»Europa muss Weltmacht werden!«
EU-Kommissar Günter Verheugen im Gespräch mit der IP
Die Verhandlungen über die EU-Mitgliedschaft der Türkei sind ein großer Sprung nach vorne. In Zukunft wird Europa seine Interessen bei der Lösung globaler Probleme robust vertreten
IP: Herr Verheugen, 2004 hat die EU zwei historische Entscheidungen getroffen, an denen Sie als Erweiterungskommissar maßgeblich beteiligt waren: Sie hat im Mai zehn neue Mitgliedsländer aufgenommen und im Dezember Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beschlossen. Vor allem konservative Europaabgeordnete befürchten nun, die EU werde sich „zu Tode erweitern“. Wie werden Sie in die Geschichte eingehen: als der große Beförderer der Union oder als ihr Zerstörer?
Verheugen: Es beginnt eine neue Epoche. Die Europäische Union der Zukunft wird eine andere sein als die, die wir bisher gekannt haben. Sie wird schwieriger sein, anspruchsvoller, sie wird eine größere Ver-antwortung haben. Aber sie wird erfolgreich sein. Die Erweiterung nach Osten war uns historisch auferlegt. Es gab dazu wirklich keine ernsthafte Alternative. Der 1. Mai 2004 besiegelt das Ende einer Epoche in Europa, die uns ins Unglück gestürzt hat, einer Epoche von Faschismus und Krieg. Die Folgen des Zweiten Weltkriegs sind für den größeren Teil Europas erst damit zur Geschichte geworden. Für mich stand im Vordergrund die historisch-moralische Diskussion dieser Frage, und ich bin heute, acht Monate nach dem Vollzug dieses ja von mir erfundenen „Big Bang“, sehr gelassen, weil ich zu meiner Freude feststelle, dass alle meine Vorhersagen eintreffen. Erstens ist der Zugewinn an politischer Stabilität erkennbar. Wenn wir die Erweiterung nicht vollzogen hätten, würden wir in einer Reihe mittel- und osteuropäischer Länder heute dieselben Probleme sehen wie in der Ukraine oder anderen Teilen Osteuropas. Zweitens wächst unsere politische Rolle bereits als Ergebnis dieser Erweiterung. Welche Rolle hätte die EU bei der Bewältigung der Krise in der Ukraine spielen können ohne Polen und Litauen als Mitglieder? Die Tatsache, dass die EU die zentrale Rolle gespielt hat bei der Bewältigung der Krise in der Ukraine ist eine direkte Folge der Erweiterung. Dieser politische Zugewinn ist über jeden Zweifel erhaben.
IP: Die Spaltung in „altes“ und „neues“ Europa aus den Zeiten des Irak-Krieges hat sich schon wieder aufgelöst?
Verheugen: Auch hier hat sich eine Vorhersage bestätigt, die erfahrenere Beobachter schon früh gemacht haben: Diese Kluft hat einen gewissen Schock ausgelöst, und es gibt eine sehr klare Linie bei den wichtigsten Entscheidungsträgern, dass so etwas nicht wieder passieren darf.
IP: Die Ängste der „alten“ Mitgliedsländer vor wachsender Arbeitsplatzkonkurrenz sind nicht verschwunden.
Verheugen: Auf ökonomischem Gebiet ist die von uns vorhergesagte Win-Win-Situation ebenfalls eingetreten. Der starke Wachstumsimpuls ist noch größer ausgefallen als erwartet und hat sich positiv auch auf die Volkswirtschaften der alten Mitgliedsländer ausgewirkt. Die neuen sind auch besser in der Übernahme des Gemeinschaftsrechts. Es gibt überhaupt nur eine Handvoll Mitgliedsländer, die kein Defizit bei der Rechts-angleichung haben, und alle diese Länder sind erst am 1. Mai 2004 beigetreten. Für mich steht heute schon fest, dass diese Erweiterung Europa politisch und wirtschaftlich stärker gemacht hat.
IP: Bei der Bevölkerung scheint das noch nicht so angekommen zu sein. Nach den jüngsten Meinungsumfragen ist die Akzeptanz der Erweiterung am schlechtesten in Deutschland und Österreich, und zwar aus Angst vor Arbeitsplatzverlust.
Verheugen: Dort hatten wir in der Tat ein spezifisches Problem, weil diese Länder sozusagen die Frontstaaten der Erweiterung sind. Aber in Österreich hat sich die Stimmung vollkommen verändert, jedenfalls bei den Eliten, denn jetzt erweist sich, dass Österreich der große Gewinner dieser Erweiterung ist. In Deutschland ist die Lage ein bisschen anders. Dort hat sich im Jahr 2004 ein Krisenbewusstsein gebildet, das aus drei verschiedenen Quellen gespeist wird: erstens sind erst jetzt die Effekte der Globalisierung auch bei den einfachen Leuten angekommen. Zweitens hat die Bevölkerung begriffen, dass die wirtschaftliche Gestaltung der deutschen Einheit misslungen ist und dass das erhebliche Probleme schafft für Wachstum und Beschäftigung. Und drittens hat die EU-Erweiterung stattgefunden. Daraus ist eine Art Verunsicherungssyndrom entstanden. Und es ist sehr schwer für Normalbürger, hier zu differenzieren. Denn differenzierte Betrachtung zeigt, dass die Erweiterung gerade auf wirtschaftlichem Gebiet enorme Vorteile gebracht hat. Deutschland ist das Land, das die höchsten Exportüberschüsse erzielt im Handel mit den neuen Mitgliedsländern. Deutschland wird seinen Marktanteil erheblich ausweiten, wenn jetzt in all diesen Ländern aus den europäischen Strukturfonds die Investitionsmittel fließen. Das lässt sich mit sehr, sehr gutem Gewissen sagen.
IP: Warum werden die Errungenschaften der Erweiterung dann hierzulande so schlecht kommuniziert?
Verheugen: Das müssen Sie nicht mich fragen. Die Kommission kann nicht auch noch die Aufgabe übernehmen, die Politik der Mitgliedsstaaten in den Mitgliedsländern zu erklären. Ich habe oft gesagt, dass ich von den politischen und wirtschaftlichen Eliten in Deutschland mehr erwartet hätte. Es gab von Anfang an eine klare Unterstützung aus der Wirtschaft, von den Gewerkschaften auch. Doch die Politik hat sich erst relativ spät entschlossen, in dieser Frage die Kommunikation mit der Bevölkerung aufzunehmen. Das ist Teil eines größeren Problems: Wir haben heute ein Kommunikationsproblem in ganz Europa in Bezug auf die Gestalt, die Politik und die Ziele der Europäischen Union überhaupt.
IP: Ist Europa für deutsche Politiker keine Herzensangelegenheit mehr?
Verheugen: Es fließt nicht mehr so viel Herzblut. Das hängt damit zusammen, dass jetzt eine Generation von der politischen Bühne abtritt, für die Europa eine Selbstverständlichkeit war. Das reicht von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher bis zu Leuten wie mir, die am Ende des Krieges geboren sind. Ich muss nicht stolz darauf sein, ein überzeugter Europäer zu sein, ich konnte gar nicht anders.
IP: Wie begreifen Sie sich selbst – als europäischen Innenpolitiker deutscher Herkunft oder als deutschen Außenpolitiker in Europa?
Verheugen: Ich bin heute in der Europaklasse. Ich verstehe mich als einen europäischen Politiker, der seine deutsche Herkunft nicht verleugnet, aber nicht mehr eingebunden ist in deutsche Interessen oder deutsche Zwänge, sondern vollkommen unabhängig ist von der deutschen Innenpolitik.
IP: Ihre Landsleute sehen sich jedoch mehrheitlich nicht als Europäer, sondern weiterhin vorrangig als Deutsche. Ein europäisch fühlendes Bürgertum entwickelt sich nirgendwo in der Europäischen Union.
Verheugen: Ich war gerade mit meinem französischen Kollegen Jacques Barrot am deutsch-französischen Kolleg in Bonn, wir haben dort mit Oberstufenschülern diskutiert. Das hat mich ein wenig getröstet, weil die jungen Leute so gut informiert waren und die wirklich wichtigen Fragen stellten: Wie könnt ihr erreichen, dass unsere Zukunft sicher ist – politisch, wirtschaftlich und sozial? Und ich habe gesagt, mit dem Zustand, den wir heute haben, können wir euch das nicht garantieren, weil wir Schwächen haben auf den zentralen Feldern: Wir sind nicht garantiert handlungsfähig in der Außen- und Sicherheitspolitik, wir sind nicht handlungsfähig genug, was eine einheitliche Wirtschafts- und Finanzpolitik angeht, und wir sind nicht handlungsfähig genug, wo es um die Verteidigung des europäischen Zivilisationsmodells geht gegenüber modernen Bedrohungen wie Kriminalität und Terrorismus. Auf diesen drei Feldern verlangen die jungen Leute zu Recht mehr Europa. Es reicht ihnen nicht, dass Leute wie ich sagen, das Entscheidende ist der Frieden. Dass die Völker Europas nicht mehr übereinander herfallen, gilt heute als selbstverständlich. Und darüber können wir froh sein.
IP: Oft gibt es eine gewisse Diskrepanz zwischen den nationalen Politiken, die immer wieder die Oberhand zu gewinnen scheinen, gerade in der Außenpolitik, und der sich konstituierenden europäischen Identität.
Verheugen: Das verändert sich. Was die Außen- und Sicherheitspolitik angeht, eine im Augenblick wirklich zentrale Frage, so war schon der Zustand, den wir heute haben, vor zehn Jahren undenkbar. Es stimmt ja nicht, dass wir gar keine gemeinsame Außenpolitik hätten – im Gegenteil, die ist der Regelfall. Aber der Regelfall fällt nicht auf, nur sein Scheitern. Es ist eine Dynamik eingetreten, die man nur erkennen kann, wenn man sie aus der Distanz betrachtet: Dann sieht man, dass die Dynamik der europäischen Integration ungebrochen ist. Wenn wir die letzten 15 Jahre betrachten, Binnenmarkt, Währungsunion, Erweiterung, Verfassung, Außen- und Sicherheitspolitik, Innen- und Rechtspolitik: Das sind lauter Marksteine in sehr kurzer Zeit. Ich bin sicher, dass sich dieser Prozess verdichten und dass es auf diesen Feldern zu mehr Integration kommen wird. Und das erste Feld wird die Außen- und Sicherheitspolitik sein. Denn mit der Erweiterung ist Europa bereits eine kontinentale Macht geworden. Europa weiß das zwar noch nicht und hat noch keine Ambitionen; aber dass es eine Macht ist, wird die Welt uns schon noch klar machen.
IP:Wird die Aufnahme eines so großen, so armen und so „andersartigen“ Landes wie der Türkei diese Rolle nicht zwangsläufig wieder verwässern?
Verheugen: Im Gegenteil. Die Mitgliedschaft der Türkei bedeutet für die weltpolitische Rolle der EU einen qualitativen Schritt nach vorn. In dem Moment, wo die Türkei Mitglied ist, wird Europa ein globaler Akteur. Da-rauf sind wir allerdings überhaupt nicht vorbereitet – intellektuell nicht, institutionell auch nicht. Die wenigsten Menschen haben auch den Mut, auszusprechen, was das Gebot der Stunde ist: Nämlich, dass sich Europa etablieren muss als eine Weltmacht, die einen Gestaltungsanspruch erhebt. Nicht mit militärischen Mitteln: Wir wollen eine Weltmacht anderen Typs sein – aber schon eine, die ihre Interessen und ihren Gestaltungswillen bei der Lösung globaler Probleme notfalls mit robusten Mitteln schützen kann.
IP: Auch liberale Amerikaner fordern nach dem zweiten Wahlsieg von George W. Bush ein stärkeres globales Engagement der „Zivilmacht“ Europa. Warum tut sich die EU selbst so schwer mit dieser neuen Rolle?
Verheugen: Wir sind viel zu leisetreterisch. Ein paar Dinge sollte man schon mal klarstellen: Die Europäische Union ist bereits der mit Abstand größte Geber von Entwicklungshilfe. Man kann sagen, immer noch nicht genug. Aber hinter uns kommt lange Zeit gar nichts. Zweitens: Wir sind die Avantgarde bei der Verwirklichung international vereinbarter Umweltziele. Vielleicht auch noch nicht genug, aber hinter uns kommt lange Zeit nichts. Wir sind die Region in der Welt, die ihren Markt am stärksten geöffnet hat für die ärmsten Länder der Welt.
IP: Die leiden aber unter der hoch subventionierten EU-Agrarpolitik!
Verheugen: Ja, gerade deshalb ändert sie sich ja. Wir sind die Region der Welt, die die größten Erfolge aufzuweisen hat beim friedlichen Systemwandel. Wenn unsere amerikanischen Freunde von „regime change“ reden, dann sage ich, kommt doch mal und schaut euch an, wie das in der Türkei innerhalb relativ kurzer Zeit gelungen ist, einen semiautoritären Staat umzuwandeln in eine vor Vitalität geradezu berstende Demokratie.
IP: Hat die Türkei das für den EU-Beitritt getan, oder ist es ein genuiner Wandel?
Verheugen: Der Erfolg ist dadurch zustande gekommen, dass wir eine schicksalhafte und glück- liche Kombination haben: Seit zwei Jahren gibt es in der Türkei eine Regierung, die eben nicht zähneknirschend und murrend – wie die frühere Regierung – Reformen angepackt hat, nur weil die Europäer es verlangten. Die Regierung Erdogan hat von Anfang an gesagt: Wir wollen die Verwandlung der Türkei als unser eigenes Programm, weil wir davon überzeugt sind, dass langfristige Stabilität und Sicherheit der Türkei nur zu garantieren sind, wenn sie ein demokratisches, rechtsstaatliches, die Menschenrechte achtendes Land wird. Und er sagt sogar: Ob am Ende des Prozesses die Mitgliedschaft in der EU steht, ist nicht entscheidend, denn bis wir so weit sind, dass ein Beitrittsvertrag ratifiziert werden kann, haben wir die andere Türkei bereits. Dann ist der Prozess unumkehrbar.
IP: Braucht man dafür die EU?
Verheugen: Allerdings braucht man die EU dafür, das kann ich nun wirklich aus fünf Jahren intensivster Arbeit mit der Türkei sagen. Das Land brauchte sozusagen eine Orientierung. Man musste es ein bisschen an die Hand nehmen – wie die anderen neuen Mitgliedsländer auch. Die EU bietet eine Art Leitfaden für die gesamten, Wirtschaft und Gesellschaft umfassenden Reformen. Und sie bietet quasi eine Belohnung dafür. Die Mitgliedschaft wird von den meisten Türken durchaus als Belohnung empfunden, übrigens eher psychologisch als materiell: Für die meisten Türken steht im Vordergrund nicht die Zugehörigkeit zu einer Region, wo Milch und Honig fließen, sondern die sehnlich erwünschte Gleichberechtigung.
IP: Was halten Sie von dem Angebot einer „privilegierten Partnerschaft“?
Verheugen: Die gibt es ja schon! Die privilegierte Partnerschaft ist von denjenigen, die sie vertreten, aus guten Gründen bisher nicht näher beschrieben worden, weil sich dann herausstellen würde, dass alles das, was man der Türkei über das hinaus, was sie sowieso schon hat, noch geben könnte, von den Anhängern der privilegierten Partnerschaft abgelehnt wird. Das ist eine Mogelpackung. Und es ist ein deutsches innen- politisches Thema, kein europäisches.
IP: Angela Merkel hat erklärt, wenn sie Kanzlerin würde, werde sie dafür kämpfen, dass die Türkei nicht Mitglied der Union wird.
Verheugen: Dieser Kampf wird sehr schnell verloren sein. Denn die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ist eine welthistorische Entscheidung. Die ist nicht mehr zu ändern, wenn sie einmal getroffen ist. Ich habe bewusst für die Türkei eine völlig neue Strategie vorgeschlagen, die sehr anders ist als das, was wir mit den bisherigen Beitrittskandidaten gemacht haben. Das wichtigste neue Element dieser Strategie ist die permanente Verbindung zwischen tatsächlichen Reformfortschritten im Lande und Verhandlungen. Das heißt, die Verhandlungen sollen sich entwickeln in dem Tempo und in der Intensität, in der die Reformen tatsächlich verwirklicht werden.
IP: Dennoch formiert sich nun vehementer Widerstand, nicht nur in Deutschland, sondern zum Beispiel auch in Frankreich.
Verheugen: Der französische Präsident hat sich sehr klar für diese Politik entschieden und die privilegierte Partnerschaft regelrecht vom Tisch gefegt. Ich bin überzeugt, dass gerade in Frankreich, wenn das Referendum über die Verfassung vorbei ist, die Türkei-Frage sehr viel gelassener betrachtet wird. Insbesondere dann, wenn sich dort herumspricht, dass die Hauptsorge völlig unbegründet ist, nämlich dass es als Ergebnis des Beitritts der Türkei zu einer verstärkten Islamisierung Frankreichs und der EU kommen würde. Es wird keine Migrationswelle einsetzen als Ergebnis der Erweiterung. Aber lassen Sie mich noch eines sagen: Politiker haben nicht die Aufgabe, den Leuten nach dem Maul zu reden.
IP: Sie tun’s nur manchmal ...
Verheugen: Schon richtig. Aber es ist unsere Aufgabe, ihnen zu sagen, was auf uns zukommt und wie wir uns darauf vorzubereiten haben. Und ich möchte von den deutschen Professoren, die sich so vehement gegen die Türkei-Beitrittsverhandlungen aussprechen, wissen, wie sie sich eigentlich die Zukunft Deutschlands vorstellen angesichts der demographischen Krise, die bereits begonnen hat? Ich möchte von Heinrich August Winkler wirklich mal wissen: Wie sieht er Deutschland in 50 Jahren? Ich verlange von Leuten mit diesem Anspruch, dass sie an die nächsten 50 Jahre denken.
IP: Wir sind da am psychologischen Kern des Problems: In Deutschland gibt es keine Debatte darüber, was unsere wahren Probleme sind. Die demographische Entwicklung zum Beispiel, die Notwendigkeit einer Zuwanderung, wenn die Deutschen keine Kinder mehr bekommen, wird kaum thematisiert.
Verheugen: Darf ich das ganz brutal beantworten? Die Deutschen werden lernen müssen, dass sie in Zukunft nicht mehr allein in ihrem Land leben, sondern zusammen mit anderen Kulturen. Was die Türkei angeht: Je eher wir dafür sorgen, dass dieses große und wichtige Land unsere Überzeugungen teilt und die Menschen dort sich an unseren eigenen Wertvorstellungen orientieren – desto besser für uns! Es ist vollkommen egal, ob jemand an die Heilige Dreifaltigkeit glaubt oder an Allah, solange sich die Religionen gegenseitig tolerieren. Alles andere ist eine Frage von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
IP: Den „clash of civilizations“, den Samuel Huntington voraussagt, halten Sie nicht für zwingend?
Verheugen: Den will ich ja gerade vermeiden. Und Europa kann dazu einen größeren Beitrag leisten als bisher. Man muss in diesem Zusammenhang ein weiteres Instrument nennen, das ich noch mit entwickeln konnte, bevor ich andere Aufgaben übernommen habe: Die europäische Nachbarschaftspolitik, bei der es ja darum geht, diesen ganzen Gürtel von Nachbarstaaten, von Russland bis Marokko, auf dasselbe Niveau von politischer und wirtschaftlicher Stabilität zu bringen, wie wir es jetzt schon haben – ohne dabei gleich mit der Beitrittsperspektive zu winken.
IP: Im Fall Ukraine klopft jetzt aber das Volk an die Tür der EU – das war in den geostrategischen Konzepten bisher nicht vorgesehen.
Verheugen: Es freut mich aber. Ich finde, der Fall Ukraine zeigt zwei Dinge: Erstens, dass es wirklich ein Europa gibt, in dem die Menschen für dieselben Ziele und Ideale auf die Straße gehen. Das andere ist, dass diese Idee Europa eine ungeheure Anziehungskraft hat. Mag sein, dass damit viele unrealistische Hoffnungen verbunden sind. Aber ich kann Ihnen aus der intensiven Kenntnis aller mittel- und osteuropäischen Länder sagen, die entweder schon drin sind oder noch rein wollen: Es geht nicht um Subventionen für die Bauern, es geht nicht um Quoten für die Stahlwerke, es geht nicht in erster Linie um Arbeits- und Studienplätze in unseren Ländern. Es gehtdarum, dass die-se Völker ein für alle Mal wissen wollen, wo sie hingehören. Sie wollen nie wieder in einem Zwischeneuropa zwischen Ost und West landen, wo sie der Spielball der unterschiedlichen Interessen sind.
IP: Wo endet Europa genau im Osten?
Verheugen: Auf absehbare Zeit wird die Ostgrenze der Europäischen Union die Westgrenze der früheren Sowjetunion sein, mit Ausnahme der baltischen Länder, die ja bereits Mitglied sind. Die riesige Grenze, die wir nach dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens haben werden, vom Nordkap bis zum Bosporus, das ist für vorhersehbare Zeit die Grenze der Europäischen Union.
IP: Aber warum dürfen Albanien und die Türkei Mitglied werden – und Moldawien, die Ukraine, Georgien und Armenien nicht?
Verheugen: Diese Länder sind ausgeschlossen von einer Beitrittsperspektive in vorhersehbarer Zeit – nicht für immer! Ich bin ein strikter Gegner der Denkschule, die sagt, es muss eine klare Trennungslinie gezogen werden. Die prominentesten Vertreter dieser Denkrichtung ändern ja ihre Ansicht im Halbjahresrhythmus ...
IP: Sie meinen Joschka Fischer?
Verheugen: Ich denke da eher an Größen der deutschen Publizistik. Man kann nicht vorhersehen, wie die Interessenlage Europas in 20 Jahren sein wird, man kann die Entwicklung in diesen Ländern nicht vorhersehen. Die Ausdehnung des EU-Integrationsmodells muss ja nicht unbedingt das einzig denkbare Modell für die europäische Einigung sein. Meine Phantasie reicht aus, um mir auch andere europäische Ordnungsmodelle vorzustellen.
IP: Der Europarat hat sogar Russland aufgenommen – aber er spielt deshalb auch keine Rolle mehr.
Verheugen: Meine Alternative wäre auch nicht der Europarat, sondern man könnte sich vorstellen, dass man unsere Nachbarn an uns bindet mit einem Modell, das ungefähr dem entspricht, was wir mit Norwegen, Island und Liechtenstein haben. Das hat eine enorme Bedeutung für den Nahen Osten und für das südliche Mittelmeer. Ich will jetzt mal was verraten: Dieser erste Schritt in der europäischen Nachbarschaftspolitik hat ja lange auf sich warten lassen. Ich hatte in Wahrheit Aktionspläne mit sechs, sieben Ländern im Sommer 2004 fertig verhandelt. Es fehlte ein einziges Land, es fehlte Israel. Ich war unter starkem Druck, diese Aktionspläne vorzulegen ohne Israel, was bedeutet hätte, dass Israel praktisch aus dieser Politik herausgefallen wäre. Ich habe mich entschieden dagegen gewehrt. Ich habe gesagt, ich mache es nicht ohne Israel, und das hat dazu geführt, dass ich es nicht mehr fertig bekommen habe in meiner Amtszeit. Aber es ist für mich ein absolut wichtiger Durchbruch, dass es uns dann doch gelungen ist, einen solchen Aktionsplan mit Israel zu vereinbaren. Der hat ja ein politisches Kapitel, und in dem macht Israel Aussagen zu Massenvernichtungswaffen, zu Rechtsstaatlichkeit und Terrorismus, zum Thema Zukunft des Nahost-Konflikts, die bisher nicht gemacht worden sind. Und warum? Weil zum ersten Mal die EU Israel eine Zukunftsperspektive bietet. Als ich zum ersten Mal in Israel war, um diese Politik zu erläutern, bin ich auf viel Skepsis gestoßen, weil meine israelischen Gesprächspartner es einfach nicht glauben wollten.
IP: Was ist diese Zukunftsperspektive?
Verheugen: Dass Israel weitgehend integriert wird in die europäischen wirtschaftlichen Strukturen, voller Teilnehmer am Binnenmarkt wird. Ich würde sehr langfristig nicht einmal die Währungsunion ausschließen. Die Israelis haben mich gefragt: Was heißt das? Ich habe gesagt, das heißt, dass ein Unternehmen aus Haifa sich in Kopenhagen oder Rom genauso frei bewegen kann wie ein Unternehmen aus Atlanta sich frei bewegen kann in Boston oder Seattle. Das ist nun wirklich für Israel ein Stück Zukunftsperspektive, das ihnen bisher gefehlt hat. Die Amerikaner bieten den militärischen Schirm. Aber die wirkliche Zukunftsperspektive für das Land können sie nicht bieten, Amerika ist viel zu weit weg. Die Nachbarn sind wir.
IP: Erster Handelspartner ist inzwischen auch die EU.
Verheugen: Ja, es verändert sich etwas. Und es zeigt, dass es eben tatsächlich möglich ist, einen solchen Stabilitätsring um uns herum aufzubauen. Ich will noch ein Argument sagen. Das klingt vielleicht überraschend aus meinem Mund, aber ich finde schon, dass wir uns ein bisschen Zeit nehmen sollten, das Bisherige zu verdauen: Wir sind ja noch nicht fertig. Mit Rumänien und Bulgarien kommt noch ein ziemlich schwieriger Teil, mit Kroatien und der Türkei auch. Wir brauchen jetzt eine Phase der Konsolidierung. Und in der Politik brauchen wir eine Phase der Konzentration auf die politischen und wirtschaftlichen Ziele der Union selbst. Das ist der Grund, warum ich mich jetzt mit Wirtschaft beschäftige und nicht mehr mit Außenpolitik.
IP: Manche sagen, die Bedenken hätte man früher haben müssen. Verstehen Sie diese Ängste?
Verheugen: Die verstehe ich natürlich. Aber ich habe doch diese Politik nicht erfunden! Da müssen Sie Herrn Kohl fragen, Herrn Brandt, Herrn Schmidt und Herrn Adenauer, warum sie der Türkei seit 1963 immer wieder den Beitritt versprochen haben. Und dann muss man fragen, ob man ein strategisch so wichtiges Land auf Dauer so schäbig behandeln kann, wie die Europäer die Türkei behandelt haben: Versprechungen zu machen, ohne im Geringsten daran zu denken, sie jemals einzulösen!
IP: Helmut Kohl argumentiert jetzt, es sei geradezu zynisch, der Türkei Beitrittsverhandlungen anzubieten, die 15 Jahre dauern würden. Denn die Politiker, die das heute anböten, müssten es dann ja nicht mehr„ausbaden“.
Verheugen: In aller Freundschaft: Ich schätze Helmut Kohl sehr als Europapolitiker. Aber große europäische Integrationsprozesse sind nicht in wenigen Jahren zu machen. Auch die Erweiterung hat 15 Jahre gedauert. Die ersten Versprechen Kohls an die Polen datieren aus dem Jahre 1990, und die Folgen hat er auch nicht ausbaden müssen. Also: Das ist dummes Zeug. Es gibt eine Kontinuität in der internationalen Politik, und es wird immer so sein, dass Politiker mit Entscheidungen zurechtkommen müssen, die andere getroffen haben. Im Fall der Türkei sind wir mit der früheren heuchlerischen Politik ein enormes Risiko eingegangen: Das Risiko nämlich, dass die Türkei ihre Rolle als möglicher Partner der EU bei der friedlichen Bewältigung des Verhältnisses zwischen westlicher Demokratie und der islamischen Welt eben nicht spielen wird, weil wir sie als Partner verlieren. Was würde passieren, wenn wir diese große Aufgabe nicht bewältigen? Der „clash of civilisations“ würde vor unserer Haustür stattfinden, und dann würden uns in 20 Jahren unsere Kinder fragen, warum habt ihr damals die Hand nicht ergriffen, die euch ein wichtiges muslimisches Land wie die Türkei ausgestreckt hat? Diese Fra-ge muss gestellt werden, und deshalb finde ich die deutsche Diskussion sehr einseitig.
IP: Immerhin haben die Gegner des Türkei-Beitritts die Sehnsucht nach einem Europa entdeckt, das sie jetzt verteidigen wollen: Stichwort „Christenclub“.
Verheugen: Der Islam gehört zu Eu-ropa. Wir haben etwa 18 Millionen Muslime als Bürger in den Ländern der EU, wir haben zwei muslimische Staaten in Europa, Albanien und Bosnien. Es ist also völlig unangebracht, den Islam aus Europa verdrängen zu wollen. Und mit der demographischen Entwicklung kommt ein noch viel intensiveres Zusammenleben mit der benach- barten islamischen Kultur auf uns zu. Das ist völlig unvermeidlich. Man sollte nicht versuchen, aus diesem Thema einen billigen Wahlkampfschlager zu machen, sondern vielmehr versuchen, den Deutschen den Ernst ihrer Lage zu erklären.
IP: Ist Europa ein multikulturelles Projekt?
Verheugen: Ich habe den Ausdruck „multikulturell“ noch nie gebraucht und tue das auch jetzt nicht, weil ich ihn irreführend und oberflächlich finde. Es geht nicht um „Multikulti“, sondern es geht um das tolerante Zusammenleben von Menschen mit verschiedenem religiösen und kulturellen Hintergrund. Ich bin gegen jede Form von Zwangsintegration. Ich bin dafür, dass jeder seiner Identität entsprechend in Europa leben soll, aber dass wir etwas gemeinsam haben müssen, ganz egal ob wir Christen, Juden, Muslime oder gar nichts sind: das klare Bekenntnis zu den Errungenschaften der europäischen Aufklärung. Daran führt kein Weg vorbei.
IP: Wie wird Europa aussehen, falls die Türkei – in 10 bis 15 Jahren – tatsächlich beitritt: Wird das ein Kerneuropa sein, ein Direktorium, ein Staat im Werden?
Verheugen: Das glaube ich eher nicht. Ob es eine Avantgarde geben wird – ich bevorzuge da den französischen Ausdruck – wird weder von der jetzt vollzogenen Erweiterung noch vom Beitritt der Türkei abhängen, sondern von der Frage, ob wir die Integration in der Substanz noch voranbringen oder nicht. Und ich sage Ihnen, Fortschritte in der Vertiefung der Integration werden nicht scheitern an den neuen Mitgliedern – auch an der Türkei nicht; die Probleme, die wir mit der Vertiefung haben, sind die Folgeerscheinungen früherer Erweiterungen.
IP: Sie spielen auf Großbritannien an?
Verheugen: Zum Beispiel. Mit Teilen der britischen Öffentlichkeit und der politischen Klasse haben wir ein manifestes Problem. Wir werden aber sehr schnell sehen, wo wir sind: Da steht die Verfassungsfrage vor uns, und das Ja oder Nein zur Verfassung wird eine ungeheure symbolische Bedeutung haben. Denn die Tatsache, dass wir überhaupt ein Projekt „europäische Verfassung“ haben, hat eine so enorme Bedeutung und würde im Erfolgsfall ein so starkes politisches Momentum schaffen, dass ein Scheitern außerordentlich fatal wäre. Und das könnte zur Folge haben, dass solche Überlegungen wie Avantgarde oder Kerneu-ropa an Boden gewinnen.
IP: Was passiert, wenn 24 EU-Länder die Verfassung ratifizieren und ein Land sie ablehnt?
Verheugen: Das weiß ich nicht. Niemand weiß das, es gibt ja keinen Plan B. Die Frage wird Ihnen bis Ende 2006 niemand beantworten können und wollen, denn wenn man diese Antwort heute geben würde, wäre ja schon klar, dass das Projekt scheitert. Ende 2006 wird der Rat betrachten, wie der Stand der Geschäfte ist; zu welchem Ergebnis man dann kommt, ist für mich vollkommen unvorhersehbar. Ich hoffe, dass Tony Blair nach einer gewonnenen Wahl in Großbritannien mit erneuerter Autorität vielleicht doch die Skeptiker zum Nachdenken bringen kann.
IP: Und trotz dieser Probleme glauben Sie, dass Europa ein Global Player wird?
Verheugen: Sehr langsam. Ich bin sehr unzufrieden mit dem Tempo. Und ich hoffe sehr, dass die Verfassung in Kraft tritt, weil sie Europa handlungsfähiger machen wird. Der europäische Außenminister, so wie er in der Verfassung konstruiert ist, bietet zwar noch nicht die Gewähr dafür, dass es die einheitliche europäische Telefonnummer für Außenpolitik gibt. Aber dieses Amt ist unglaublich stark ausgestattet, denn es vereinigt drei Posten in sich: die gesamte Stärke der Kommission auf dem Feld der internationalen Beziehungen, und die darf man nicht unterschätzen; zweitens den Hohen Bevollmächtigten der Mitgliedsstaaten für die Außenpolitik – also denjenigen, der nicht nur umsetzt, sondern initiiert, was an gemeinsamer Außenpolitik gemacht wird; und schließlich den Vorsitzenden des Außenministerrats. Das ist eine so starke Stellung, dass es einem einzelnen Mitgliedsstaat sehr schwer fallen wird, diesem Sog zu widerstehen. Trotzdem werden wir noch mehr tun müssen. Der Global Player bedeutet ja, dass wir in der Lage sein müssen, eine echte Partnerschaft mit den USA zu etablieren. Dafür ist sicher vieles von Amerika zu verlangen; ich rede lieber darüber, was wir selber tun müssen, um den Anspruch auf -gleichberechtigte Partnerschaft erheben zu können. Da geht es um gemeinsame Verteidigung, um höhere Rüstungseffizienz und so weiter.
IP: Ist es für Europa hilfreich, wenn die deutsche Regierung um einen ständigen deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat kämpft und sogar ein Vetorecht fordert?
Verheugen: Ich habe das nicht zu kommentieren. Mir fällt an dieser Diskussion nur eines auf: Das Argument gegen diese deutschen Bemühungen, das störe sozusagen Europa, weil eigentlich ein gemeinsamer europäischer Sitz anzustreben sei – mit Verlaub, das ist ein Ammenmärchen. Das werden wir als Allerletztes kriegen. Ein gemeinsamer europäischer Sitz im UN-Sicherheitsrat setzt eine ganz andere europäische Konstruktion voraus, denn dann kann die EU nicht mehr ein Staatenbund sein, sondern dann sind wir ein Staat. Und von diesem Zustand sind wir sehr weit entfernt. Ich persönlich würde eine andere Lösung vorziehen: Vielleicht könnte man sich mit Frankreich verständigen auf die gemeinsame Wahrnehmung des französischen Sitzes. Das fände ich ganz pfiffig. Und im Übrigen habe ich schon Verständnis für eine Regierung, die sagt, wir sind zwar das zweit- oder drittwichtigste Mitgliedsland der UN, aber wir haben nichts zu sagen. Da die Welt sich neu geordnet hat nach 1989, ist das für mich ein Stück Wahr-nehmung einer außenpolitischen Bewegungsfreiheit, die Deutschland eben erst jetzt gewonnen hat.
IP: Hat Deutschland schon richtig begriffen, wie die Welt sich neu geordnet hat?
Verheugen: Nein, ganz bestimmt nicht. Außenpolitik ist kein wirkliches deutsches Thema. Die deutsche Politik ist aufgeregt, manchmal geradezu hysterisch, kurzatmig und bei den großen strategischen Fragen leider ziemlich oberflächlich.
Das Gespräch führten Sabine Rosenbladt und Alois Berger.
Internationale Politik 1, Januar 2005, S. 34 - 43.