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27. Nov. 2011

Europa der Parlamente

Wie wir die EU stärker und für ihre Bürger attraktiver machen können

Die Euro-Schuldenkrise hat es offengelegt: Die Europäische Union leidet unter erheblichen politischen, wirtschaftlichen und strukturellen Defiziten. Die Politik in Europa steht vor der größten Herausforderung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Es geht darum, eine neue Idee von Europa zu entwickeln und das Verhältnis zwischen Nationalstaaten und EU besser auszubalancieren.

Nicht weniger, mehr Europa ist die richtige Antwort auf die Krise. Die weitere politische Integration ist dabei jedoch kein Selbstzweck, sondern dient der Sicherung unseres Wohlstands in Deutschland und im gesamten Währungsraum. Unsere gemeinsame Währung braucht eine streng kontrollierte Haushalts- und Finanzpolitik, flankiert von einer koordinierten Wirtschaftspolitik.

Der Euro ist die einzige Währung auf der Welt, der kein einheitlicher Finanz- und Wirtschaftsraum gegenübersteht. Unser Ziel muss es sein, dass sich alle Mitgliedstaaten zu einer Stabilitätskultur verpflichten, wie wir sie unter anderem in Deutschland kennen. Gesunde Haushalte und Wettbewerbsfähigkeit sind Bedingungen für einen langfristig stabilen Euro. Die Einhaltung strikter haushaltspolitischer Regeln muss künftig von den europäischen Institutionen konsequent kontrolliert, deren Verletzung auch sanktioniert werden.

Wir müssen hier noch weiter gehen als bisher. Seit diesem Jahr legen die Regierungen die nationalen Haushalte der EU-Kommission vor, die dann aber nur unverbindliche Empfehlungen abgeben kann. Wir brauchen hier mehr Verbindlichkeit und Kontrolle. Staaten, die sich nicht an die Regeln der Haushaltsdisziplin halten, müssen künftig vor dem Europäischen Gerichtshof verklagt werden können. Es muss eine europarechtlich verbindliche Schuldenbremse für alle Mitgliedstaaten eingeführt werden. Nationale Schuldenbremsen sind nur ein erster, wenn auch wichtiger Schritt in diese Richtung. Europa muss um seiner Zukunft willen zu einer Stabilitätsunion werden.

Maßstab für die notwendigen Angleichungen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik können nur die Staaten sein, deren Wirtschaft sich in den letzten Jahren erfolgreich im internationalen Wettbewerb behauptet hat. Also müssen wir die Situation in den einzelnen Mitgliedstaaten im Blick behalten. Denn man stärkt die Schwachen nicht, indem man die Starken schwächt. Genau dies wäre aber bei Euro-Bonds der Fall. Auf absehbare Zeit bilden sie keinen tragfähigen Ansatz zur Lösung der Probleme, weil sie jede Stabilitätspolitik untergraben. Die Anreize für dringend erforderliche Reformen in krisengeplagten Staaten fielen weg, wenn wir die Schulden auf diese Weise sozialisieren würden. Euro-Bonds verstärken das Schuldenproblem nur.

Brüssel und die Vogelschutzgebiete

Auch das erneuerte Europa muss sich beschränken. Die Nationalstaaten haben eine Zukunft. Sie werden den Menschen auch künftig Heimat sein. Es muss daher eine neue Balance in der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten gefunden werden. Denn Europa muss sich um die wirklich wichtigen Fragen wie die Euro-Stabilität kümmern, nicht aber um jedes Vogelschutzgebiet. Daher müssen wir dem Subsidiaritätsprinzip seine volle Wirkung verleihen. So machen wir Europa in den entscheidenden Fragen handlungsfähiger.

Natürlich bedürfen alle Entscheidungen hin zu diesem neuen Europa einer engen Rückkopplung mit den nationalen Parlamenten, aber auch mit dem Europäischen Parlament. Entscheidungen wurden vor allem in jüngerer Zeit vermehrt von den Staats- und Regierungschefs getroffen, unter anderem in Form von Selbstverpflichtungen oder Absprachen.

Der Bundestag hat hier selbst eine Kehrtwende eingeleitet. Das Begleitgesetz zum Rettungsschirm EFSF sieht eine in Europafragen bisher nie dagewesene Beteiligung des Bundestags vor. Im Grundsatz braucht die Bundesregierung bei allen Entscheidungen im Zusammenhang mit dem EFSF ein Mandat des Parlaments oder seiner Gremien.

Damit wird die Bundesregierung nicht an eine Kette gelegt. Das Begleitgesetz ist schlicht Ausdruck der Überzeugung, dass bei allen Entscheidungen mit Auswirkungen auf die Haushalte das Parlament das letzte Wort haben muss. Das Haushaltsrecht darf nicht ausgehöhlt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat das zuletzt noch einmal bestätigt.

Das parlamentarische Mandat des Bundestags schwächt dabei nicht die deutsche Position in Brüssel, sondern stärkt ihre Legitimation. Und wenn wir die Rechte des Parlaments berücksichtigen, können wir dazu beitragen, die Qualität von Entscheidungen zu verbessern. Denn eine solche beständige Rückkoppelung entschleunigt Verhandlungen auf Regierungsebene zwangsläufig; eine Entschleunigung, die zu besserer Abwägung führen kann. Über wichtige Fragen einmal mehr nachzudenken hat noch nie geschadet.

Allerdings muss darauf geachtet werden, dass der Parlamentsvorbehalt immer so ausgestaltet wird, dass die Entscheidungen rechtzeitig fallen können. Hier ist der Bundestag gefordert, sich ein vernünftiges Verfahren zu geben. Eilbedürftige Entscheidungen müssen im Zweifelsfall auch vom Bundestag und seinen Gremien rasch gefällt werden. Der Bundestag muss seine Arbeitsweise diesen Erfordernissen anpassen. Grundsätzliche Fragen wird er dabei im Plenum entscheiden müssen.

Dabei ist zu beachten, dass es Fälle geben wird, in denen die Beratungen vertraulich bleiben müssen, um den finanzpolitischen Maßnahmen nicht die Schlagkraft zu nehmen. Jeder denkbare Anwendungsfall des Rettungsschirms wird in einem Spannungsverhältnis zwischen dem Gebot der Transparenz und dem der Praktikabilität stehen. Immer wieder muss dieses Verhältnis neu aufgelöst werden.

Brücke zum Bürger

Dem deutschen Parlamentsvorbehalt muss auch in Brüssel Rechnung getragen werden. Heute müssen daher, anders als in der Vergangenheit, Beschlussvorlagen für Gipfel zum Rettungsschirm weit rascher vorliegen als in der Vergangenheit. Die EU- und Eurozonen-Administration muss dabei stets bedenken, dass in Deutschland vor Entscheidungen rund um den Rettungsschirm der Bundestag befragt werden muss.

Die Parlamente sind aber nicht nur beim Rettungsschirm EFSF gefragt. Sie müssen sich auch aktiv an der Diskussion über die anstehenden weitergehenden Reformen beteiligen können. Nur dann wird Europa auch wirklich ein Europa der Parlamente und nicht nur der Regierungen.

Um den Reformprozess aktiv zu gestalten, müssen die nationalen Parlamente noch enger zusammenarbeiten, so wie es seit 2009 die europäischen Verträge vorsehen. Dazu dienen interparlamentarische Konferenzen und Gremien, aber auch eine enge Zusammenarbeit der Parteienfamilien in Europa. Wenn Europa ein Europa der Bürger sein soll, müssen der Bundestag und die übrigen nationalen Parlamente hier von Anfang an mitgestalten. Sie repräsentieren die Bürger und tragen besondere Verantwortung, wenn es darum geht, Europa zu reformieren.

Europa muss für die Bürger stärker erlebbar sein. Daher sollten wir auch über eine engere Verzahnung des Europäischen Parlaments mit den nationalen Parlamenten nachdenken. Hier ist etwa an regelmäßige gemeinsame Sitzungen der Präsidien oder von Ausschüssen des Bundestags und des Europaparlaments zu denken, so wie es heute schon gelegentlich praktiziert wird.

Gleichzeitig sind alle europäischen Institutionen aufgefordert, sich stärker den Bürgern in den einzelnen Mitgliedstaaten zu öffnen, ihnen ihre Arbeit und die Europäische Union zu vermitteln, zum Beispiel durch Veranstaltungen vor Ort in Schulen oder in anderen öffentlichen Einrichtungen. Bei der Vermittlung Europas kommt den nationalen Parlamenten und jedem einzelnen Parlamentarier eine besondere Verantwortung zu. Sie bilden die Brücke zum Bürger, indem sie europapolitische Entwicklungen erläutern und umgekehrt den Wählerwillen in die europapolitischen Prozesse einbringen.

Es sind jetzt Mut und Tatkraft gefordert, Europa und die europäischen Verträge fortzuentwickeln und europäische Visionen neu zu beleben. Europa ist unsere Antwort auf eine Welt, in der sich die Gewichte verschieben, in der Staaten mit anderen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ordnungen an Macht gewinnen. Gemeinsam ist Europa in diesem Wettbewerb stärker. Nur eine geeinte europäische Politik kann unsere Werteordnung und unsere Antworten auf weltumspannende Probleme wie Klimaschutz, Migration oder Energiesicherheit erfolgreich vertreten. Nur indem wir unsere Kompetenzen zusammenbringen, wahren wir unseren Einfluss. Deutschland braucht ein stärkeres Europa. Auch, damit es uns in Deutschland weiter gut gehen kann.

Volker Kauder ist Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

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