ziemlich stümperhafte Webseiten voller Sprachfehler, auf denen sie ihre Informationen leaken und so den Wahlkampf beeinflussen wollten.
In anderen Fällen konnten russische Hacker noch während ihrer Arbeit „zurückgehackt“ und in flagranti vor dem PC fotografiert werden. Ähnliche einfache Fehler wiederholten sie so oft, dass man auch hier keineswegs vor Ehrfurcht erstarren muss.
Geradezu haarsträubend schließlich ist die Bilanz russischer Geheimdienste bei ihren Mordaktionen. Aggressiv? Ja. Kreativ? Unbedingt. Dreist? In jedem Fall. Aber erfolgreich? Mitnichten. Mordanschläge gegen Überläufer wie Litwinenko oder Skripal wurden nicht nur öffentlich, sondern enthüllten auch schonungslos das wahre Gesicht der politischen Führung. Zudem hielten und halten solche Anschläge – entgegen ihrer Zielsetzung – die eigenen Geheimdienstmitarbeiter keineswegs vom Überlaufen oder der Arbeit für westliche Geheimdienste ab.
Auch unter den zahlreichen Fällen von Auftragsmord, die in den vergangenen zehn Jahren öffentlich wurden, finden sich erstaunlich viele Fälle, in denen das Opfer, wie etwa Alexej Nawalny, überlebt hat. Diese Faktoren summieren sich zu einem Punkt, an dem laut darüber nachgedacht werden kann, ob das Narrativ vom Erfolg russischer Mordaktionen nicht viel eher durch das Narrativ vom großen Scheitern ersetzt werden sollte.
Und eines können die russischen Geheimdienste überhaupt nicht gut: aus ihren beschafften Informationen vernünftige Analysen erstellen. Das war schon zu Sowjetzeiten das große Problem des KGB, und das ist es noch heute, wie sich nicht zuletzt an der grandiosen Fehleinschätzung des FSB vor dem Überfall auf die Ukraine zeigte.
Die Politisierung der Dienste und ihre Hierarchisierung in einem autoritären Staat führen dazu, dass den Entscheidungsträgern letztlich nur das geliefert wird, was sie in ihrer Meinung bestätigt. Kritische Abweichungen von der offiziellen Linie sind selbst für Geheimdienstanalysten gefährlich. Die guten Informationen, die sie gewinnen können, werden so zu schlechten Analysen verarbeitet – und sind damit größtenteils nutzlos.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2022, S. 104-109
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