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01. Sep 2012

Europa in der Demokratie-Falle

Wer kontrolliert die gemeinsamen Entscheidungen?

Die Finanzkrise treibt Europas Integration voran – genauer: die Integration der Euro-Zone, sie sich mit immer verbindlicheren Absprachen von der allgemeinen Entwicklung in der Union abkoppelt. Mit dieser wachsenden Spaltung ist das Europäische Parlament bei vielen Entscheidungen nicht mehr eingebunden. Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble schließt die Schaffung eines Parlaments nur für die Eurozone nicht mehr aus. Droht ein demokratisches Vakuum in der EU?

Der 29. Juni 2012 war ein bemerkenswerter Tag für die EU: Nach den Gipfelverhandlungen in Brüssel verkündete Italiens Regierungschef Mario Monti einen angeblichen Sieg der Südländer beim Einsatz neuer finanzieller Hilfsinstrumente und sorgte damit für Empörung in der deutschen Öffentlichkeit. Mit der noch am selben Abend stattfindenden Abstimmung über Fiskalpakt und ESM im Bundestag erzwangen die Oppositionsparteien, dass die EU-Verhandlungsstrategie einer deutschen Regierung erstmals direkt innenpolitischen Zwängen unterworfen werden musste.

Und am bedeutsamsten: Der Gipfel hat die Frage der politischen Legitimität einer weiteren europäischen Integration gestellt, denn die 27 EU-Regierungen erteilten den Spitzen von Rat, Kommission, Europäischer Zen­tralbank und Euro-Gruppe den Auftrag, bis Dezember Vorstellungen über die Weiterentwicklung der EU und vor allem der Euro-Zone vorzulegen.

Die Krise in der Euro-Zone beschleunigt also nicht nur den Integra­tionsprozess. Mit der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Euro-Gruppe sollen zwei Einrichtungen Vorschläge machen, die keinerlei Zuständigkeit für demokratische Entscheidungsprozesse haben, sondern ausschließlich der Geld- und Finanzpolitik verpflichtet sein sollten. Das ist, als sollte die Bundesbank eine Reform des föderalen Systems vorschlagen.

Noch gravierender ist aber die gewollte Abwesenheit des Europäischen Parlaments in diesem Diskussions­prozess. Zwar sicherte EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy dem Parlament zu, in dem Verfahren konsultiert zu werden. Aber die offizielle Ausgrenzung des Parlaments durch die 27 EU-Regierungen ist das deutlichste Signal, dass der Integrationsprozess in eine Sackgasse zu geraten droht. Dafür gibt es einige Gründe und zwei Hauptverantwortliche: Frankreich und Großbritannien.

Frankreich spaltet die Union

Seit der Einführung des Euro bestanden französische Regierungen darauf, dass eine gemeinsame Währung auch eine engere wirtschafts- und finanz­politische Koordinierung der teilnehmenden Länder benötigt. Tatsächlich hat die Finanz- und Schuldenkrise in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Währungsunion nicht funktionieren kann, wenn es keine verbindlichen und sanktionierbaren Absprachen unter den 17 Euro-Mitgliedern gibt. Deshalb ist Bundeskanzlerin Angela Merkel Schritt für Schritt auf den schon lange gehegten französischen Wunsch eingegangen, die gesonderte Integration der Euro-Zone voranzutreiben.

Berlin hat sich lange dagegen gesträubt, weil man sich keinerlei Illusionen über die Motive in Paris machte. Sowohl Jacques Chirac als auch Nicolas Sarkozy sahen in einer engeren Koordinierung in der Euro-Zone auch die Möglichkeit einer politischen Einflussnahme auf die unabhängige EZB – was Deutschland stets ablehnte. Zudem erkannten die Regierungen unter den Kanzlern Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel eine europapolitische Gefahr für Deutschland: Die traditionellen wirtschafts- und finanzpolitischen Verbündeten wie Schweden, Großbritannien, Polen und andere osteuropäische Staaten sind bei Eurozonen-­Absprachen nicht beteiligt. In der Euro-Gruppe dominieren dagegen die Nehmerstaaten – die den Ruf des Euro in den vergangenen Jahren derart ramponiert haben, dass in naher Zukunft keine weiteren Aufnahmen in die Währungsunion zu erwarten sind. Deshalb, und weil Deutschland den gemeinsamen EU-Vertrag und die EU-Institutionen als wichtiges Bindeglied zwischen den selbstbewussten Nationalstaaten sah, hatte Berlin die gesamte EU so lange wie möglich zusammenhalten wollen.

Diese Linie ließ sich in der Krise aber nicht mehr durchhalten. Der Preis für die Naivität, mit der der Euro als Schönwetterwährung eingeführt wurde, muss heute mit dem Streben nach sehr strikten Sanktionen, Kontrollen und Transparenz bezahlt werden, denen sich zumindest die 17 Euro-Staaten unterwerfen müssen. Zunächst hat die Bundesregierung den Stabilitätspakt verschärft, unter anderem mit dem europäischen Semester, einem Baustein des so genannten „Sixpacks“, der nationale Regierungen immerhin zwingt, nationale Haushaltsentwürfe in Brüssel zur Begutachtung vorzulegen. Weil dies aber immer noch kein Vertrauen an den Finanzmärkten schuf und keine Sanktionsmöglichkeiten bot, folgte der Fiskalpakt als neuer völkerrechtlicher Vertrag. Dieser verlangt, dass nationale Schuldenbremsen nach dem deutschen Vorbild in den Vertragsländern festgeschrieben werden müssen.

Im Gegenzug für diese Verbind­lichkeit stimmte die Bundesrepublik nicht nur der Ausweitung der Solidaritätsinstrumente wie der Gründung des dauer­haften Euro-Rettungsschirms ESM zu. Sie akzeptierte auch, dass die Euro-Zone eine eigene organisatorische Struktur erhält und sich damit sichtbar von der EU abkoppelt. Es wird künftig nicht nur eigene Treffen der 17 Euro-Finanzminister geben (Euro-Gruppe), sondern eben auch ­eigene Gipfel der 17 Euro-Staats- und Regierungschefs – und das nicht nur in Krisenzeiten. Zwar hat die Bundesregierung erreicht, dass der Fiskalpakt am Ende von 25 der 27 EU-Regierungen unterschrieben wurde. Aber der Kern für eine Union in der Union ist geschaffen – auf dem Juni-Gipfel interessierte es nach dem Eurogruppen-Treffen niemanden mehr, was im Kreis aller EU-Mitglieder sonst noch besprochen worden war.

Schlimmer noch: Der frühere französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy hatte verhindert, dass Gemeinschaftsorgane wie EU-Kommission und Europäischer Gerichtshof (EuGH) wirklich integrative Macht erhalten. Bundeskanzlerin Angela Merkel scheiterte mit dem Versuch, den EuGH notfalls auch nationale Haushalte stoppen zu lassen, wenn diese gegen die Auflagen des Stabilitäts- und des Fiskalpakts verstoßen. Sarkozy setzte einen klaren intergouvernementalen Ansatz durch, in dem der EuGH nur prüfen darf, ob die Länder national die Schuldenbremsen auch angemessen verankert haben. Die Oberhoheit haben weiter die Nationalstaaten.

Großbritannien vertieft die Spaltung

Frankreich forcierte die Abspaltung der Euro-Zone; Großbritannien vertiefte sie systematisch. Schon vor der Schuldenkrise haben sich britische Regierungen jahrzehntelang als Verzögerer weiterer Integrationsschritte betätigt. Das Ergebnis ist eine EU, die wechselweise mit „Avantgarde-Europa“, „Kerneuropa“, einem „Europa à la carte“ oder einem „Europa der konzentrischen Kreise“ beschrieben wird. So haben sich im Schengen-Abkommen Länder zusammengeschlossen, die auf Passkontrollen verzichten. In der Euro-Zone haben 17 Staaten eine gemeinsame Währung eingeführt. Und im Fiskalpakt versammeln sich die Regierungen, die ernsthaft Abschied von der Politik der Hochverschuldung nehmen wollen. Großbritannien hat nicht nur an keinem dieser Integrationsschritte teilgenommen. Die konservative Regierung David Camerons hat sogar verhindert, dass der Fiskalpakt Teil der EU-Verträge werden kann.

Wachsendes Demokratiedefizit

Die Folge dieser Politik ist ein wachsendes Demokratiedefizit in der EU. Denn mit der wachsenden Spaltung der EU ist das Europäische Parlament bei vielen Entscheidungen gar nicht mehr eingebunden, schließlich kann es nur im Rahmen der alle 27 Regierungen betreffenden Regeln tätig werden. Das ohnehin komplizierte Institutionengefüge der EU gerät so vollends in Schräglage. Derzeit werden in der Euro-Zone die nächsten Integrationsschritte hin zu einer verbindlichen Sozial-, Arbeitsmarkt- und Forschungspolitik geplant, die wahrscheinlich dank Frankreich und Großbritannien wieder nur mit intergouvernementalen Abkommen außerhalb der EU-Verträge vereinbart werden können. Deshalb ist zu fragen: Wer soll die ­demokratische Kontrolle der gemeinsamen Entscheidungen von Regierungen der EU-Staaten übernehmen?

Dass es hier ernste Defizite gibt, bemängeln viele deutsche Politiker. „Diese Frage wird immer zwingender. Denn derzeit übernimmt der Bundestag die Kontrolle“, meint der stellvertretende Unionsfraktionschef und Europa-Experte Michael Meister. Vor allem im Hinblick auf die stark ausgeweiteten Rechte im Zuge der Hilfsinstrumente für andere Euro-Staaten sei dies aber „auf Dauer nicht aus einem nationalen Parlament heraus zu leisten“. Auch die entscheidende rechtliche Kontrolle und Hürde liegt mit dem Bundesverfassungsgericht weiter auf nationaler Ebene.  

In Deutschland wird die Frage der demokratischen Legitimation zwar durchaus breit diskutiert, aber fast immer begrenzt auf das eigene Land. Das zeigt sich auch in der Debatte, ob die Regierung mit den Regelungen zur Bewältigung der Schuldenkrise bereits an die Grenzen des Grundgesetzes gegangen sei. Derzeit wird ein Referendum diskutiert, mit dem die Deutschen weiteren Kompetenzübertragungen auf die europäische Ebene und einer dafür notwendigen Reform des Grundgesetzes zustimmen sollen.

Dabei ist die nationale Ebene nur eines der Probleme. Entscheidend für die Frage einer Kompetenzübertragung ist auch, an wen Regelungsgewalt, Kontrolle und demokratische Legitimation überhaupt übergeben werden sollen. Zwar gilt weiter der Grundsatz, dass rechtsstaatliche Kontrolle auf der Ebene der Kompetenzen liegen sollte. Aber was geschieht, wenn es überhaupt kein gewähltes Gremium mehr gibt, weil das Europäische Parlament im neuen Flickwerk-Europa als zuständiges Parlament ausfällt? „Es ist noch völlig offen, wie diese demokratische Kontrolle aussehen könnte“, räumt Meister ein.

Experten diskutieren derzeit einige Auswege, die aber allesamt schwer umsetzbar erscheinen. Hier ein Überblick:

•    Das Europäische Parlament 
erhält die Aufsicht
So wie der EuGH zumindest eine eingeschränkte Zuständigkeit beim Fiskalpakt erhält, könnte man das Europäische Parlament auch dort einschalten, wo es formell nicht zuständig ist. Da sich die Fronten zwischen Großbritannien und den anderen EU-Staaten jedoch weiter verhärten, ist dies sehr unwahrscheinlich. „Es kann und wird nicht so sein, dass ein Gremium mit britischen Abgeordneten über ­Politiken entscheidet, an denen Großbritannien gar nicht teilnimmt“, meint ein führender deutscher Politiker kategorisch, der sich nur anonym äußern will. Hier spielt die Erfahrung mit, dass die britischen Konservativen die christdemokratische Parteienfamilie der EVP verlassen haben und sich in keine Absprachen einbinden lassen.

•    Abgespecktes EU-Parlament
Um den Anschein zu wahren, dass es noch so etwas wie ein gemeinsames Europa gibt, könnte eine verkleinerte Version des Parlaments zusammentreten – ohne die Abgeordneten aus Ländern, die an gemeinsamen Politiken nicht teilnehmen. Dafür spräche, dass das Europäische Parlament (EP) damit weiter eingebunden wäre. Dagegen spricht die Praktikabilität. Denn die „konzentrischen Kreise“ der EU sind sehr verschieden: So machen beim Fiskalpakt 25 der 27 Staaten mit, bei der Währungsunion derzeit aber nur 17 Staaten. Zudem droht eine weitere Aufweichung der EU-Verträge. Offizielles Ziel ist immer noch, dass der Fiskalpakt nach fünf Jahren in den EU-Vertrag übertragen wird – sollte dann in London entweder ein Umdenken oder ein Regierungswechsel stattgefunden haben. Akzeptiert man die Spaltung der EU durch die Spaltung des EP, könnte sich die Kluft noch vergrößern.

•    Versammlung der Nationalparlamente
Bei diesem Modell wird eine Art Versammlung der Nationalparlamente gebildet – speziell für die Euro-Zone oder für einen Kreis der Euro-Staaten und der Unterzeichner des Fiskalpakts –, die sich zum Beispiel über weitergehende Absprachen in der Sozial- und Steuerpolitik verständigen könnte. Dafür spricht, dass dieser Weg der Gefühlslage vieler Staats- und ­Regierungschefs entgegenkäme, die dem EP immer noch keine ernsthafte Kontrolle über zentrale Politikbereiche zubilligen wollen. Nationale Vorbehalte und die Angst vor einem europäischen Bundesstaat könnten so am ehesten aufgegriffen und besänftigt werden. Gleichzeitig würde eine neue demokratische Kontrolle auf der Ebene geschaffen werden, in der derzeit immer mehr Kompetenzen abgeladen werden – der Euro-Zone.
Dagegen sprechen aber auch hier praktische Probleme. Denn in Wahrheit wäre diese Versammlung wenig mehr als eine Kopie der bisherigen nationalen Kontrollen. Es ist kaum denkbar, dass sich Bundestagsabgeordnete in einem gemeinsamen Gremium anders verhalten als im nationalen Parlament. Und ebenso schwer ist vorstellbar, dass sich der Bundestag mit seinem ausgeprägten Selbstbewusstsein überstimmen lassen würde – am Ende wäre die entscheidende Instanz doch weiterhin das nationale Parlament.

•    Großbritannien verlässt die EU
Dieser Weg mag provokant klingen, erscheint aber angesichts des starken Drängens britischer Konservativer auf ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft nicht ausgeschlossen (siehe dazu den Beitrag von Hans Kundnani, S. 58 ff.). Tatsächlich könnte dieser Schritt den kontinentaleuropäischen Staaten erlauben, eine wirklich gemeinsame, stärker integrierte Zukunft zu planen – sofern sie dies noch wollen. Es würde die Trittbrettfahrer-Mentalität in der EU beseitigen, die einige Regierungen immer wieder dazu verführt hat, sich gewissermaßen im Windschatten Londons Wettbewerbsvorteile durch Unterregulierung oder erpresste Sonderrechte zu verschaffen. Es wäre künftig wesentlich leichter möglich, den EU-Vertrag zu ändern und dem Europäischen Parlament die parlamentarischen Kontrollrechte zu übertragen.
Die Krux: Ein Austritt Großbritanniens wäre ein verheerendes Zeichen für die EU und würde noch ganz andere Debatten über Rückabwicklungen europäischer Kompetenzen auslösen. Premierminister Cameron rechnet allerdings mit einem positiven Votum für die EU bei einem Referendum, weil die Briten am Ende doch begreifen würden, wie wichtig der Binnenmarkt und die Zugehörigkeit zur EU für sie seien.

•    Die Placebo-Debatte
Diskutiert werden auch verschiedene Hilfskonstruktionen, um das Demokratiedefizit zu beseitigen oder zumindest zu lindern. Finanzminister Wolfgang Schäuble hat schon 2009 die direkte Wahl des EU-Ratspräsidenten vorgeschlagen. Bundeskanzlerin Angela Merkel wiederum hat die Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten angeregt und eine sehr klare Vorstellung von einer neuen Konstruktion der EU entworfen. Danach sollen die EU-Kommission eine Art Regierung und der EU-Rat eine zweite Kammer neben dem Europäischen Parlament werden. Das Dilemma: Schäubles Vorschlag löst das Problem nicht, wie Volksvertreter eine parlamentarische Kon­trolle ausüben sollen. Und Merkels Idee erscheint auf ab­sehbare Zeit nicht realisierbar. Dennoch zeigen beide Vorschläge, dass der wichtigste EU-Staat die Union tatsächlich weiter in Richtung einer bundesstaatlichen Kon­struktion entwickeln will.

•    Es bleibt alles beim Alten
Es gibt eine weitere Variante für den Umgang mit den Problemen: alles beim Alten zu belassen. Dafür spricht die politische Erfahrung. Im extrem komplizierten politischen und juristischen Konstrukt der EU ist es zu schwierig, etwas Neues aufzubauen. Es gibt so viele widersprüchliche nationale Interessen, dass jede der oben genannten Lösungen aus unterschiedlichen Gründen torpediert würde.
Der Nachteil dieses Weges: Die Europäische Union und vor allem die Euro-Zone würden sich weiter und immer stärker in einem von demokratischen Kontrollen freien Raum entwickeln. Damit würde das eintreten, was die Gegner der EU stets unterstellt haben. Die groß­artige Idee der Überwindung nationaler Egoismen in einem so lange von Kriegen geplagten Europa würde damit diskreditiert.

Dr. ANDREAS RINKE ist politischer Chefkorrespondent der Nachrichtenagentur Reuters in Berlin.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 46-51

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