Gegen den Strich: Raketenstationierung
Ab 2026 sollen erstmals seit Ende des Kalten Krieges wieder landgestützte US-Mittelstreckensysteme in Deutschland stationiert werden. Das haben die amerikanische und die deutsche Regierung am Rande des diesjährigen NATO-Gipfels in Washington vereinbart. Kritiker sehen die Gefahr eines neuen Wettrüstens; Befürworter verweisen auf die andauernde Bedrohung, die von Russland ausgeht – und auf Vorteile für Europas Verteidigungsfähigkeit. Fünf Thesen auf dem Prüfstand.
„Mit der Stationierung von US-Mittelstreckenraketen macht Deutschland sich zum Ziel russischer Angriffsplanungen“
Nein, das sind wir bereits. Zwischen 2008 und 2014 probte die russische Marine mehrfach Angriffe mit taktischen Nuklearwaffen auf Deutschland und andere europäische Länder, wie die Financial Times berichtet. Auch die anderen Teilstreitkräfte Russlands verfügen über zahlreiche nukleare Gefechtsfeldwaffen. Die Konfrontation mit der NATO hat der Kreml seit 2014 – mit Teil- und dann Vollinvasion der Ukraine sowie hybriden Kampagnen quer durch Europa – weiter intensiviert. Die Bedrohung ist also noch größer, als es die alten Pläne der russischen Marine erahnen lassen.
Eine Präsenz landgestützter Mittelstreckenwaffen der NATO hat Russlands Führung als Argument für nukleare Angriffsplanungen bisher nicht gebraucht. Wenn solche nun ab 2026 zunächst zeitweilig in Deutschland stationiert werden, wie zwischen Bundes- und US-Regierung am Rande des NATO-Gipfels in Washington im Juli vereinbart, wird das an der Bedrohungslage wenig ändern.
Hinzu kommt: Ein wie auch immer geartetes deutsches Sonderrisiko besteht nicht. Die heutige Bundesrepublik ist kein Frontstaat und Berlin nicht mehr geteilt. Beides waren gewichtige Gründe für den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, die nukleare Nachrüstung, die mit dem NATO- Doppelbeschluss 1979 angestoßen wurde, nicht nur auf Westdeutschland zu beschränken.
Heute ist es Deutschlands zentrale Rolle als logistische Drehscheibe der Bündnisverteidigung, die uns für Russland zum Ziel macht. Aber eben nicht ausschließlich oder auch nur vorrangig. Am exponiertesten sind die Frontstaaten entlang der NATO-Ostgrenze, allen voran die drei baltischen Staaten. Die litauische Hauptstadt Vilnius liegt mit nur knapp 30 Kilometern in etwa gleicher Entfernung zur Grenze mit Belarus wie das ukrainische Charkiw zu Russland. Seit dem 24. Februar 2022 ist Charkiw nahezu täglich russischen Bombardements ausgesetzt.
Es ist dieser bündnispolitische Charakter der Stationierung, den die Bundesregierung in ihrer Kommunikation viel deutlicher hätte hervorheben sollen. Verweise auf die Nationale Sicherheitsstrategie oder die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2023, die vage von der Anschaffung „abstandsfähiger Präzisionswaffen“ sprechen, greifen zu kurz. Bei Mittelstreckensystemen handelt es sich um Fähigkeiten, die für die NATO spätestens mit dem Konzept für „Abschreckung und Verteidigung des euroatlantischen Raumes“ von 2020 (Deterrence and Defence of the Euro-Atlantic Area, DDA) zur Priorität wurden und deren Entwicklung und Einführung auch ein Konsortium um Deutschland, Frankreich, Italien und Polen als „European Long-Range Strike Approach“ (ELSA) vorantreibt. Großbritannien und Schweden sind der ELSA-Initiative im Oktober 2024 beigetreten. Auch deshalb ergibt es wenig Sinn, die Stationierung auf Druck aus Washington zurückzuführen.
Dazu ein aktuelles Beispiel: Im September 2024 führte die US Army Europe and Africa mit zehn europäischen NATO-Partnern eine Stabsübung durch, an der neben dem NATO-Kommando im niederländischen Brunssum, dem Multinationalen Korps Nordost in Stettin und anderen multinationalen Verbänden mit deutscher Beteiligung auch die sogenannte 2. Multi-Domain Task Force (MDTF) des US-Heeres teilnahm.
Diese multidimensionale Einsatztruppe steuert von Wiesbaden aus neben anderen militärischen Fähigkeiten wie elektronische Kampfführung oder Cyber- und weltraumgestützte Fähigkeiten auch die US-Mittelstreckensysteme. Bei der Übung wurde der neue NATO-Verteidigungsplan für Mitteleuropa geprobt. Nach 2026 dürften sogenannte Verlegeübungen der Task Force auch über Deutschland hinaus stattfinden, etwa im Rahmen der „Steadfast Defender“-Übungsreihe der NATO. Diese immer engere Zusammenarbeit geht deutlich über eine deutsch-amerikanische Kooperation hinaus und dürfte künftig sogar noch weiter vertieft werden.
„Deutschland braucht die Mittelstreckenwaffen, weil Russland Nuklearraketen in Kaliningrad stationiert“
Da ist was dran – aber die Sache ist komplizierter. Eine unmittelbare Antwort auf die russischen Nuklearwaffen sind die Multi-Domain Task Force und ihre Fähigkeiten nicht. Vielmehr geht es um Bewegungsfreiheit. Potenzielle Gegner der USA, allen voran China und Russland, investieren immer mehr in Strategien und Systeme, um den US-Streitkräften und ihren Verbündeten den Zugang zu Operationsräumen zu verwehren, etwa im Westpazifik oder in Nordosteuropa. Der Fachbegriff hierfür lautet „Anti-Access/Area Denial“, kurz A2/AD.
Das US-Heer sieht in der Multi-Domain Task Force das Kernstück seines Beitrags dazu, gegnerische A2/AD-Systeme wie zum Beispiel Flugabwehr- und Raketenstellungen sowie Führungseinrichtungen zu neutralisieren.
Das Bündnis teilt diese Analysen und Schlussfolgerungen, weshalb seine neuen Verteidigungspläne und Fähigkeitsziele solche Fähigkeiten ebenfalls vorsehen. Wenn potenzielle Angreifer davon ausgehen müssen, dass selbst eine begrenzte Landnahme aussichtslos ist, weil es ihnen nicht gelingen kann, NATO-Verbände – auch wegen gezielter Schläge in die Tiefe des eigenen Raumes – am Bewegen und Wirken zu hindern, sollten sie von einem Angriff von vornherein absehen. Jedoch sollen die Multi- Domain Task Forces weder großangelegte Präventivschläge durchführen, um gegnerische Offensivpotenziale (oder gar Nuklearwaffen) vor ihrem Einsatz zu zerstören, noch gegnerische Angriffe im Sinne einer nuklearen Abschreckung massiv vergelten.
Anders als viele der nuklearfähigen land-, see- und luftgestützten Raketen und Marschflugkörper Russlands sind die US-Mittelstreckenwaffen nicht mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet. Ihre Stationierung – und die Entwicklung vergleichbarer europäischer Systeme – leistet folglich ausschließlich einen Beitrag zur konventionellen Abschreckung.
Auch eine nachträgliche Bewaffnung der Systeme mit Nuklearsprengköpfen ist nicht wahrscheinlich. Eine solche wäre technisch höchst aufwendig und brächte erhebliche finanzielle und operative Verdrängungseffekte mit sich, die die konventionelle Durchsetzungsfähigkeit der amerikanischen Landstreitkräfte schmälern würden.
Doch welchen Mehrwert bieten landgestützte Systeme, wenn verschiedene NATO-Bündnispartner bereits über reichweitenstarke Flugkörper für ihre Schiffe und Flugzeuge verfügen? Nun, die meisten Über- und Unterwasserschiffe sowie Kampfflugzeuge der NATO-Streitkräfte sind Mehrzweckplattformen. Vor allem in den ersten Tagen und Wochen eines Konflikts mit Russland müssten sie zunächst Seewege und Aufmarschgebiete vor feindlichen U-Booten und Luftangriffen schützen und dabei helfen, die Lufthoheit zu erlangen. Über einen längeren Zeitraum würden die Kapazitäten durch Abnutzung und Verluste zusätzlich geschmälert werden.
Unklar ist, welche Priorität dann Schlägen in die Tiefe des russischen Raumes zur Unterstützung von NATO-Landoperationen eingeräumt werden könnte.
Aus europäischer Sicht ist zudem ein Blick auf die Verteilung abstandsfähiger Präzisionswaffen im Bündnis dringend geboten. Den Großteil der see- und luftgestützten Mittelstreckensysteme stellen heute die USA. Diese würden in einem Konflikt im Westpazifik wegen der großen maritimen Distanzen dort gebraucht. Für Europa stünden sie dann kaum zur Verfügung.
Kosten sind ein weiterer Faktor. Die zukünftigen Fregatten der Klasse 127 werden der Marine zahlreiche Hochwertfähigkeiten bieten, auch für die Bekämpfung von Landzielen. Bei einem erwarteten Kaufpreis von mehreren Milliarden Euro pro Schiff ist eine ähnlich schlagkräftige Anzahl landgestützter Systeme aber voraussichtlich um ein Vielfaches günstiger.
Landgestützte Mittelstreckensysteme eröffnen dem Bündnis in Anbetracht all dessen keine grundsätzlich neuen Möglichkeiten, aber sie erhöhen sinnvoll die Flexibilität und Tiefe des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO, insbesondere als europäischer Beitrag.
„Wir müssen zurück zur Rüstungskontrolle mit Russland“
Schön wär’s, doch beim Kreml läuft diese Forderung ins Leere. Ein wiederholt geäußertes Angebot der Biden-Regierung, „ohne Vorbedingungen“ über nukleare Rüstungskontrolle und Risikoreduzierung zu sprechen, wird vom Kreml mit Verweis auf die westliche Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfs regelmäßig zurückgewiesen.
Seit der Kreml im Dezember 2021 seine Ultimaten an die NATO und die US-Regierung übermittelt hat, dürfte endgültig klar sein: Russland ist auf eine ganzheitliche Revision der europäischen Sicherheitsordnung aus, zu Lasten vor allem seiner unmittelbaren Nachbarn.
Um die neuerliche Aggression zu verhindern, zeigten sich NATO und US-Regierung dennoch bereit, Russland Einblick in bestimmte NATO-Raketenabwehrsysteme zu gewähren. Darauf hatte es zuvor immer wieder gepocht, um von seiner eigenen Verletzung des INF-Vertrags über das Verbot landgestützter Mittelstreckensysteme (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty) abzulenken. Dieser hatte es den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion (dann Russland) seit 1988 verboten, landgestützte Flugkörper mit Reichweiten zwischen 500 und 5500 Kilometern zu besitzen.
Mitte der 2000er Jahre begann die russische Führung Zweifel am Vertragswerk zu äußern. 2014 stellte die amerikanische Regierung unter Präsident Barack Obama erstmals öffentlich Russlands Vertragstreue infrage. Trotz zahlreicher Aufforderungen – auch seitens Deutschlands – weigerte sich Russland, die Vorwürfe auszuräumen und erhob seinerseits Gegenvorwürfe.
Im Dezember 2018 stellten die NATO-Außenminister einstimmig fest, dass Russland mit der Entwicklung und Einführung des landgestützten nuklearfähigen Marschflugkörpers 9M729/ SSC-8 den Vertrag gebrochen hatte. Allein zwischen Januar und Juli 2019 forderten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas ihre russischen Amtskollegen bei mindestens fünf Gelegenheiten auf, zum INF-Vertrag zurückzukehren, wenn auch letztlich vergeblich. Im August 2019 verließen die USA mit Unterstützung ihrer NATO-Partner schließlich den INF-Vertrag. Zugleich kündigte das Bündnis an, nichtnukleare Gegenmaßnahmen, wie die Stärkung der Flug- und Raketenabwehr und konventioneller Fähigkeiten, zu ergreifen.
Hinter dem Test eines US-Mittelstreckensystems wenige Tage nach Vertragsaustritt vermuten einige sinistere Motive. Vertragskonforme Forschung und Entwicklung eigener, nichtnuklearer Mittelstreckensysteme waren jedoch seit 2017 neben fortlaufenden Gesprächen Teil der erklärten diplomatischen Strategie Washingtons, um Russland durch das Aufzeigen von Konsequenzen seines Vertragsbruchs zum Einlenken zu bewegen – auch wenn die jahrelangen Ablenkungsversuche und Gegenvorwürfe des Kremls wenig Anlass zur Hoffnung gaben. Heute verfügt Russland wohl über mehr als einen Typ landgestützter Mittelstreckensysteme, welche unter dem INF-Vertrag verboten gewesen wären.
Auf die Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenwaffen in Deutschland will Russland seinerseits mit der Verlegung neuer Waffensysteme reagieren. Ähnliches ließ der Kreml jedoch bereits nach Finnlands und Schwedens Beitritten zur NATO verlauten. Die Vorwärtsstationierung russischer Nuklearwaffen in Belarus und der Startschuss für Militärstrukturreformen und Aufrüstung nach sowjetischem Vorbild erfolgten ebenfalls lange vor Bekanntwerden des deutsch-amerikanischen Stationierungsvorhabens.
Solange der Kreml aber meint, die Stationierung verhindern und sich so einen militärischen Vorteil erhalten zu können, hat er das Interesse, jeden seiner Schritte zu bloßer Reaktion zu erklären, gerade mit Blick auf das Hauptziel deutscher Informationsraum. Die frühen 1980er Jahre lassen grüßen.
Ohne Russlands Bruch des INF-Vertrags und seine Invasion des gesamten ukrainischen Staatsgebiets hätte wohl keine Bundesregierung eine Stationierung landgestützter US-Mittelstreckensysteme angestrebt, noch würde sie die Entwicklung und Einführung vergleichbarer Systeme im europäischen Verbund vorantreiben. Wäre die deutsch-amerikanische Stationierungserklärung, die immerhin Fähigkeiten betrifft, die in der NATO seit einiger Zeit ausgiebig diskutiert werden, von einem mit den Verbündeten unabgestimmten deutsch-amerikanischen Rüstungskontrollvorschlag begleitet worden, hätte dies wohl zu erheblichen Verwerfungen geführt.
Grundsätzlich bekennen sich Bundesregierung, US-Administration und NATO richtigerweise zur Rüstungskontrolle. Aber die Stärkung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs der NATO von einer Bereitschaft Russlands zu Rüstungskontrollgesprächen abhängig zu machen, wäre töricht.
„Wir brauchen eine breite Debatte zur geplanten Stationierung“
Nicht, wenn es wie bei der Bewaffnung von Drohnen läuft. Zur Erinnerung: 2012 sprach sich der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière für die Anschaffung bewaffneter Drohnen aus. Bundeswehr, Bundesregierung und Bundestag hatten sich bis dahin bereits mit der Materie beschäftigt.
Es folgten weitere Anfragen und Diskussionen im Plenum des Parlaments. Die schwarz-roten Koalitionsverträge von 2013 und 2017 sahen wegen Vorbehalten der SPD-Linken zunächst weitere Prüfungen vor. Wiederholt fanden öffentliche Podiumsdiskussionen und Expertenanhörungen statt. Dennoch war für die SPD-Führung auch Ende 2020 die Debatte weder in der Partei noch in der Gesellschaft „bislang in der notwendigen Breite geführt“ worden.
Erst der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP ebnete 2021 der Bewaffnung von Drohnen unter Auflagen den Weg. Unter dem Eindruck der von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündeten „Zeitenwende“ folgte 2022 die Zustimmung des Bundestags. Doch bewaffnet sind die Drohnen der Bundeswehr noch immer nicht: Geforderte Einsatzrichtlinien stecken in der Ressortabstimmung fest.
Wenn nun einige derjenigen, die in den vergangenen Jahren immer noch eine breite Debatte zur Bewaffnung von Drohnen führen wollten, eine eben solche zum deutsch-amerikanischen Stationierungsvorhaben einfordern, ist die informierte Entscheidungsfindung womöglich – vorsichtig gesprochen – nicht der Kern ihres Interesses.
Von Deutschland als „atomarem Schlachtfeld“ eines „dritten Weltkriegs“ zu fabulieren, wie es Sahra Wagenknecht und ihre Kader ohne Unterlass tun, und im gleichen Atemzug eine Volksbefragung zur Stationierung zu fordern, grenzt an Demagogie. Nichtnuklearen amerikanischen Mittelstreckensystemen werden „Enthauptungsschläge“ unterstellt, während Russlands nuklearfähige Flugkörper, ihr regelmäßiger Einsatz gegen die Ukraine und das Erpressungspotenzial, das sich der Kreml von ihnen gegenüber Europa verspricht, offenbar kaum ein Problem sind.
Dabei ist eine informierte öffentliche Debatte für Meinungsbildung und Entscheidungsfindung essenziell. Beispielsweise ist der Hinweis berechtigt, dass ein Einsatzkonzept, welches das Neutralisieren gegnerischer A2/AD-Systeme über große Distanzen, gegebenenfalls im gegnerischen Hinterland vorsieht, mit Risiken verbunden ist. Verantwortliche Politik – und verantwortliche Politikberatung – wägt diese Risiken gegen andere ab, wie solche, die sich aus einem einseitigen Verzicht auf abstandsfähige Präzisionswaffen ergäben.
Findet dies für die Öffentlichkeit nachvollziehbar statt, signalisiert es Wählerinnen und Wählern die Ernsthaftigkeit der Sache. Risikofreie Entscheidungen, wie man vor 2022 manchmal den Eindruck gewinnen konnte, dass sie verhandelt würden, gibt es nicht, wenn die Möglichkeit eines russischen Angriffs auf die Souveränität und territoriale Unversehrtheit Deutschlands oder seiner Verbündeten nicht ausgeschlossen werden kann.
Dies sollte eine Erkenntnis der Zeitenwende sein. Eine weitere: Zeit zählt. Auch Nicht-Entscheiden hat Konsequenzen, wie die häufig kaugummiartigen Prozesse bei der Ukraine-Unterstützung zeigen.
„Die US-Raketen zwingen Deutschland in eine dauerhafte Konfrontation mit Russland, auch nach einem Ende des Ukraine-Krieges“
Das verdreht Ursache und Wirkung, und nebenbei verschleiert es den Urheber des Krieges. Es verwundert nicht, dass jene Akteure der politischen Ränder, die die Westbindung Deutschlands grundsätzlich infrage stellen, auch hinter dem Stationierungsvorhaben eine Verschwörung sehen.
Sevim Dağdelen, Außenpolitikerin des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), erklärte Bundeskanzler Scholz kürzlich gar zu einem „Vasall“ der Vereinigten Staaten. Das ist erwartbar. In Anbetracht der starken Wahlergebnisse von BSW und AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg nährt es bei Deutschlands Nachbarn dennoch Befürchtungen über eine Neuauflage der unheilbringenden Achse Berlin-Moskau.
Deutschlands militärisches Engagement im Baltikum und anderswo wird von seinen Partnern in der NATO geschätzt. Mehr noch: Deutschland wird als entscheidender Akteur bei der Stärkung der europäischen Verteidigungsfähigkeit und der Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskampfs gesehen. Gerade weil alle 32 Mitglieder der NATO die Einsicht teilen, dass die Bedrohung, die von Russland ausgeht, langfristig bestehen bleiben wird, kommt es auf Berlin an. Deutsche Bräsigkeit irritiert.
Dabei werden die Herausforderungen in den kommenden Jahren eher noch größer. Diskussionen in der NATO reflektieren bislang wenig die Möglichkeit gleichzeitiger Konflikte in Europa und Asien. Dafür bedarf es nicht einmal der koordinierten Aggression Russlands und Chinas.
Sollten die Vereinigten Staaten im Westpazifik in einem Konflikt mit China stehen, wären die Europäer in der NATO gefordert, den Opportunisten Putin alleine abzuschrecken. Die Vollinvasion der Ukraine basierte mutmaßlich auf der Annahme, dass Kiew binnen weniger Tage fallen würde.
Zu einer solchen Fehleinschätzung darf NATO- Europa dem Kreml im Moment amerikanischer Ablenkung keinen Anlass bieten. Amerikas Beiträge zu den NATO-Verteidigungsplänen durch europäische zu ersetzen, ist in den meisten Fällen nicht unmöglich, aber es würde das notwendige Ambitionsniveau der Fähigkeitsziele nochmal anheben. Rückblickend könnte sich auch deshalb die europäische ELSA-Initiative als bedeutender herausstellen als die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckensysteme.
Ebenso wenig berücksichtigt werden bislang die militärischen Anforderungen, die sich aus der Absicherung eines Friedens in der Ukraine ergeben könnten, wie Claudia Major und Jana Puglierin kürzlich in dieser Zeitschrift dargelegt haben („Die Verantwortung des Westens für die Zukunft der Ukraine“, IP 5/2024). Während des Kalten Krieges waren in Westdeutschland Hunderttausende NATO-Truppen und mehrere tausend amerikanische Nuklearwaffen stationiert. Eine ukrainische NATO-Mitgliedschaft oder der Mitgliedschaft ähnliche robuste Sicherheitsgarantien sind damit nicht deckungsgleich. Um einen dritten Überfall Russlands auf die Ukraine zu verhindern, werden umfangreiche Vorwärtsstationierungen westlicher Garantiemächte dennoch erforderlich sein.
Auch eine Diskussion über das nukleare Abschreckungsdispositiv der NATO könnte in den kommenden Jahren anstehen. Das gegenwärtig praktizierte Modell der nuklearen Teilhabe, bei der sich europäische NATO-Partner – auch Deutschland – bereiterklären, amerikanische Nuklearwaffen zu lagern und im Fall der Fälle mit ihren Kampfflugzeugen einzusetzen, besteht seit nunmehr 30 Jahren unverändert.
Weil es aber ein Jahrzehnt dauern kann, bis gänzlich neue Fähigkeiten entwickelt, erprobt und eingeführt sind (etwa ein luftgestützter Marschflugkörper), müssen sich die Alliierten zeitnah überlegen, über welche Fähigkeiten die NATO in der zweiten Hälfte der 2030er Jahre und darüber hinaus verfügen soll. Denn dass die russischen Streitkräfte aus ihren Fehlern in der Ukraine lernen, steht außer Zweifel. Ein mea culpa ist dabei aber eher nicht zu erwarten. Vielmehr steht neben Militärstrukturreform und Aufrüstung eine Revision der russischen Nuklearstrategie ins Haus.
Nochmal: Die Bedrohung durch Russland wird, auch wenn wir uns anderes wünschen mögen, langfristig bestehen bleiben. Entsprechend gilt es zu handeln.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2024, S. 112-117
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