Essay

02. März 2018

Für unsere Überzeugungen kämpfen

Wie wir die liberale Demokratie gegen den Populismus verteidigen können

Nie hätten sich die alten Griechen, Römer oder Venezianer vorstellen können, dass ihr politisches System untergeht. Selbst wenn wir es genauso wenig glauben können: Die liberale Demokratie wird durch ­Populismus in ihrer Existenz bedroht. Wer sich unseren Werten und unseren Institutionen verbunden fühlt, muss sich wehren.

Wer in einem politischen System aufgewachsen ist, das über Jahrzehnte oder Jahrhunderte Bestand hatte, der hält es wahrscheinlich für unveränderlich. Die Geschichte, so scheint es ihm, hat ihren Endpunkt erreicht. Alles wird so bleiben, wie es ist.

Aber obwohl es in den Annalen der Menschheit viele Systeme gab, die erstaunlich lange überlebten, haben sie alle eines gemeinsam: Irgendwann sind sie dann doch untergegangen. Die attische Demokratie dauerte rund zwei Jahrhunderte; die Römische Republik hatte fast 500 Jahre Bestand; die „Serenissima Repubblica di San Marco“ waltete gar ein ganzes Jahrtausend über die Lagune von Venedig. Jeder, der diesen Regierungsformen gegen Ende ihrer Existenz den Untergang voraussagte, konnte aus scheinbar gutem Grund ausgelacht werden: Warum, konnten die Zeitgenossen solch einen Unheilspropheten fragen, sollte ein politisches System, das seit Jahrhunderten gut funktioniert, innerhalb der nächsten paar Jahrzehnte zusammenbrechen? Und doch kam der Moment, in dem die attische Demokratie, die Römische Republik und die doch nicht ganz so ruhige Repubblica di San Marco von der Bühne der Geschichte abtraten.

Wir täten gut daran, uns diese Lektion zu Herzen zu nehmen. Die sieben Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs haben den Völkern Nordamerikas und Westeuropas eine beispiellose Zeit des Friedens und des Wohlstands beschert. Im Unterschied zu unseren Vorfahren haben viele von uns niemals Krieg oder Revolution, Hungersnot oder Bürgerkrieg erleben müssen. Die Vorstellung, die Demokratie könnte plötzlich verschwinden – und der Anbruch eines neuen Zeitalters könnte anstelle von Toleranz und Wohlstand Tod und Hunger mit sich bringen –, widerspricht jeder Stunde unserer gelebten Erfahrung. Doch die Geschichte ist voll von Menschen, die fälschlicherweise davon überzeugt waren, dass der Frieden und die Stabilität, an die sie sich im ­Laufe ihres kurzen Lebens gewöhnt hatten, nie ein Ende nehmen würden. Sie ist voll von heidnischen Priestern und französischen Aristokraten, von russischen Bauern und deutschen Juden. Wenn wir nicht enden wollen wie sie, müssen wir viel wachsamer werden – und endlich für unsere wichtigsten Werte kämpfen.

Demokratie ohne Recht

Seit fast einem Jahrhundert ist die liberale Demokratie in weiten Teilen der Welt das vorherrschende politische System. Dieses Zeitalter der demokratischen Dominanz könnte bald zu Ende gehen. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte kam es in nordamerikanischen und westeuropäischen Ländern zu einem Zerfall der Demokratie. Unser politisches System verspricht die Volksherrschaft. Aber in der Praxis ignoriert es den Willen des Volkes allzu häufig. Von den meisten Politikwissenschaftlern unbemerkt, hat in vielen Ländern ein System des Rechts ohne Demokratie Einzug gehalten. In jüngerer Zeit erzielten politische Neulinge große Erfolge, indem sie versprachen, dem Volk die Macht zurückzugeben. Aber dort, wo sie die Regierung übernahmen, haben sie vielen Bürgern ihre Grundrechte verweigert – und schnell damit begonnen, die wirklichen Interessen des Volkes zu ignorieren. In Ungarn und auf den Philippinen, in Polen und in den USA sind die Rechte des Einzelnen heute einem konzertierten Angriff durch populistische Machthaber ausgesetzt. Die mächtigste Alternative zum System des Rechts ohne Demokratie hat sich als System der Demokratie ohne Recht herausgestellt.

Wird die gegenwärtige Krise einen dramatischen Umschwung vom undemokratischen Liberalismus zur illiberalen Demokratie erleben – und schlussendlich in eine reine Diktatur münden? Oder wird es den Verteidigern der liberalen Demokratie gelingen, ein politisches System, das trotz seiner unbestrittenen Mängel Milliarden von Menschen Frieden und Wohlstand ermöglicht, zu erneuern – und so dem populistischen Ansturm zu trotzen?
Der riesige Erfolg der AfD hat Deutschland regelrecht in Schock versetzt. Jahrelang gratulierten wir uns gegenseitig dazu, dass wir die Lektionen der Vergangenheit gelernt hätten und Rechtsradikalen hierzulande nie wieder echte Macht zubilligen würden. Doch dann machten deutsche Wähler eine Partei, deren führende Exponenten in den Monaten vor der Wahl eine 180-Grad-­Wende im Verständnis des Zweiten Weltkriegs forderten, eine türkischstämmige Politikerin in Anatolien entsorgen wollten, ja, die Bundesrepublik gar als illegitime Marionette des Westens verunglimpften, zur drittstärksten politischen Kraft im Land.

Die Versuchung, den Erfolg der AfD als kurzlebigen Unfall der bundesrepublikanischen Geschichte – also als ein Resultat der Flüchtlingskrise und der Frustration über die Euro-Krise, der „Antipolitik“ Angela Merkels und der Kraftlosigkeit der SPD – abzutun, ist nun besonders groß. Als ich im Herbst 2016 mit führenden Politikern über die AfD sprach, sagten die meisten von ihnen voraus, dass sie an der 5-Prozent-Hürde scheitern oder – „höchstens!“ – ganz knapp in den Bundestag einziehen würde. Als ich dieselben Politiker im Herbst 2017 erneut zur Zukunft der AfD befragte, waren sie unbeirrt optimistisch: Bis zu den nächsten Wahlen, zeigten sie sich überzeugt, wird die Partei sich schon zerlegen.

Ganz abwegig ist diese Hoffnung nicht. Wie der Austritt Frauke Petrys unter Beweis stellt, könnte sich die Partei tatsächlich spalten. Und obwohl es in der Nachkriegsgeschichte noch keine rechtspopulistische Partei annähernd so weit geschafft hat wie die AfD, haben auf Landesebene auch Die Republikaner und die NPD ihre Blütezeit erlebt – bevor sie aufgrund interner Querelen und allgemeiner Stümperhaftigkeit wieder aus den Parlamenten flogen. Wenn Populisten sich in der außerparlamentarischen Opposition geschickt profilieren, bedeutet das also noch lange nicht, dass sie sich auch als andauernder Bestandteil der repräsentativen Demokratie zu bewähren wissen.

Ja, selbst wenn die Populisten es schaffen, die Regierung zu bilden, steuert die liberale Demokratie nicht unbedingt auf ihr Verhängnis zu. Denn glücklicherweise gab es in den vergangenen Jahren einige Fälle, in denen ein Populist mit Hang zum Autoritären nach einer kurzen und katastrophalen Amtszeit wieder die Macht verlor: In Polen büßte die erste PiS-Regierung 2007 nach nur einem Jahr im Amt aufgrund eines Koalitionsstreits ihre Mehrheit ein; in den darauffolgenden Wahlen erlitt Kaczynski eine deutliche Niederlage. In Südkorea gingen im Herbst 2016 Millionen Bürger auf die Straße, um gegen eine korrupte Präsidentin mit autoritären Allüren zu protestieren; Park Geun-hye wurde schließlich des Amtes enthoben und sitzt derzeit in Untersuchungshaft.

Pessimistische Bilanz

Wenn die Populisten die Macht einmal errungen haben, muss das letzte Stündlein der liberalen Demokratie also noch nicht geschlagen haben. Wenn ihre Verteidiger sich gegen die Regierung zusammenschließen, sich mit Massenprotesten gegen eine Ausweitung der Macht der Populisten zur Wehr setzen und sie bei erster Gelegenheit aus dem Amt jagen, haben sie eine gute Chance, das System zu retten. Aber leider stehen jedem Beispiel für den Absturz einer schon im Parlament etablierten oder gar auf den Fluren der Macht waltenden populistischen Partei zwei oder drei populistische Triumphe gegenüber. Auch in Österreich und der Schweiz, in Belgien und den Niederlanden, in Dänemark und Schweden, in Italien und Spanien sowie in Tschechien und der Slowakei erwarteten viele Beobachter, dass politische Novizen, die die dortigen Parteiensysteme in Bewegung brachten, bald wieder in der Versenkung verschwinden würden. Heute sind Populisten in all diesen Ländern stärker, als sie es damals waren. Trotz aller Gegenbeispiele: Wenn sich eine populistische Partei in den vergangenen zwei Jahrzehnten erst einmal etabliert hat, ist entweder sie oder eine geistesverwandte Gruppierung in fast jedem Fall zum dauerhaften Bestandteil des politischen Systems geworden.

Ähnlich pessimistisch sollte uns die Bilanz populistischer Regierungen stimmen: In vielen Ländern der Welt haben autoritäre Herrscher, deren Scheitern allgemein erwartet worden war, ihre Macht gefestigt – und es der Opposition unmöglich gemacht, sie in freien und fairen Wahlen abzusetzen. In der Türkei und in Venezuela erkämpften sie beispielsweise in ihrer ersten Amtszeit echte wirtschaftliche Verbesserungen und wurden mit deutlichem Vorsprung wiedergewählt. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die negativen Konsequenzen ihrer kurzsichtigen Politik an den Tag traten und die Opposition mit immer härteren Repressalien unterdrückt wurde. Schließlich wandte das Volk sich gegen die Populisten. Aber diese hatten ihre Macht bereits gefestigt. Als die Wähler also endlich die Nase voll hatten, konnten sie die Regierung nicht mehr in freien und fairen Wahlen aus dem Amt jagen – und ihr Land rutschte allmählich in die Diktatur ab.

Für Länder, die erst kürzlich Populisten ins Amt gewählt haben, verheißen diese Präzedenzfälle nichts Gutes. In Indien, Polen und auf den Philippinen übernahmen autoritäre Populisten die Macht. Und die ersten drei Maßnahmen, die Narendra Modi in Indien sowie Jaroslaw Kaczynski in Polen unternommen haben, ähneln auffällig den ersten drei Maßnahmen, die Recep ­Tayyip Erdogan in der Türkei umgesetzt hat. Werden Schritt fünf und acht und zehn auch dieselben sein? Das wird sich erst in einigen Jahren herausstellen. Noch könnte diesen Ländern ein Kurswechsel gelingen. Aber der Weg des geringsten Widerstands scheint heute in einen ähnlichen Abgrund zu führen.

In großen Teilen Nordamerikas und Westeuropas besteht die Demokratie deutlich länger als in Polen oder Indien, in Ungarn oder der Türkei. Die politische Kultur ist tiefer verankert, ihre Institutionen sind stärker verwurzelt, die Bürger wohlhabender und gebildeter. Wie also können wir wissen, ob der Aufstieg autoritärer Populisten sich hierzulande als ebenso katastrophal erweisen wird, wie er es dort getan hat?

Es gibt keinen klaren Präzedenzfall, der diese Frage definitiv beantworten könnte. Noch nie waren die Bürger vermeintlich gefestigter Demokratien gegenüber ihrem politischen System so kritisch eingestellt wie heute. Noch nie waren sie für autoritäre Alternativen so offen. Und noch nie haben sie in so großer Zahl für Populisten gestimmt, die offen die Grundregeln und Normen der liberalen Demokratie verachten. Aber obwohl es für eine sichere Prognose noch viel zu früh ist, haben die letzten Monate uns doch einen entscheidenden Testfall beschert: die Wahl von Donald Trump.

Da die amerikanischen Gründerväter panische Angst vor dem Tag hatten, an dem ein Demagoge die Präsidentschaft an sich reißen würde, haben sie die Legislative und die Judikative mit den Abwehrmitteln ausgestattet, die diese brauchen, um sich gegen eine machthungrige Exekutive zu behaupten: Dank ihrer Weitsicht kann der Supreme Court Dekrete des Präsidenten kassieren, wenn diese gegen die Verfassung verstoßen. Und falls der Präsident das Gesetz bricht oder die Anweisungen der Gerichte ignoriert, kann der Kongress ihn sogar seines Amtes entheben. Aber auch diese Institutionen bestehen letztlich aus Menschen aus Fleisch und Blut. Wenn diese zu feige sind, um ihre Abwehrmittel einzusetzen – oder sich gar zu Komplizen des Präsidenten machen –, wird sich letztlich auch eine noch so gut durchdachte Verfassung als kraftlos erweisen. Die Frage ist also nicht, ob die Gerichte und der Kongress sich dem Präsidenten in der Theorie entgegenstellen können, sondern ob sie es in der Praxis auch tun werden.

In den ersten Monaten seiner Amtszeit hat Trump viele vermeintlich rote Linien überschritten. Und jetzt, da wir sie im Rückspiegel betrachten, erscheinen sie uns plötzlich gelb – oder gar grün. Die meisten republikanischen Kongressmitglieder haben zu Trumps wiederholten Angriffen auf die amerikanische Demokratie noch kein Wort verloren. Nach wie vor erfreut der Präsident sich bei einem beachtlichen Teil der Wählerschaft glühender Unterstützung. Und wie er selbst so gerne sagt, weiß niemand so wirklich, was er tun müsste, damit sich das ändern würde. In den kommenden Monaten und Jahren könnte sich die Lage durchaus verschlimmern. Es ist möglich, dass Trump sich bald über Gerichtsurteile hinwegsetzen oder noch mehr Ermittler feuern wird, die sich mit Vorwürfen gegen ihn beschäftigen. Und es ist nicht einmal ganz auszuschließen, dass er eines Tages eine Zeitung verbieten lässt oder sich weigert, das Ergebnis einer Wahl anzuerkennen. Falls der Kongress und die Gerichte mutig und entschlossen handeln, haben sie gute Chancen, seine autoritären Bestrebungen zu unterbinden. Aber die Verfassung kann sich nicht selbst verteidigen. Solange Trumps Verbündete unter den Republikanern nicht bewiesen haben, dass sie willens sind, ihr Land über ihre Partei zu stellen, schwebt die amerikanische Republik in akuter Gefahr.

So weit das pessimistische Szenario. Zweifellos sind liberale Demokratien für populistische Machtübernahmen anfälliger, als wir lange dachten. Aber es gibt auch gute Gründe, darauf zu hoffen, dass Amerika, wenn Trump eines Tages nicht mehr im Weißen Haus sitzt, seine Demokratie erneuern kann. Seit seiner Amtseinführung haben Millionen Amerikaner gegen Trumps Politik protestiert. Seine lautstarken Gegner haben immer wieder klargemacht, dass der Präsident keineswegs im Namen aller Amerikaner spricht. Sollten sie in den kommenden Jahren ihren Eifer und ihre Energie bewahren, werden sie ein starkes Bollwerk gegen seine autoritären Tendenzen bilden. Amerikas unabhängige Institutionen haben Trump nicht annähernd so schnell oder so entschlossen Widerstand geleistet, wie Politikwissenschaftler es bis vor einigen Jahren vorausgesagt hätten.

Und doch beginnen auch sie allmählich, das Richtige zu tun. Robert ­Muellers Ernennung zum Sonderermittler trug zur Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz bei. Selbst die republikanischen Abgeordneten im Kongress signalisieren langsam mehr Bereitschaft, sich dem Präsidenten entgegenzustellen. Auch die öffentliche Meinung dreht sich peu à peu. Zwar sind Trumps Umfragewerte nicht annähernd so katastrophal, wie seine Gegner gern glauben möchten. Aber während der ersten zwölf Monate seiner Amtszeit sank seine Beliebtheit tatsächlich spürbar – keiner seiner Vorgänger war zu einem vergleichbaren Zeitpunkt so unbeliebt, wie er es heute ist.

Sollte Trumps Flamme bald erlöschen, könnte seine kurze Präsidentschaft dazu beitragen, die Vereinigten Staaten gegen das Virus der illiberalen Demokratie zu impfen. Nach Jahren, in denen die Bürger sich ein immer düstereres Bild von ihrem politischen System machten, hat Trumps Aufstieg bereits ein neues Engagement für die Verfassung entfacht. Sollte Trump das Amt mit Schimpf und Schande aufgeben müssen, könnte sein Abgang einen neuen Geist der Einheit beleben. Und ist die akute Infektion erst einmal bezwungen, sind Amerikas Abwehrkräfte vielleicht zur Genüge gestärkt, um in den kommenden Jahrzehnten gegen neue Ausbrüche der populistischen Krankheit gefeit zu sein.

Die Gefahr ist noch längst nicht gebannt

Sowohl das eindeutig pessimistische als auch das eindeutig optimistische Szenario scheint letztlich unplausibel. Trump wird sich zwar nur schwer von dem Chaos erholen, das er in seinem ersten Amtsjahr angerichtet hat. Wenn seine Beliebtheitswerte weiterhin sinken oder seine Gesetzesvorschläge im Kongress blockiert bleiben, wenn es zu umfangreichen Ermittlungen gegen ihn kommt oder republikanische Mandatsträger nach und nach auf Distanz zu ihm gehen sollten, wird ihm die nötige Unterstützung fehlen, um immer mehr Macht in seinen eigenen Händen zu bündeln. Doch gleichzeitig sollten die Optimisten nicht vergessen, dass Trump den amerikanischen Institutionen enormen Schaden zufügen kann – und zwar selbst wenn er relativ isoliert und halbwegs unpopulär bleibt. Irgendwann wird er wahrscheinlich eine echte Verfassungskrise herbeiführen. Auch wenn er diese Kraftprobe letztlich verlieren sollte, würden demokratische Normen, die seit Jahrhunderten als sakrosankt galten, durch eine solche Krise enorm geschwächt werden. Die akute Gefahr, die Trump für die Demokratie darstellt, ist deshalb noch längst nicht gebannt.

Die Hoffnung, dass ein Scheitern seiner Präsidentschaft zu einem neuen Gefühl der Einigkeit führen könnte, ist leider ähnlich naiv. Denn wenn Trump unehrenhaft aus dem Amt gejagt werden sollte, würde eine beträchtliche Minderheit der Amerikaner ihn zum Märtyrer stilisieren – und noch größeren Zorn auf das politische Establishment richten. Ja, sogar jene ehemaligen Trump-Fans, die ihm selbst die Hauptschuld für sein Scheitern zuschreiben, könnten letztendlich zu dem Schluss kommen, dass sie ihre Hoffnungen auf einen noch radikaleren Tribun setzen müssen, um den Washingtoner Sumpf endlich trockenzulegen.

Wie andere Populisten in aller Welt ist Trump deshalb zumindest ebenso ein Symptom der gegenwärtigen Krise wie ihre Ursache. Wären nicht so viele Bürger tief von der Demokratie enttäuscht, hätte er das Weiße Haus gar nicht erst erobern können – und wenn er dieses endlich wieder verlässt, werden die Bürger ihre Sorgen nicht von einem auf den anderen Tag beiseiteschieben. Es ist durchaus möglich, dass Trump die kommende Wahl verliert und von einem überraschend konventionellen Nachfolger beerbt wird. Für ein paar Jahre, vielleicht sogar für ein paar Jahrzehnte könnte wieder ein moderater Politiker die Regierungsgeschäfte führen. Aber solange beide Parteien sich nicht zusammenraufen, um die Entwicklungen umzukehren, die hinter der tiefen Enttäuschung der Bürger stecken, werden die Populisten über kurz oder lang wieder erstarken. Und wenn in 15 oder 30 Jahren der nächste Möchtegern-­Autokrat ins Weiße Haus einzieht, könnte Amerika für dessen Drang zur Macht noch anfälliger sein als heute. Das Virus des Autoritarismus könnte die amerikanische Republik dann zerfressen, ohne auf großen Widerstand zu stoßen.

Historische Parallele

Die Schlacht gegen Donald Trump ist nicht viel mehr als die erste Salve in einem viel längeren Kampf gegen den Populismus – einem Kampf, den wir weit über das Ende seiner Amtszeit und weit über die Vereinigten Staaten hinaus werden führen müssen. Wenn ich über die Zukunft von Deutschland und Frankreich, von Schweden und den USA nachdenke, scheint mir die geeignetste historische Parallele deshalb weder in Ungarn noch in der Türkei zu liegen, sondern in der Römischen Republik. Bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. hatten wirtschaftliche Umbrüche und soziale Konflikte zu einer explosiven Mischung aus Wut und Enttäuschung geführt. Als Tiberius Gracchus den Armen eine lang ersehnte Landreform versprach, wählten die Plebejer ihn 133 v. Chr. zum Volkstribun. Entsetzt bemühten sich die Patrizier, seine radikalen Reformen zu unterbinden. Als Tiberius sich über ihr Veto hinwegsetzte und eine Lösung für die daraus resultierende Verfassungskrise in immer weitere Ferne zu rücken schien, artete der Konflikt in Gewalt aus. In einer chaotischen Auseinandersetzung wurden Tiberius und 300 seiner Anhänger erschlagen.

Nach Tiberius’ Tod kehrte in Rom für einige Jahre Ruhe ein. Dann wurde sein Bruder Gaius Gracchus zum Volkstribun gewählt. Als er sich daranmachte, noch radikalere Landreformen durchzusetzen – und damit eine noch schwerere Verfassungskrise verursachte –, wurde auch er von seinen politischen Gegnern getötet. Dieses Mal wurden 3000 seiner Anhänger ermordet. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wiederholte sich dieses Muster ein ums andere Mal. Die turbulente Herrschaft eines trotzigen Volkstribuns führte zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den unnachgiebigen Patriziern. Für eine kurze Weile herrschte Normalität. Die Emotionen ebbten ab. Der Friede kehrte zurück. Aber die tiefen Probleme der Republik waren noch immer nicht gelöst – und der Zorn, den sie entfachten, brach bei der nächsten Gelegenheit wieder aus.

Die von den Gracchen und ihren Gegnern angestachelten Konflikte prägten die Römische Republik, noch lange nachdem sie selbst von der politischen Bühne wieder verschwunden waren. Immer wieder gelang es einem ihrer Nachahmer, die Macht zu erobern. Und von Mal zu Mal zeigten sich die Normen und Regeln der Römischen Republik dem Ansturm der so genannten Popularen weniger gewachsen. Es gab keine klare Bruchstelle, keinen eindeutigen Moment, in dem den Römern bewusst wurde, dass ihre politischen Institutionen obsolet geworden waren. Und doch verkam die Römische Republik im Laufe eines stürmischen Jahrhunderts mehr und mehr. Als die meisten Römer endlich erkannten, dass ihre Freiheit auf dem Spiel stand, war die Republik schon längst verloren.

Auf dem Höhepunkt seiner schrecklichen Herrschaft machte Nero sich daran, seine Feinde zu erniedrigen und seine Verwandten zu töten. Er ermordete seine Mutter und seinen Stiefbruder. Er ließ eine ganze Reihe von hochrangigen Politikern exekutieren. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf einen einflussreichen Senator aus einer namhaften römischen Familie. Florus, so befahl er, solle bei seinen Spielen tanzen und sich so vor einer johlenden Menge zum Narren machen. Florus wusste nicht, was er tun sollte. Wenn er Neros Befehl Folge leistete, würde er dessen Herrschaft legitimieren und Schande über sich und seine Familie bringen. Wenn er sich dem Befehl verweigerte, würde Nero ihn vermutlich töten lassen. In seiner Verzweiflung wandte er sich an Paconius Agrippinus, einen stoischen Philosophen.

Die Stoiker lehrten, dass man mit der richtigen Einstellung über alle noch so widrigen Umstände triumphieren könne. Niemand, so ihre These, kann den Geist eines Menschen bezwingen. Solange man gegenüber der Außenwelt gänzlich gleichgültig ist – also jegliche Bindung an materielle Dinge, an andere Menschen und selbst ans eigene Überleben aufgibt –, behält man sein Wohlergehen in der eigenen Hand. Ein wahrer Philosoph, so das Fazit der Stoiker, kann selbst auf der Folterbank glücklich sein. Florus wird sich also kaum zufällig an Agrippinus gewandt haben. Angesichts dessen, was er über die Stoiker wissen musste, erwartete er wahrscheinlich einen eindeutigen Rat: „Biete dem Tyrannen die Stirn. Mach dir über die Konsequenzen keinen Kopf.“

Aber das war es nicht, was Agrippinus dem Senator riet. Stattdessen sagte der Philosoph, dass es keinen wirklichen Unterschied mache, wofür er sich entscheiden werde: „Geh ruhig und nimm an den Spielen teil!“ Das hatte Florus nicht erwartet. „Und warum nimmst du nicht an ihnen teil?“, fragte er. „Weil ich die Möglichkeit nicht einmal in Erwägung gezogen habe“, erklärte Agrippinus. „Jeder, der sich herablässt, über so etwas nachzudenken, ist bereits auf dem Weg, seinen Charakter zu verlieren. Ist das Leben dem Tod vorzuziehen? Ja. Ist das Vergnügen der Pein vorzuziehen? Natürlich. Wenn ich an diesem tragischen Spektakel nicht teilnehme, erklärst du mir, wird Nero mir den Kopf abschneiden! Dann geh ruhig und nimm an den Spielen teil. Ich selber werde das nicht tun.“

In den vergangenen Monaten habe ich viel über die Stoiker nachgedacht. In vielerlei Hinsicht ist ihre strenge Weltsicht geradezu abstoßend. Wie sie nur allzu gut verstanden haben, gibt es nur eine einzige Möglichkeit, völlige Kontrolle über das eigene Schicksal zu gewinnen: Man muss gegenüber allen äußeren Umständen gleichgültig werden. Wenn man eine Person liebt, kann man nicht glücklich sein, wenn ihr schreckliche Dinge angetan werden. Wenn man für seine Mitbürger Solidarität empfindet, kann man nicht zufrieden sein, wenn diese unter Armut leiden oder diskriminiert werden. Und wenn man sich für Werte wie Freiheit oder Gleichheit einsetzt, kann man nicht gleichmütig bleiben, wenn das Schicksal der liberalen Demokratie am seidenen Faden hängt.

Aus all diesen Gründen will ich kein Stoiker sein. Ich schätze die Dinge, die außerhalb meiner Kontrolle liegen, hoch genug, um ihr Wohlergehen freiwillig mit meinem eigenen verknüpfen zu wollen. Glücklich zu sein, während alles um mich herum aus den Fugen gerät, scheint mir nicht die Haltung eines aufgeklärten Philosophen – sondern die eines Zynikers oder gar eines Soziopathen. Und doch glaube ich in den Lehren der Stoiker eine wichtige Weisheit zu entdecken: Sie haben erkannt, dass man niemals das Richtige tun wird, wenn man sich ununterbrochen ausrechnet, was für Folgen das eigene Handeln haben könnte. Denn wenn man mit einer echten Gefahr konfrontiert ist, wird man immer einen scheinbar vernünftigen Grund finden können, um rein gar nichts zu tun.

„Ich sollte wahrscheinlich etwas sagen. Aber was würde das schon für einen Unterschied machen?“ „Ich sollte da wahrscheinlich nicht mitmachen. Aber wie kann ich meine Familie ernähren, wenn ich jetzt meinen Job verliere?“ „Ich sollte der Regierung wahrscheinlich Paroli bieten. Aber was, wenn sie mich dann ins Gefängnis wirft?“ In einem wichtigen Punkt hatte Agrippinus also vollkommen recht: Wenn ich erst dann darüber nachdenke, welche Risiken ich eingehen möchte, wenn die Gefahr bereits akut ist, werde ich im entscheidenden Moment kneifen. Da ich hoffe, dann das Richtige zu tun, wenn Mut besonders vonnöten ist, arbeite ich also schon jetzt an meiner inneren Entschlossenheit.

Außergewöhnliche Zeiten

Eines der wichtigsten – und am wenigsten beachteten – Privilegien einer stabilen Demokratie ist es, dass wir uns mit derartigen Fragen in der Regel nicht auseinandersetzen müssen. Bis in die jüngste Vergangenheit lebten die meisten von uns in gewöhnlichen Zeiten. In der Politik stand schon immer viel auf dem Spiel. Aber es bedurfte selten großen Mutes, für das einzutreten, was uns am Herzen lag. Das Richtige zu tun, erforderte keine großen Opfer. Und wenn wir einen wichtigen Kampf verloren hatten, wussten wir, dass wir noch viele Chancen bekommen würden, die Schlacht zu gewinnen. Jetzt hingegen erleben wir außergewöhnliche Zeiten. In der Politik geht es nunmehr um existenzielle Fragen. In den kommenden Jahren wird es vielleicht immer größeren Mutes bedürfen, für das einzutreten, was uns am Herzen liegt. Und falls wir im entscheidenden

Moment das Richtige tun wollen, müssen wir bereit sein, echte Opfer zu bringen. Denn wenn wir die nächsten Kämpfe verlieren, könnte unsere Schlacht allzu bald ein jähes Ende nehmen.
Zum Glück gibt es vieles, was wir tun können, um die liberale Demokratie gegen das anbrechende Zeitalter des Populismus zu verteidigen: Wir können den Populisten auf der Straße Paroli bieten. Wir können unsere Mitbürger an die Vorzüge der Freiheit und der demokratischen Selbstbestimmung erinnern. Und wir können etablierte Parteien zu einem ehrgeizigen Programm drängen, welches das alte demokratische Versprechen von einer besseren Zukunft für das Gros der Bevölkerung auf glaubhafte Weise erneuert.

Noch können wir nicht wissen, auf welches Schicksal unser politisches System zusteuert. Vielleicht erweist sich der Aufstieg der Populisten als kurzlebige Phase, an die Historiker sich in hundert Jahren mit einer Mischung aus Neugierde und Verwunderung erinnern werden. Vielleicht erweist er sich aber auch als epochaler Wandel, der eine neue Weltordnung einleitet, in der die Selbstregierung von der Erdoberfläche verschwindet und die Rechte der Menschen überall mit Füßen getreten werden.
Ein Happy End kann uns niemand versprechen. Aber all jene unter uns, die sich unseren Werten und unseren Institutionen zutiefst verbunden fühlen, werden trotzdem ohne Rücksicht auf Verluste für ihre Überzeugungen kämpfen. So ungewiss die Früchte unserer Mühen auch sein mögen, wollen wir tun, was wir können, um die liberale Demokratie zu retten.

Yascha Mounk lehrt Politikwissenschaft an der Harvard University und forscht u.a. zum Populismus. Dieser Text stammt aus seinem aktuellen Buch „Der Zerfall der Demokratie“ (Droemer).

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März-April 2018, S. 118 - 127

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