Titelthema

26. Juni 2023

Freie Digitale

Großmachtpolitik spielt sich immer stärker im virtuellen Raum ab. Deutschland und Europa müssen hier aktiver werden, dürfen aber nicht vergessen, dabei auf ihre Stärken zu setzen – als liberale ­Demokratien und offene Marktwirtschaften.

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Bild: Ausländische Studierende an der Universität Bonn
In Feierlaune: Offenheit für ausländische Studierende (hier: an der Universität Bonn) ist wichtig für den Ruf eines Landes als Innovationsstandort. Visa-Einschränkungen à la USA sollte Europa daher vermeiden.
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Russlands Angriff auf die Ukraine hat nicht nur die europäische Verteidigungs- und Sicherheitsarchitektur im Kern erschüttert. Er befeuert auch einen globalen Wettstreit um Technologieführerschaft, der die strategischen und ideologischen Rivalitäten über die kommenden Jahrzehnte hinweg maßgeblich mitbestimmen wird.

Neben ihrer Bedeutung für wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit werden digitale Technologien immer wichtiger für militärische Leistungsfähigkeit. China setzt daher auf Führerschaft in Schlüsseltechnologien wie Künstlicher Intelligenz (KI), Netzwerktechnik oder Quantum Computing, einer Technologie, die mithilfe der Gesetze der Quantenmechanik Probleme löst, die für klassische Computer zu komplex sind. In den USA haben die Regierungen von Donald Trump und Joe Biden ­sukzessive den Zugang zu amerikanischen Märkten in sensiblen Sektoren wie der Mobilfunktechnologie eingeschränkt. Erst im vergangenen Oktober hat das US-Handelsministerium die Exportkontrollen für Halbleiter verschärft – mit dem Ziel, Chinas ­Zugang zu fortgeschrittener Chiptechnologie weiter zu beschränken.

Digitale Technologien sind zudem längst Teil autoritärer Ordnungsmodelle geworden. Seit Jahren wächst das Ausmaß von Internetsperren, etwa während der Proteste gegen die Regierungen in Be­larus (Sommer 2020), in Kasachstan (Winter 2021/22) und im Iran (Herbst 2022). Mit seiner „­Great Firewall“ hat China die Mittel geschaffen, um den Datenverkehr engmaschig zu durchleuchten und zu zensieren. Technologien wie generative KI sollen in China künftig „Grundwerte des Sozialismus“ ­widerspiegeln. In Russlands Krieg gegen die Ukraine ist der Informationsraum zentrales Element hybrider Kriegsführung gegen die westlichen Demokratien.

 

Willkommen in der neuen Wirklichkeit

Die Interessen Deutschlands als Hightech-Standort, globalisierte Volkswirtschaft und liberale Demokratie werden durch diese Entwicklungen unmittelbar berührt. Geopolitische Konflikte im Technologiesektor können Auswirkungen haben, die über die Folgen von Ereignissen weit hinausgehen, die noch vor Kurzem als geradezu epochal galten, etwa des russischen Gaslieferstopps. Halbleiter beispielsweise befeuern nicht nur Endgeräte wie Laptops und Smartphones, sondern auch Deutschlands hochvernetzte Industrie und seine intelligenten Stromnetze, das Rückgrat der Energiewende. Mehr als die Hälfte der globalen Chip-Produktion findet in Taiwan statt – und damit an einem der geopolitisch heikelsten Orte der Welt.

Dennoch wird die Förderung digitaler Technologien hierzulande weiterhin überwiegend losgelöst von geopolitischen Entwicklungen wahrgenommen. So spielen in technologierelevanten Papieren der Bundesregierung wie der deutschen Hightech-Strategie 2025, der KI-Strategie oder der 5G-Strategie sicherheits- und verteidigungsrelevante Aspekte kaum eine Rolle. Ob Innovationsförderung, Industriepolitik, Digitalregulierung, Cybersicherheit oder Verteidigung – Technologiepolitik wird nach wie vor stark in Silos gedacht.

Dieser Ansatz stößt an Grenzen, wenn es darum geht, globale Entwicklungen und ihre Konsequenzen für Deutschland adäquat zu erfassen und darauf zu reagieren. Eine geopolitische Zeitenwende erfordert, dass politische Entscheidungsträger und Ressorts die Dimensionen Technologie, Wirtschaft und Sicherheit künftig nahtloser miteinander verknüpfen. Hinzu kommt, dass es immer schwieriger wird, bei den digitalen Technologien zivile und militärisch verwendbare Forschung und Entwicklung strikt voneinander zu trennen. Rivalen und Partner schreiten bei der militärischen Nutzung von Technologien wie KI voran. Und so sieht sich ein Land, das eine gute Dekade damit zugebracht hat, über die Bewaffnung von Drohnen zu streiten, mit einer neuen und ethisch ausgesprochen komplexen Realität konfrontiert.

 

Den digitalen Wandel mitgestalten

Aggressive Subventionsstrategien, fragile Lieferketten, ein immer schärfer geführter Wettstreit um Schlüsseltechnologien: An Fragen, auf die Deutschland eine ambitionierte strategische Antwort finden muss, mangelt es nicht. Aber nicht jede Kehrtwende taugt als Zeitenwende. Deutschland sollte auf seine Stärken bauen: auf gesellschaftliche Offenheit, wirtschaftlichen Wettbewerb und politische Freiheit.

Durchaus berechtigte Rufe nach mehr Souveränität im Digitalbereich etwa müssen sich rhetorisch klar abgrenzen von solchen Diskursen, die andernorts staatliche Eingriffe bis tief in die Gesellschaft legitimieren sollen. So unterstrichen China und Russland vor Beginn des Ukraine-Krieges, dass „jegliche Versuche, ihr souveränes Recht, nationale Segmente des Internets zu regulieren und deren Sicherheit zu gewährleisten, einzuschränken, inakzeptabel sind“. Ein deutsches Verständnis von digitaler Souveränität sollte die Fähigkeit des Staates, seine Verantwortung wahrzunehmen, ins Zentrum rücken. Das bedeutet vor allem die Befähigung der Gesellschaft und des Einzelnen, den digitalen Wandel selbstbestimmt mitzugestalten.

Einen gut kalibrierten Ansatz gilt es vor allem bei elementaren Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen zu finden. Das gilt wohl am unmittelbarsten bei Außenhandelsinstrumenten. Entsprechend hat die Bundesregierung vor einigen Monaten beschlossen, ihre Investitions- und Exportgarantien zu reformieren, um Anreize für Geschäfte in politisch risikobehafteten Märkten zu reduzieren.

 

Steuern, aber nicht übersteuern

Klar ist ebenfalls: Deutschland und Europa müssen Marktverzerrungen angemessen begegnen und ihre Versorgungssicherheit bei kritischen Technologien verbessern. Die Geografie globaler Halbleiterlieferketten ist aufgrund hoher Kapitalintensität und erheblicher Investitionsrisiken in hohem Maße durch staatliche Subventionen mitbestimmt. So sind für den Bau zweier hochmoderner Chip-Produktionsstätten in Magdeburg rund 24 Milliarden Euro veranschlagt – knapp ein Drittel davon soll aus staatlichen Fördermitteln stammen.

Dem Staat kommt im Umgang mit Risiken im Technologiebereich also eine ­wichtige Steuerungs- und Koordinationsrolle zu. Deutschland schüttelt in dieser Hinsicht allmählich seine geopolitische Naivität ab – gut so. Allerdings ist Vorsicht geboten: Wenn man hier übersteuert, könnte das eben dem globalen Technologie-Merkantilismus Vorschub leisten, der deutsche Unternehmen und europäische Regeln international zurückzudrängen droht. Entscheidungsträgerinnen und -träger in Deutschland sollten sich daher stets fragen: Wie viel ist uns ein Mehr an Sicherheit wert? An welchen Stellen erzielen wir die größte Hebelwirkung? Und wo können wir technologiepolitische Ziele nur gemeinsam mit Partnern erreichen, auch außerhalb Europas?

Rechtsstaatlichkeit und Verhältnismäßigkeit müssen das Fundament bleiben, um national wie international zu bestehen und gleichzeitig demokratische Prinzipien zu stärken. In den Vereinigten Staaten etwa haben strikte Einschränkungen bei der Visavergabe für chinesische Studierende und Forschende dem Ruf und der Attraktivität des Landes als Innovations­motor nachhaltigen Schaden zugefügt. Das ist eine wichtige Warnung für Deutschland und Europa, denn langfristig hängt unser Erfolg in erster Linie von der Schaffung geeigneter Rahmenbedingungen für Spitzenforschung, Kommerzialisierung und Integration neuer Technologien ab – ob im öffentlichen Sektor oder in der ­Unternehmenslandschaft.

 

Digitalpolitik braucht Diplomatie

Dabei ist es gerade die gesellschaftliche Offenheit demokratischer Systeme, die besonders geeignet ist, der Komplexität digitalpolitischer Fragen und geopolitischer Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die Einbeziehung von Thinktanks, Unternehmen, Zivilgesellschaft und technischer Community lässt wichtige Expertise einfließen. Um dies in Zukunft noch intensiver zu tun, sollte die Bundesregierung über Wege nachdenken, wie sich diese Gruppen in Strategiefindungsprozesse über unregelmäßige Konsultation hinaus systematisch einbeziehen lassen.

Auch international muss Deutschland im Kreise seiner Partner eine Antwort auf die techno-geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit finden. Der intensive strategische Wettbewerb führt dazu, dass der Ehrgeiz steigt, den politischen Einfluss auszuweiten und das eigene Ordnungsmodell zu verankern – sei es durch das Setzen technischer Standards oder durch den Ausbau technischer Infrastrukturen. Schätzungen zufolge sind bereits 2018 rund 79 Milliarden US-Dollar im Rahmen von Chinas digitaler Seidenstraßen-Initiative in digitale Infrastrukturen weltweit geflossen.

Mit der Global Gateway-Initiative will die EU bis 2027 ihrerseits 300 Milliarden Euro für Infrastrukturprojekte mobilisieren, darunter auch solche für digitale Konnektivität. Eine zentrale Herausforderung wird hierbei sein, nationale, EU- und Partner-Initiativen so zu bündeln, dass sie miteinander statt nebeneinander arbeiten.

Derzeit geraten selbst grundlegende Pfeiler der internationalen Technologie-Governance und des globalen Internets unter Druck. So setzt sich eine Reihe von Staaten, darunter China und Russland, seit Jahren dafür ein, die Rolle zwischenstaatlicher Organisationen gegenüber der vorwiegend nichtstaatlich organisierten und an technischen Kriterien orientierten Verwaltung des Internets zu stärken.

Die unterschiedlichen Visionen davon, wie sich das Internet regeln lässt, bringen immer neue internationale Institutionen und Initiativen hervor. So schlossen sich im vergangenen Jahr die EU, die USA und Dutzende weiterer Staaten in einer Erklärung über die Zukunft des Internets zusammen, die demokratische Prinzipien, Grundfreiheiten und Menschenrechte in den Mittelpunkt stellt. Nur Monate später wurde die World Internet Conference im chinesischen Wuzhen als internationale Organisation gegründet, eine Plattform für die Förderung eines alternativen Verständnisses von Cybersouveränität.

Unter dem Eindruck des russischen Krieges gegen die Ukraine hat sich innerhalb der G7 und des Transatlantischen Handels- und Technologierats (EU-US TTC) ein institutioneller Rahmen für eine koordinierte Digitalpolitik herausgebildet. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, diesen Rahmen zu stärken und, wo möglich, auf weitere, vorzugsweise demokratische Partner auszuweiten. Die Gründung eines EU Trade and Technology Councils mit Indien Anfang des Jahres und der Ausbau der bilateralen Digitaldialoge der Bundesregierung  sind weitere wichtige Schritte. Denn Digitalpolitik ist ebenso lokal wie global – unsere Antwort muss es ebenfalls sein.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 4, Juli 2023, S. 68-71

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Dr. David Hagebölling ist Senior Scientist am Fachgebiet Internet-Technologien und Systeme des Hasso-Plattner-Instituts und Associate Fellow am Zentrum für Geopolitik, Geoökonomie und Technologie der DGAP.