Erinnern, um zu vergessen? Nicht wenige der „Europäischen Kulturhauptstädte“ waren in diese Falle getappt, gestellt von Brüsseler Subventionsausschüttern, einheimischen Schlitzohren und einer Armada windiger Event-Manager, ohne die nichts läuft. Das 2014 prämierte slowakische Kosice – im Zweiten Weltkrieg Umschlagplatz für die Deporta-tion der ungarischen Juden nach Auschwitz – war ein besonders markantes Beispiel für eine historische Amnesie, die sich einzustellen scheint, wenn für EU-Millionen besonders viele „multimediale, interaktive Projekte“ umgesetzt werden. Im belgischen Mons, der diesjährigen Kulturhauptstadt, war ein größerer Bahnhof eines der „Projekte“. Freilich ist die zu ihm hinführende Straße „Rue Léopold II“ noch immer nach dem königlichen Kongo-Genozidär benannt.
Man sollte diese deprimierenden Vorgeschichten kennen, um das Alltagswunder von Breslau/Wroclaw entsprechend zu würdigen. 2016 wird man hier ebenfalls den Titel einer „Europäischen Kulturhauptstadt“ tragen und gleichzeitig wissen, dass keine böhmischen Dörfer entstehen werden. Nicht in dieser Stadt. Das historische Gedächtnis des einst von Polen sowie jüdischen und nichtjüdischen Deutschen gleichermaßen geprägten Breslau ist ausdifferenziert genug, um dem ins Event-Selige abgeglittenen Kult um die „Kultur“ gehörig zu misstrauen.
Das ist hier Ausdruck der allgemeinen Gestimmtheit: Es ist der Oberbürgermeister selbst, der auf die Janusköpfigkeit unseres gängigen Kulturbegriffs hinweist. Rafal Dutkiewicz, seit 2002 im Amt, steht als Unabhängiger der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO) nahe und ist selbstverständlich „Solidarnosc“-sozialisiert. Auch deshalb erinnert er sich präzise an das kommunistische Getöse um „Frieden und Kultur“, das umso lauter wurde, je mehr die Lebensqualität absackte. Wer will, könnte seine Aperçus auch als Spitzen gegen Brüssel und Moskau interpretieren: polnische Erfahrung versus egomanische Großsprecherei. Im Jahre 1948 hatte nämlich just in Wroclaw ein von den neuen Machthabern organisierter „Internationaler Kongress der Intellektuellen zur Verteidigung des Friedens“ stattgefunden, ein sowjetisch domptierter Zirkus der fellow-traveller, u.a. mit Jorge Amado, Anna Seghers, Paul Éluard und Hans Scharoun.
Was aber nützt all das (rhetorisch) Gute, Edle und Schöne, wenn es zur Hülle wird für totalitäre Ideologie? Nur jenseits dessen ist ein adäquates Erinnern möglich, wie etwa das Lebenswerk von Maciej Lagiewski zeigt. Gegen den Willen der herrschenden Kommunisten hatte der Historiker bereits in den siebziger Jahren begonnen, den von den Nazis heimgesuchten jüdischen Friedhof der Stadt zu restaurieren. Heute ist Lagiewski Direktor des Städtischen Museums, in dessen Räumen man sich fragt, ob es in Breslau überhaupt noch eines Stimulans namens „Europäische Kulturhauptstadt“ bedarf. Die deutsch-jüdische Historie ist hier so präsent wie die polnische, dazu die Nachkriegsgeschichte mit der antisemitischen Vertreibungswelle von 1968 und dem antikommunistischen Widerstand ab Mitte der siebziger Jahre.
Ironie der Geschichte, auf die Maciej Lagiewski gern hinweist: Da es in der Bundesrepublik lange als politisch inkorrekt galt, an die deutsche Kulturprägung der heute polnischen Gebiete zu erinnern, blieb auch das Schicksal der Breslauer Juden in der Forschung unterbelichtet, fühlten diese sich doch vor allem als assimilierte Deutsche, die am liebsten den (von Judenabneigung nicht freien) Gustav-Freytag-Schmöker „Soll und Haben“ lasen. In den Memoiren der gebürtigen Breslauer Fritz Stern, Walter Laqueur und Günther Anders ist von eben diesen Ambivalenz-Erfahrungen die Rede, die nun ins kollektive Gedächtnis der Stadt eingegangen sind. Wenn man heute durch Breslau flaniert, stellt sich deshalb nirgendwo das Gefühl ein, lediglich eine aufgehübschte Kulisse zu durchwandern. Dafür sorgen schon die allerorten aufgestellten Bronze-Zwerge: In den achtziger Jahren waren sie das Symbol der „Orangen Alternative“, einer kreativ-subversiven Bürgerrechtsbewegung, welche die tumbe Staatsmacht immer wieder paralysierte mit Slogans wie „Für Freiheit und Zwerge!“ „Es lebe Lenin und der kulturelle Frieden!“
Mögen in Warschau die damals Aufmüpfigen längst zu Wohlsituierten geworden sein, die mit ihren Erzählungen die neue Generation langweilen. In Breslau scheint es diesen Generationskonflikt nicht zu geben. Wie wäre es sonst zu erklären, dass man in den zahlreichen Lounge-Bars und Clubs als Deutscher sogleich auf das Aktuelle angesprochen wird: Was tust du gegen Putins Expansionskurs, wie siehst du die Zukunft der Ukraine? Nicht wenige junge Leute brechen in diesen Wochen nach Lemberg/Lwiw auf, um der ukrainischen Zivilgesellschaft beizustehen – nicht zuletzt gegen die Gefahr neonationaler Mythen. Auch wenn man es so offen nie aussprechen würde: Es ist weniger der künftige Kulturhauptstadt-Titel, der die Stadt ehrt, sondern eher die Stadt selbst, die dieser in Routine-Jahre gekommenen Veranstaltung neue Glaubwürdigkeit verschafft.
Marko Martin lebt als Schriftsteller in Berlin. Soeben erschien „Madiba Days. Eine südafrikanische Reise“ (Wehrhahn Verlag).