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01. Jan. 2005

Fluch und Segen

Arafats Tod eröffnet neue Chancen für den Friedensprozess

Jassir Arafat begründete die palästinensische Nationalbewegung. Sein Mangel an rationaler Urteilskraft verhinderte jedoch die Gründung eines unabhängigen Palästinenserstaats. Der neue PLO-Chef Mahmud Abbas unterscheidet sich in Stil und Ansichten von seinem Vorgänger. Ein echter Erfolg bei zukünftigen Verhandlungen wird aber nicht von Stilfragen, sondern von der Substanz der Angebote abhängen.

Jassir Arafats Tod ist für viele Palästinenser Fluch und Segen zugleich. Niemals hat der Palästinenser-Präsident die Rolle erfüllt, die nach dem Abschluss des Osloer Abkommens und dem berühmten Handschlag auf dem Rasen des Weißen Hauses in Washington für ihn zurecht geschneidert wurde: Von nun an sollte er endlich seine Uniform ablegen, die Pistole wegwerfen und auf Anweisung der Israelis sein Volk besänftigen – obgleich die israelische Besatzung faktisch noch lange nicht beendet war. Doch er weigerte sich. Solange die Palästinenser noch unter Besatzung leben müssten, sei die palästinensische Revolution nicht vorüber.

Arafat war nicht einzuordnen. Im Leben wie im Tod blieb er undurchschaubar. Dass er der palästinensischen Sache zutiefst ergeben, ja geradezu von ihr besessen war, erwies sich als Glück und Schaden. Seine Hingabe brachte ihm die tiefe Zuneigung des palästinensischen Volkes und die Bereitschaft, ihrer großen Symbolgestalt fast alle Fehler zu verzeihen, die er im Lauf seines politischen Lebens beging. Er vereinigte die Palästinenser hinter einer nationalen Agenda, die zu einem weltweit gehörten Schrei nach Freiheit und Unabhängigkeit wurde. Arafats besessene Hingabe an die palästinensische Sache aber behinderte seine Urteilsfähigkeit. Oft genug waren es die Palästinenser, die teuer für die Fehler ihres verehrten Präsidenten zu zahlen hatten. Er stemmte sich nicht der emotionalen Welle von Unterstützung entgegen, die die Palästinenser während des Golf-Krieges von 1991 dem irakischen Diktator Saddam Hussein entgegen brachten. Als direkte Konsequenz wurden 400.000 Palästinenser aus Kuwait ausgewiesen, und die Palästinenser verloren international und in der arabischen Welt an Unterstützung. Nach dem Abschluss des Osloer Abkommens versäumte er, Macht an die palästinensischen Institutionen und damit an die Palästinenser selbst abzutreten, wie im Vertrag vorgesehen.

Dass er auf seiner alleinigen Entscheidungsbefugnis bestand, trieb die Palästinensische Autonomiebehörde in Ineffizienz und Korruption. Auch begriff er die Gelegenheit nicht, die sich im letzten Jahr der Amtszeit von US-Präsident Bill Clinton bot. Während der Verhandlungen im ägyptischen Badeort Taba im Januar 2001 wischte er eine akzeptable Lösung des Konflikts vom Tisch, ohne eine echte Alternative für die Beendigung der Besatzung und die Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates anzubieten. In diesem Sinn war Arafats Tod sicherlich auch ein Segen.

Arafat hielt während der drei Jahre seines Hausarrests in der „Mukata“ (dem Hauptquartier Arafats in Ramallah) enormem physischen und psychischen Druck stand. Das wird Teil seines Mythos und seines politischen Vermächtnisses bleiben. Kein politischer Führer der Palästinenser wird sich weniger hartnäckig geben können als Arafat.

Jetzt entsteht im Nahen Osten von neuem die Hoffnung, dass die entscheidenden regionalen und internationalen Politiker eine sich zart abzeichnende Chance erneuter und vielleicht sogar erfolgreicher Verhandlungen nicht verschenken werden. Europäische Politiker formulieren neue Vorschläge. Die amerikanische Regierung erklärt eindeutig, sich wieder in Verhandlungen engagieren zu wollen. Das nährt die Hoffnung, das Jahr 2005 möge ein Jahr des Friedens für diese Region werden. Nach den Präsidentschaftswahlen verfügt Mahmud Abbas über ein starkes Mandat für neue Verhandlungen.

Noch bedeutender als die Präsidentschaftswahlen sind die für Mai dieses Jahres vorgesehenen Wahlen für den Palästinensischen Legislativrat und die Wahlen für die Generalversammlung der „Fatah“, die größte Fraktion der Palästinensischen Befreiungsorganisation. Die Fatah- Generalversammlung wurde 1989 zum letzten Mal gewählt. Seither konnten junge politische Führer wie Marwan Barguti, der derzeit eine fünffach lebenslängliche Strafe in einem israelischen Gefängnis absitzt, an Statur gewinnen – nicht jedoch an realem, durch Wahlen legitimierten Einfluss innerhalb der palästinensischen Führung.

Arafats Tod hat den Friedensprozess sicherlich wieder zum Leben erweckt und einige der regionalen und internationalen Politiker aus einem grundsätzlichen Dilemma erlöst. Israels Ministerpräsident Ariel Scharon und der amerikanische Präsident George W. Bush hatten sich in eine Ecke manövriert, aus der es kein Entkommen gab. Sie wollten zwar den Friedensprozess fortführen, aber nicht mit Jassir Arafat, dem anerkannten und demokratisch legitimierten Repräsentanten des palästinensischen Volkes sprechen. Viele Palästinenser vermuten, dass dies nur eine bequeme Flucht vor den schwierigen Streitpunkten war, zu denen es auf palästinensischer Seite klare Vorstellungen gibt:

  • Die Grenzen des zukünftigen palästinensischen Staates. Die Palästinenser bestehen im Wesentlichen auf einer Rückkehr zu den Waffenstillstandslinien von 1967.
  • Siedlungen. Sie sind nach internationalem Recht illegal.
  • Jerusalem. Ost-Jerusalem muss Teil des palästinensischen Staates werden.
  • Flüchtlinge. Ein Rückkehrrecht muss grundsätzlich anerkannt werden. Die genaue Umsetzung eines grundsätzlichen Rückkehrrechts ist hingegen offen für Verhandlungen.

Diese Streitpunkte, und nicht allein Arafats Politik, sind Ursache für die Kluft zwischen Israelis und Palästinensern. Natürlich unterscheiden sich Jassir Arafat und Mahmud Abbas sowohl in ihrem politischen Stil als auch in einigen politischen Vorstellungen. Abbas gibt sich nicht als Freiheitskämpfer, sondern als bodenständiger Geschäftsmann und Bürokrat. Das dürfte ihm einige Pluspunkte einbringen bei der schwierigen Aufgabe, die öffentliche Meinung in Israel und den USA zu gewinnen.

Arafat und Abbas pflegten seit Beginn der so genannten „Al-Aksa-Intifada“ auch unterschiedliche Auffassungen zur Frage des militärischen Widerstands. Abbas erklärte wiederholt, dass er die Militarisierung der Intifada für inakzeptabel hält, da sie den ursprünglichen Charakter eines Volksaufstands verzerrte. Anstelle eines bewaffneten Widerstands gegen die Besatzung führte sie zu Gewalt gegen Zivilisten und zum Missbrauch von Gewalt auch innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Arafat hingegen war der Ansicht, dass Gewalt gegen eine Besatzungsmacht ein international garantiertes Recht sei, und dass Israels Missachtung internationaler Abkommen – darunter der Genfer Konvention, der Osloer Verträge und der so genannten Road Map – sowie der weiter andauernde, illegale Siedlungsbau den Palästinensern keine andere Wahl ließe, als sich gewaltsam zur Wehr zu setzen.

Man hielt diese Differenzen zwischen Abbas und Arafat sehr häufig für wesentlich. Doch auch das ist eine bequeme Ausflucht. Ein Verhandlungserfolg wird nicht vom Stil der jeweiligen Politiker abhängen, sondern von der Substanz der Angebote. Und hier unterscheiden sich Arafat, Abbas und die Mehrheit der Palästinenser in ihren grundsätzlichen Ansichten nicht. Israelische Vorschläge, die keine (wenigstens weitgehende) Rückkehr in die Grenzen von 1967 vorsehen, dürften auf größten Widerstand von palästinensischer Seite stoßen. Dies ist die wichtigste Streitfrage, die gelöst werden muss.

Die Frage des Rückkehrrechts palästinensischer Flüchtlinge ist zwar von großer symbolischer Bedeutung, dürfte aber ein potenzielles Abkommen nicht verhindern. Für die Palästinenser ist eine grundsätzliche Anerkennung der moralischen Verantwortung Israels für das Flüchtlingsproblem wichtig. Sie werden jedoch nicht darauf bestehen, dass jeder einzelne Flüchtling wieder in den ursprünglichen Heimatort in Israel zurückkehren darf.

Politische Abkommen sind natürlich wertlos, solange sie der Öffentlichkeit nicht verkauft werden können. Ohne weitgehende Unterstützung „von unten“ werden „Friedensverträge von oben“ nicht überleben. Die Palästinenser brauchen deshalb nicht nur ein faires und gerechtes Abkommen, sondern auch klare, kurz- und mittelfristige Vorkehrungen, die das Leben deutlich verbessern. Jeder einzelne Palästinenser leidet unter den direkten und indirekten Folgen der Besatzung. Die Reise- und Arbeitsbeschränkungen für Palästinenser müsssen aufgehoben und die Beeinträchtigung der palästinensischen Wirtschaft muss beseitigt werden. Die israelische Armee muss die Zerstörung palästinensischer Häuser stoppen, auf ständige Invasionen in die palästinensischen Gebiete verzichten und palästinensische Gefangene freilassen. Unter Palästinensern erinnert man sich noch sehr gut daran, dass Mahmud Abbas in seiner kurzen Amtszeit als Ministerpräsident keine Freilassung palästinensischer Gefangener von den Israelis erwirken konnte. Die israelische Regierung weigerte sich, den Palästinensern eine so hoch symbolische Geste zuzugestehen, obwohl sie zur gleichen Zeit einen Gefangenenaustausch mit den libanesischen Fundamentalisten der „Hisbollah“ verhandelte.

Arafats Ableben bedeutet eine wahre Quelle der Hoffnung – sofern die Politiker im Nahen Osten wie der internationalen Staatengemeinschaft diese Chance ernst nehmen und einen echten Friedensprozess voranbringen, der auf dem Respekt für das Leben und die Würde der Menschen in dieser Region beruht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 112 - 115.

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