Falsche Beschützer
Die Aufrüstung der Afghan Local Police wäre ein tragischer Fehler
Sie stehen auf der Gehaltsliste der USA und tragen das Wort Polizei in ihrem Namen. Aber eigentlich sind es Regierungsmilizen, die oftmals ihre Macht missbrauchen und der Bevölkerung nur wenig Sicherheit bieten, anstatt gegen die Taliban zu kämpfen. Was also soll geschehen mit der Afghan Local Police, bis die Mittel 2018 auslaufen?
Eine Gruppe bewaffneter Afghanen fesselte ihren Gefangenen auf einem freien Feld nahe Kabul und machte Zielübungen mit raketengetriebenen Granatwerfern. Eine andere trieb die Männer und Jungen eines Ortes zusammen und schloss sie in der Moschee ein, um unbehelligt ihre Häuser auszurauben und Frauen zu vergewaltigen. Anderswo griffen sich bewaffnete Männer den angesehenen Dorfältesten, einen weißbärtigen Mann, der es gewagt hatte, sich über das Benehmen der Männer zu beschweren. Sie zogen ihn so lange hinter ihrem Pickup Truck her, bis er starb.
All diese Männer stehen auf der Gehaltsliste der USA, sind Teil eines 120 Millionen Dollar schweren Programms zur Unterstützung der Afghan Local Police (ALP). Zwar steckt das Wort Polizei im Namen der ALP-Einheiten, doch passender wäre es, sie Regierungsmilizen zu nennen. Häufig werden sie in den gefährlichsten ländlichen Gegenden des Landes eingesetzt, wo die Aufsicht der Zentralregierung über diese Gruppen auf ein Minimum beschränkt ist.
Wie furchteinflößend sie sind, zeigt sich an den menschenleeren Dörfern, aus denen die Bewohner vor den Einschüchterungsmethoden dieser bewaffneten Gruppen geflohen sind. Ihr fürchterlicher Ruf kommt ihnen aber auch zugute. Den ALP-Einheiten wird in vielen Landesteilen angerechnet, die Taliban ferngehalten zu haben. Die Männer stammen oft aus den gleichen Dörfern, in denen sie auf Streife gehen. Sie sind deshalb gut aufgestellt für diesen lokalen Krieg, in dem die meisten Regierungsgegner in der Nähe ihrer eigenen Häuser kämpfen.
Gerade jetzt braucht die Regierung in Kabul jeden möglichen Schutzschild im Kampf gegen den wachsenden Aufstand. Ihre Sicherheitskräfte haben unter der Sommeroffensive der Taliban so stark wie nie zuvor gelitten, ebenso die Zivilbevölkerung. Erstmals seit fast zehn Jahren sind in Afghanistan auch wichtige Großstädte bedroht.
Dadurch stecken die Sicherheitsbeamten in einem politischen Dilemma. Weil die Mittel für die Afghan Local Police 2018 auslaufen sollen, müssen sie entscheiden, wie es mit den 29 000 Männern des Programms weitergehen soll. Wichtiger noch: Um die ALP ist eine hitzige Debatte darüber entbrannt, ob diese losen Einheiten außerhalb ordentlicher Polizei- und Soldatenränge wirklich die richtigen Truppen zur Verteidigung sind.
Kein Gewinn für die Sicherheit
Bisher gewinnt das ALP-Programm in Kabul immer mehr Anhänger. Bei der nationalen Sicherheitsbehörde NDS, die auch der wichtigste Geheimdienst im Land ist und unter amerikanischer Anleitung arbeitet, scheint man die Aufstockung der ALP-Einheiten um 5000 Männer in mindestens sieben Provinzen voranzutreiben. Im offiziellen Plan der Regierung ist eine Aufstockung um insgesamt 15 000 weitere Kräfte vorgesehen, bevor die Truppen dann bis 2018 aufgelöst werden sollen. Weil die Regierung die in den härter werdenden Kämpfen verlorenen Einheiten ersetzen muss, nimmt die Afghan Local Police derzeit immer mehr illegale Milizen auf. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der ALP wäre eine Aufrüstung mit Regierungsmilizen aber ein tragischer Fehler.
Einer unveröffentlichten Studie für die Joint Special Operations University zufolge kamen US-Offiziere, die Einsatzgebiete von ALP-Einheiten besucht hatten, zu dem Schluss, dass sie in den meisten Fällen kein Gewinn für die Sicherheit sind. „Etwa ein Drittel aller ALP-Einheiten verbessern die lokale Sicherheit, untergraben den Einfluss der Aufständischen und tragen zu einer besseren Regierungsführung bei“, heißt es in der Studie. „Ein weiteres Drittel schafft das nicht, kollaboriert möglicherweise heimlich mit dem Feind oder verübt Misshandlungen, die dem Feind nützen. Das letzte Drittel liegt irgendwo zwischen diesen beiden Gruppen.“
Die Einschätzung, dass ein Drittel der ALP korrekt arbeitet, ist zwar relativ grob, passt aber zu dem, was auch die International Crisis Group bei Recherchen in acht Provinzen beobachtet hat. Demnach verbessern ALP-Einheiten die Sicherheit dort, wo ihre Mitglieder aus den Dörfern rekrutiert werden können, die sie überwachen sollen und deren Bevölkerung sie respektieren. Solche idealen Bedingungen existieren in vielen Bezirken aber nicht. Als amerikanische Spezialkräfte 2010 begannen, ALP-Kräfte zu rekrutieren, mangelte es vielerorts an Freiwilligen. Sie mussten deshalb Milizionäre aus fremden Dörfern stationieren, und diese wurden nicht selten zu Marodeuren.
In der nördlichen Provinz Kunduz erzählte uns ein Lehrer, dass ALP-Mitglieder seinen Bruder und seinen zwölfjährigen Sohn getötet hätten. Leidenschaftlich argumentierte er für ein Ende des ALP-Programms. Wie viele Dorfbewohner empfängt auch er über sein Handy Nachrichten aus aller Welt. Es gebe nur wenige Länder, sagte er, die von so schlecht ausgebildeten Männern kontrolliert würden. „Haben Sie Milizen in Ihrem Land?“, fragte er. „Nein, natürlich nicht.“
Ein Abzug ist nicht so einfach
Der Krieg in Afghanistan hat eine sich selbst erhaltende Dynamik entwickelt. Die Afghan Local Police ist eine Säule des Sicherheitsapparats, tätig in 29 von 34 Provinzen. Zehntausende ALP-Kämpfer kann man nicht einfach aus dem Kampfgebiet abziehen, ohne dass ein Sicherheitsvakuum entsteht. Und wenn sie keinen Lohn mehr bekommen, ist das für ihr Verhalten gewiss nicht förderlich. Viele ALP-Kämpfer wissen, dass ihr Gehalt nicht für Jahre gesichert ist, und sie denken daher schon jetzt über alternative Überlebensstrategien nach – beispielsweise als Banditen oder Aufständische.
Der Krieg in Afghanistan hat viele Dimensionen: Nicht nur politische Motive, auch Feindschaften zwischen Einzelnen, Familien, Stämmen und Ethnien spielen hinein, und die hören nicht einfach auf, wenn die Regierung ihren Kampfauftrag zurückzieht. Wenn man nun ALP-Kämpfer entwaffnet, die vorher im Dienst der USA gegen die Taliban gekämpft haben, setzt man sie damit erhöhter Gefahr aus. Regierungsbeamte, die in abgelegenen Regionen gefährliche Aufgaben übernommen haben, könnten dazu nicht mehr bereit sein, wenn sie in Zukunft von weniger Männern beschützt werden.
„Ich weiß, dass man in Kabul darüber spricht, die ALP einzustellen“, sagte uns der Gouverneur einer Provinz, während er mit der Hand auf den Stacheldraht um sein Grundstück deutete. „Aber man muss verstehen: Ohne diese Burschen würden die Taliban über diese Mauer klettern und mir den Kopf abschneiden.“
Mit vermehrten Taliban-Angriffen wächst auch der Druck auf die Regierung, ihre Truppen zu verstärken. Es wäre dennoch ein großer Fehler, das ALP-Programm auszuweiten oder Sicherheitslücken mit noch mehr Regierungsmilizen zu stopfen. ALP-Einheiten, die der Sicherheit schaden, müssen in ein Programm behutsamer Demilitarisierung überführt werden. Alle anderen Einheiten müssen besser beaufsichtigt werden und eine reformierte Beschwerdeinstanz bekommen. Milizen aufzustellen ist einfacher, als sie aufzulösen oder sie in verantwortungsbewusste Sicherheitskräfte umzuwandeln. Die schwierigste Aufgabe des ALP-Programms steht noch bevor.
Graeme Smith ist Senior Afghanistan Analyst der International Crisis Group. Er ist Autor des Buches „The Dogs Are Eating Them Now: Our War In Afghanistan“.
Die Crisis Group hat am 4. Juni 2015 einen Bericht zur Zukunft der Afghan Local Police herausgebracht, http://www.crisisgroup.org/en/regions/asia/south-asia/afghanistan/268-t…
Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 91-93