Gegen den Strich

02. Sep 2024

Gegen den Strich: Wirtschaft und Weltklima

Erderwärmung, Diskriminierung, soziale Gewalt: Im Kampf gegen große globale Probleme ruhte der Blick zuletzt immer wieder auf Industriekonzernen, Banken und Investoren. Kann die Ökonomie als Weltverbesserer wirken? Setzt sie eine bessere Moral durch? Immer stärker zeigt sich jedoch: Die damit verbundenen Hoffnungen trügen, etwa in Sachen Nachhaltigkeit. Sechs Thesen auf dem Prüfstand.

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Bild: das Ufer des Kariba-Sees in Simbabwe.
Lebensraum für Menschen und Tiere, aber auch Symbol eines der größten Skandale im weltweiten CO2-Zertifikatmarkt: das Ufer des Kariba-Sees in Simbabwe.
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„Umwelt, Soziales, Unternehmensführung: Das ist der Dreiklang der Zukunft“ 

Nein, das ist er nicht mehr. Eine Zeitlang beteten viele Wirtschaftsvertreter diese vermeintliche Zukunftsformel nach – „Environmental, Social and Governance“, kurz ESG. Eine ökonomische und politische Strategie, die sich um die Umwelt, soziale Fragen und eine gerechte, gut ausbalancierte Unternehmensführung kümmert. Noch immer finden viele Kongresse zu diesem Thema statt. ESG-Krite­rien werden lebhaft diskutiert. Zuweilen scheint es sich jedoch eher um Beschwichtigungsrituale zu handeln als um lösungsgerechte Veränderungen.

Die Wirklichkeit sieht so aus, dass immer mehr CEOs und die dahinterstehenden Kontroll­gremien die ehrgeizigsten Klimaziele längst in der ursprünglichen Form abgeräumt haben. Sie kommen zu teuer. Sie gefährden nicht minder ambitionierte Renditevorgaben. So verschiebt man das Erreichen von ESG-Zielen einfach nach hinten. 

Der grüne Umbau der Wirtschaft zählt nicht mehr zu den fünf größten Prioritäten deutscher Topmanager. Das ermittelte jüngst die Unternehmensberatung Horvath bei einer Umfrage unter mehr als 750 Firmen. Wichtiger als die Ökobilanz sind demnach die Themen Kostensenkung, Cybersicherheit, Fachkräftemangel, digitaler Wandel und Liquiditätssicherung. 2020 hatte die „Ergrünung“ der Wirtschaft noch auf dem dritten Platz rangiert. Heute redet man lieber über Künstliche Intelligenz als über Dekarbonisierung.

Die Trendwende basiert auf veränderten Bedingungen im Energiemarkt. So sind die Öl- und Gaspreise längst nicht mehr so hoch wie beim Ausbruch des Ukraine-Krieges. Und die Aussicht auf steigende CO2-Preise schreckt nicht mehr wie einst. Der Handlungsdruck fehlt. Für viele geht es jetzt eher darum, mit Konjunkturrisiken zurechtzukommen als mit dem Klimadesaster. Energiepolitik muss nicht mehr nur nachhaltig sein, sondern auch Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit gewährleisten. 

Wie immer in Deutschland ist die Autoindustrie ein wichtiger Indikator. So galt einst Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius als ökologischer Vorreiter – schon 2030 wollte er fast nur noch Elektroautos anbieten. Nach zuletzt schwachen Verkäufen in diesem Segment korrigierte der ­gebürtige Schwede seine Pläne rabiat. Jetzt soll der Absatzanteil elektrifizierter Fahrzeuge zum Ende dieses Jahrzehnts bei nur noch 50 Prozent liegen. „Electric only“? Das war einmal. 

Ein weiteres Indiz für den Bewusstseinswandel: Neue fossile Projekte sind für Ölkonzerne wie Exxon, BP und Shell wieder sehr attraktiv geworden. Weil neue Verbrennerautos noch in den 2030er Jahren gebaut und frühere Ausstiegsszenarien obsolet werden, sind in den Berechnungen von „Big Oil“ größere Ölkapazitäten notwendig. Eigene innovative grüne Geschäftsmodelle haben an Bedeutung verloren.

Im März bekannte Shell, das Erdgasgeschäft auszuweiten und die eigenen Klimaziele abzusenken – mit der bizarren Begründung, es sei so wahrscheinlicher, sie zu erreichen. BP wiederum nahm Abstand vom Ziel, CO2-Emissionen bis 2030 um 35 Prozent zu senken – nun sollen es, recht vage, nur noch 20 bis 30 Prozent sein. Und Exxon stoppte kurzerhand ein Prestigeprojekt zur Herstellung von kohlenstoffarmen Treibstoffen aus Algen. Stattdessen wird die Förderung von Schieferöl in den USA bis 2028 verdoppelt. 

Immer klarer zeichnet sich ab, dass die Klimaziele des Pariser Abkommens von 2015 verfehlt werden. Vor einigen Monaten hat Amin Nasser, Chef des Ölkonzerns Saudi Aramco, die Energiewende bereits als „gescheitert“ erklärt. Die Welt solle „die Fantasie des Ausstiegs aus Öl und Gas aufgeben und stattdessen angemessen in sie investieren, um realistische Nachfrageannahmen zu berücksichtigen“. 

Oder nehmen wir Lufthansa. Die Airline hat ihr ursprüngliches Ziel, „Net Zero“ für 2050, wieder einkassiert. Man wisse ja nicht, mit welchen Technologien und Lösungen das überhaupt zu erreichen sei. So lässt sich der Carrier auch nicht mehr von der Science Based Target initiative (SBTi) bewerten, einer Organisation, die Gütesiegel für klimabewusste Unternehmen vergibt. 160 Unternehmen sind aus der Datenbank rausgeflogen, mehr als 5000 sind noch drin. 

In anderen Sektoren der Wirtschaft, etwa Stahl oder Chemie, fehlen wichtige Voraussetzungen, um die geplanten grünen Werke zu errichten. So gibt es kaum grünen Wasserstoff – und wenn, dann zu extrem hohen Preisen. Weil alternative Kraftstoffe fehlen, wollen nun die Betreiber der Kreuzfahrtschiffe Aida und Tui Cruises erst bis 2050 klimaneutral fahren und nicht mehr, wie einmal geplant, schon bis 2040. 


„Der Finanzmarkt sorgt für den grünen Umbau“

Das bleibt eine Illusion. Mitte der 2010er Jahre waren es Staatsfonds wie Norges Bank Investment Management aus Oslo oder Pensionskassen wie ABP aus den Niederlanden, die auf „responsible investment“ drängten und ihre Gelder nicht mehr in Umweltverschmutzer, Waffenhersteller, Unternehmen mit Kinderarbeit oder Tabakproduzenten steckten. Firmen oder Staaten, die gegen UN-Normen verstießen, gingen leer aus.

An die Spitze der Bewegung setzte sich der weltgrößte Vermögensverwalter BlackRock aus New York, der zurzeit ein Vermögen von rund zehn Billionen Dollar verwaltet. Der mit Regierungen und Zentralbanken gut vernetzte CEO Larry Fink postulierte von 2020 an Nachhaltigkeitsziele so lautstark, dass man glauben konnte, er wolle im Alleingang das Weltklima retten. 

Im vorigen Jahr aber ließ sich Fink plötzlich anders vernehmen. Nun warf er den extremen politischen Lagern, links wie rechts, wütend vor, das Kürzel ESG als Waffe zu missbrauchen. Er selbst werde den Begriff nicht mehr verwenden. Die Debatte, so Fink, werde zunehmend persönlich geführt, man versuche, das „Thema zu verteufeln“. 

Fink war in die Bredouille geraten. Auf der einen Seite kritisierten Klima-Aktivisten, die Ziele und Aktionen von BlackRock gingen nicht weit genug. Auch stecke der Investor weiter viel Geld in Ölkonzerne. Der eigene Ex-Nachhaltigkeitschef bezweifelte, ob es klug sei, „New Yorker Bankern das Schicksal des Planeten anzuvertrauen“. 

Von der politischen Rechten der USA wiederum wurde BlackRock-Maestro Fink als zu „grün“ und zu „woke“ charakterisiert. Mehrere von der Republikanischen Partei regierte US-Bundesstaaten wie Florida oder Texas zogen Investmentgelder von der Finanzfirma ab, da dort angeblich Nachhaltigkeit wichtiger sei als Rendite. BlackRock schade US-Konzernen, etwa der Ölindustrie. 

Angesichts dieser Polarisierung sei ESG zum „schmutzigen Wort“ geworden, Firmen würden es in ihrer Kommunikation vermeiden, so das Wall Street Journal. BlackRock selbst spricht mittlerweile lieber von Infrastruktur, in die man investieren wolle. 

Mit diesem Kulturkampf endete auch der zeitweilige Boom der ESG-Fonds; die Börsenkurse einschlägiger ESG-ETFs stürzten ab. Zwischen 2016 und Ende 2020 hatte das Volumen der weltweiten Vermögenswerte in nachhaltige Investments von knapp 23 Billionen auf 35 Billionen Dollar zugelegt – doch 2023 wurden mehr ESG-Fonds geschlossen als neue eröffnet. Das nachhaltige Anlagevolumen liegt jetzt bei rund 30 Billionen. Gestiegene Rohstoffpreise und höhere Zinsen haben die einst so bejubelte Anlageart in ihrer Bedeutung relativiert.

Aber auch „Greenwashing“ – falsche Angaben zu „grünen“ Effekten von Produkten – spielt eine große Rolle. So hatte eine Whistleblowerin enthüllt, dass die DWS, die Fondstochter der Deutschen Bank, ihre nachhaltigen Finanzprodukte viel „grüner“ darstellte, als sie wirklich waren. DWS musste 25 Millionen Dollar an die US-Börsenaufsicht zahlen, die Staatsanwaltschaft führte mehrere Razzien durch. 


„Wir bekommen ein grünes Wirtschafts-
wunder“

Davon ist wenig zu sehen. Insgesamt ist die deutsche Wirtschaft im Jahr 2023 um 0,2 Prozent geschrumpft, für 2024 wird allenfalls eine leichte Steigerung von 0,3 Prozent prognostiziert. Grüner Wachstumsschub? Fehlanzeige.

Das hatte Olaf Scholz ganz anders angekündigt. Der Bundeskanzler sprach im März 2023 davon, Deutschland werde aufgrund der hohen Investitionen in den Klimaschutz „für einige Zeit Wachstumsraten erzielen können wie zuletzt in den 1950er und 1960er Jahren“. 

Hier wirkte offenbar der Versuch einer „self-fulfilling prophecy“, die Vorhersage soll sich selbst erfüllen. Solcher Zweckoptimismus berücksichtigt allerdings nicht die hohen Anpassungskosten und die erhöhten Energiepreise einer grünen Transformation. Temporär kann es sogar zu Wohlstandsverlusten kommen. 

Es dürfte sich im Erfolgsfall nicht um ein quantitativ bedeutendes Wachstum wie bei Ludwig Erhard handeln, sondern um ein qualitatives Wachstum, das besondere Schwerpunkte in der Ökologie setzt, der Sicherheit oder der Digitalisierung. 

Ein mögliches Boom-Produkt wie die Wärmepumpe wurde rund um ein stümperhaft formuliertes Gesetz sogar so lange heruntergeredet, bis es im Markt ein schlechtes Image bekam. Auch weil ein EU-Aktionsplan für Wärmepumpen verschoben wurde, war der Verkauf der Geräte in 14 europäischen Ländern 2023 erstmals rückläufig, um rund 5 Prozent. 

Der von der Bundesregierung bestellte Expertenrat für Klima­fragen erklärte, die Ziele gedrosselter Emissionen für Energie, Gebäude, Verkehr und Industrie würden bis 2030 nicht erreicht. Auch für die Zeit von 2031 bis 2040 sei eine „deutliche Ziel­überschreitung des Treibhausgasbudgets“ absehbar. Klimaneutralität 2050? Forget it. 


„Marktwirtschaft hilft gegen Klimaprobleme“

Im Prinzip ja, in der Praxis jein. Grundsätzlich können höhere Umweltkosten über spezielle Abgaben und Steuern in die Preiskalkulation von Gütern und Dienstleistungen eingehen. Eine ganz andere Frage ist, wie die Verbraucher und Bürger die damit verbundenen Preiserhöhungen annehmen.

Ein Menetekel ist die 2018 von der französischen Regierung aus Umweltgründen geplante Erhöhung der Ökosteuern auf Gas und Benzin. Demonstranten zogen sich gelbe Westen an, es kam zu Szenen wie im ­Bürgerkrieg. ­
Seitdem gilt die „Gelbwesten“-
Gefahr als großes Risiko bei jeder Maßnahme pro Umwelt- und ­Klimaschutz. 

Der französische Ökosteuer-
plan wurde am Ende ganz ausgesetzt. Dabei hatte die Regierung in Paris genau das verwirklicht, wozu Wissenschaftler raten: den Verbrauch von Kohlendioxid stärker zu besteuern. 2018 betrug der CO2-Preisaufschlag in Frankreich bereits rund 45 Euro je Tonne CO2 und sollte bis 2030 das Niveau von 100 Euro erreichen. Deutschland liegt mit einem Satz von 45 Euro im europäischen Mittelfeld. An der Spitze liegen die Schweiz (120 Euro) und Schweden (115 Euro). 

Der bereits Anfang der 1990er Jahre in nordischen Ländern eingeführte CO2-Steuersatz hat den Vorteil, die Umweltkosten fossiler Energien adäquat abzubilden, Verbraucher zu Verhaltensänderungen zu stimulieren und auf diesem Weg hohe Summen an Ökogelder für praktische Maßnahmen zu gewinnen.

Firmen haben die Möglichkeit, ihre tatsächlichen Emissionen durch CO2-Zertifikate auszugleichen, also zu kompensieren. Der Anwendungsbereich (bisher Energiesektor und Industriezweige wie Stahl, Chemie oder Zement) soll ausgeweitet werden, zum Beispiel auf die Luftfahrt, wo Zertifikate bisher kostenlos sind, sowie von 2027 an für Gebäude und Verkehr gelten. 

Immer wieder gibt es rund um Zertifikate Skandale, zuletzt in der deutschen Mineralöl­wirtschaft. Sie nutzte sogenannte UER-Zertifikate (Upstream Emission Reduction), um die Klimaschutzvorgaben zu erfüllen. Deren Kosten werden auf den Spritpreis aufgeschlagen. Recherchen des ZDF-Magazins „Frontal“ zeigen auf, dass mindestens zehn chinesische Projekte dieser UER-Zertifikate im Wert von mehr als 350 Millionen Euro nicht genehmigungsfähig waren. Die angeblich sauberen Werke in der Provinz Xinjiang gab es entweder nicht oder es handelte sich um alte Anlagen. Von der Konstruktion profitierten Konzerne wie Shell, Rosneft oder OMV. Das Umweltbundesamt hatte die Fata-Morgana-Projekte genehmigt. Die Kontrollen sollen nun verschärft werden. 

Phantom-Ökogutschriften hatte die ARD auch in Peru aufgespürt. Ein angeblicher vor Abholzung zu schützender Wald war gar nicht zu retten, sondern schon an Paranuss-Bauern vergeben. Dennoch konnte ein deutsches Mineralwasserunternehmen durch den Kauf entsprechender Zertifikate mit dem Zusatz „klimaneutral“ werben.

Auffällig auch das Unternehmen South Pole aus Zürich: Die Beratungsfirma hat mehr als 700 Klimaschutzprojekte entwickelt, aus denen sie Konzernen wie Nestlé, SAP und Holcim ihre CO2-Zertifikate verkaufte. Doch nach Recherchen internationaler Medien stellte sich heraus, dass eines der größten Kompensationsprojekte wohl auf brüchigen Prognosen basiert: Ein Großteil von Waldschutz-Zertifikaten rund um das Projekt „Kariba“ in Simbabwe soll wertlos sein. Bewohner wurden überzeugt, weniger zu roden. Doch die dadurch bewirkte CO2-Kompensation sei um ein Vielfaches erhöht dargestellt worden – weil die laxen Regeln des Zertifizierers Verra es zuließen. 90 Prozent aller so zertifizierten Waldschutzprojekte seien überschätzt und die Zertifikate damit wertlos, recherchierten ZeitGuardian und der Reporterpool Source Material. 

 Auf Zertifikate setzen vor allem Datenkonzerne wie Google oder Microsoft, die bis 2030 CO2-neutral werden wollen. So gelang es Google, sich von 2007 bis 2022 als sauberer Konzern zu positionieren. Doch weil man sich inzwischen voll auf energiefressende KI konzentriert, war Googles Betrieb 2023 erstmals nicht mehr CO2-neutral. Deshalb setzt die Konzernmutter Alphabet auf ein Start-up, das mithilfe eines Verfahrens namens Direct Air Capture die Abwärme eines Rechenzentrums nutzt, um CO2 aus der Atmosphäre zu holen und einzuspeichern.

Als weltweit größter Investor bei CO2-Zertifikaten gilt Microsoft. Laut Bloomberg wurden so mehr als acht Millionen Tonnen CO2 ausgeglichen. Der Softwarekonzern schloss jüngst mit Occidental Petroleum einen Rekordvertrag über CO2-Zertifikate im Wert von Hunderten von Millionen Dollar. Demnach verkauft der Ölkonzern in den kommenden sechs Jahren insgesamt 500 000 CO2-Zertifikate an Microsoft. Möglich macht dies ein geplantes riesiges DAC-Projekt in Texas – an einem Ort namens „Notrees“ (keine Bäume). 

Laut der Internationalen Energieagentur werde die DAC-Technologie zwar eine „wichtige und wachsende Rolle“ spielen, allerdings sei sie noch nicht in großem Maßstab einsetzbar. Bei CO2-Zertifikaten sei zudem oft nicht klar, wie viel CO2 wirklich entfernt werde. 


„Die EU sichert den grünen Umbau ab“

Das ist alles andere als sicher. 2019 war EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der ­Leyen mit dem Versprechen eines umfassenden European Green Deal angetreten, um das Klima zu retten und bis 2050 in Europa CO2-Neutralität zu erreichen. Mit dem Europäischen Klimagesetz haben sich die EU und ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Das war der Plan.

Inzwischen aber ist die anfängliche Euphorie verflogen. Die Europäische Volkspartei (EVP), zu der von der Leyen gehört, zweifelt am vorgesehenen „Verbrennerverbot“ ab 2035. Nach heftigen Bauernprotesten entfielen die wichtigsten Umweltvorschriften für milliardenschwere EU-Agrarsubventionen oder wurden stark abgemildert. Zwar sinken die CO2-Emissionen insgesamt, aber in keinem EU-Land in ausreichendem Maße. 

Illusionär, dass die für Klimaschutz notwendigen Investitionsgelder von zusätzlich 620 Milliarden Euro bis 2030 fließen. Es gibt noch kein Programm für Deiche, Dämme oder Klimaanlagen. Der EU-Klimasozialfonds ist zusammengestrichen worden. Und Strafzölle auf günstige Elek­troautos aus China erschweren die Verkehrswende. 

Nachhaltigkeit heißt bei der EU-Kommission: Richtlinien. Unternehmen müssen hierzu immer mehr Berichte verfassen, seit Mitte 2024 etwa zwecks einer neuen EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung. Sie dient sowohl dem Investorenschutz als auch zur Abwehr von „ESG-Betrug“. Mit dieser erweiterten Berichtspflicht steigt die Zahl der erfassten Firmen von rund 11 600 auf knapp 50 000. 

Das Murren über den höheren Aufwand ist groß. Die Berichterstattung zur Nachhaltigkeit wird künftig ebenso wie die Finanzberichterstattung extern geprüft, nach von der EU-Kommission festgelegten Prüfstandards und einer eigenen Taxonomie. Die Europäische Union plant zudem noch eine Green Claims Direc­tive (GCD). Sie soll Greenwashing ­bekämpfen und definiert Anforderungen an Umweltaussagen in der Unternehmenskommunikation. 

Oft verhindert eine überbordende Brüsseler Bürokratie auch, dass wichtige Vorhaben als „Important Project of Common European Interest“ (IPCEI) anerkannt werden. Die EU-Staaten dürfen nur Projekte mit einem ­IPCEI-Stempel großzügig fördern. 


„Ein grünes Europa hängt China und die USA ab“

Das ist nicht mehr als ein schöner Traum. International gilt Europa nach wie vor als Vorreiter. Aber die Stimmung auf dem Kontinent dreht sich, das bewies bei der Europawahl der Erfolg der rechtspopulistischen Klimaskeptiker. Man müsse umsteuern, verkündet der einstige Grünen-Politiker Matthias Berninger, heute Bayer-Cheflobbyist. Er fordert „mehr marktwirtschaftliche Instrumente, weniger bürokratische Auflagen“.

Die globale Konkurrenz ist heftig. Längst ist das Argument obsolet, die EU betreibe als Solist wirtschaftsschädlichen Klimaschutz. Amerika und China investieren Milliarden in grüne Technologien, unterlegt mit massiven Subventionen. Es sieht ganz danach aus, als verliere Europa bei „Green Tech“ den Anschluss. Sonnenkollektoren und Windräder werden in China produziert, energieintensive Unternehmen wandern in die USA ab. Europas Politik basiert auf CO2-Steuern und Regulierung, China und die USA setzen auf Subventionen und Protektionismus.

China emittiert zwar so viel Treibhausgase wie kein anderes Land. Doch es gibt ernsthafte Hinweise darauf, dass der Staat den Höhepunkt beim Ausstoß von Kohlendioxid erreicht hat. Und China ist auch das Land, das erneuerbare Energien so schnell ausbaut wie kein anderes. Allein 2023 ­brachte das staats­kapitalistische System 217 Gigawatt an Solaranlagen ans Netz – mehr, als in den USA insgesamt installiert sind. Weil der Anteil der Kohleverstromung in China fällt, könnten die CO2-Emissionen 2024 global um bis zu 2,5 Prozent sinken, glaubt der Datenanbieter Bloomberg NEF. Bis 2030 will Peking Solar- und Windanlagen mit 1200 Gigawatt Gesamtkapazität installiert haben.

Die Subventionierung von Solaranlagen in China führt zu einem Preissturz, unter dem der Weltmarkt leidet. Deshalb hat die US-Regierung angekündigt, die Einfuhrzölle auf chinesische Solaranlagen auf 50 Prozent zu verdoppeln.   

Auch die USA haben in Sachen Klimaschutz aufgeholt. Vorbei schien zuletzt die Zeit, als Donald Trump 2017 aus dem Pariser Klimaabkommen austrat. Sein Nachfolger Joe Biden machte das Land zum Pionier – mit dem im Sommer 2022 verabschiedeten Inflation Reduction Act (IRA), einem Gesetz als Subventionsmaschine für Klimaschutz, unterlegt mit fast 400 Milliarden Dollar Staatsgeld. Interessierte Unternehmen erhalten unbürokratische Steuergutschriften. 

Die Folge: „Clean Tech“ boomt. Die Investitionen für Elektro­mobilität, Erneuerbare, Batterie­zellenproduktion und andere Technologien stiegen 2023 in den USA um knapp 40 Prozent auf 240 Milliarden Dollar. Unterstützt werden auch die Speicherung von CO2 im Boden, die Kernfusion oder Mini-Atomkraftwerke. In Europa dagegen war – bei rund 360 Milliarden Euro an Investi­tionen – Stagnation zu beklagen.

Falls allerdings Donald Trump wieder als Präsident ins Weiße Haus einziehen würde, dürfte er die Geschäfte der „braunen“ Branchen Öl und Gas weiter ankurbeln. ESG wäre unter dem bekennenden Klimawandelskep­tiker „out“, auch wenn sich am stürmischen Ausbau erneuerbarer Energien wohl nichts ändern dürfte. Schließlich hat ein republikanischer Staat wie Texas bei der Solarproduktion sogar Kalifornien überholt.   

Und Europa? War in puncto Nachhaltigkeit technologisch und wirtschaftlich immer führend, und „jetzt lassen uns andere links liegen, gerade wenn es richtig los geht“, wetterte Lutz Weitscher von der NGO Germanwatch öffentlich. Immerhin aber seien so viele Weichen in Richtung Klimaneutralität gestellt und so viele Investitionsentscheidungen in der Wirtschaft schon getroffen worden: „Da habe ich nicht das Gefühl, der Green Deal kippt jetzt.“ Mag sein. Aber was ist er noch wert?

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 108-113

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Hans-Jürgen Jakobs

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Hans-Jürgen Jakobs ist Senior Editor und Autor beim Handelsblatt. Zuvor war er u.a. Ressortleiter Wirtschaft bei der Süddeutschen Zeitung und Redakteur beim Spiegel.

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