Europa am Ende?
Drei Neuerscheinungen und die Frage, ob die EU noch zu retten ist
„Lass fahren“, möchte man der Bundeskanzlerin nach Lektüre drei neuer Europa-Bücher zurufen. Die Mühen Angela Merkels, die EU zusammenzuhalten, sind vergebens; gescheitert ist der Versuch, der Kleinarbeit am Status quo visionären Anstrich zu geben. Europa ist an ein Ende gelangt, so lautet das Fazit zu den hier behandelten Publikationen. Nur, an welches?
Dass sich der europäische Integrationsprozess auf sein Ende zubewegt, hat aus Sicht des Verfassungsrechtlers Dieter Grimm vor allem damit zu tun, dass dieser Prozess die entscheidenden Hürden – Legitimation, Souveränität, Partizipation – niemals wird überspringen können, jedenfalls nicht ohne einen unmittelbaren Willensakt eines jeden seiner Völker. Aus Sicht der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot ist der Versuch gescheitert, Europa über die Integration von Staaten zu bauen – gescheitert, weil er scheitern musste im Verzicht auf eine Beseitigung der Nation. Und der in Cambridge lehrende Historiker Brendan Simms und sein Mitstreiter Benjamin Zeeb diagnostizieren, Europa werde untergehen wie einst das Heilige Römische Reich deutscher Nation. Scheitern werde die EU an der Unfähigkeit, eine starke, zentrale Staatlichkeit herauszubilden, oder besser: am Unwillen Deutschlands, eine solche zu schaffen.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Grimm der einzige der Autoren ist, dessen Lösungsvorschläge sich auf vergleichsweise pragmatische Reformen der EU-Rechtsordnung beschränken – auch wenn er solche Reformen für wenig wahrscheinlich hält. Die beiden anderen Ansätze halten sich mit Teilschritten gar nicht erst auf: Guérot will nichts weniger als die Wiedererweckung der idealen Republik in einem europäischen Staat der Regionen und Metropolen; Simms und Zeeb wollen eine Eurozonen-Föderation nach amerikanischem und britischem Modell. Wer diese Revolutionen tragen soll, bleibt im Ungefähren. Beide Entwürfe appellieren an neue politische Bewegungen der Vielen (Guérot) oder der Einsichtigen unter den Eliten (Simms/Zeeb), die erst einmal zu bilden wären. Aus diesem Mangel an Voraussetzungen, weniger aus den Inhalten, resultiert der utopische Charakter ihrer Entwürfe.
Revolution im Richterzimmer
Von der Aufgeregtheit revolutionärer Europa-Konzepte findet sich in den Aufsätzen und Vorträgen des ehemaligen Verfassungsrichters Dieter Grimm nicht viel. Die Revolution findet bei Grimm im Hinterzimmer statt, genauer: im Richterzimmer. Einer der Schwerpunkte seiner Darstellung ist die Konstitutionalisierung der Verträge durch den Europäischen Gerichtshof, der vor allem durch zwei Entscheidungen in den sechziger Jahren eine Kette von prägenden Entwicklungen ausgelöst habe.
So habe der EuGH die Grundlage für einen weitreichenden Entzug mitgliedstaatlicher Kompetenzen durch die EU geschaffen, indem er dem Gemeinschaftsrecht Vorrang vor nationalem Recht zusprach. Das hat für Grimm den Charakter des Integrationsprozesses nachhaltig verändert – vor allem, weil so entscheidende Teile der EU-Rechtsetzung dem politischen Willen der Staaten entzogen wurden. Die Herren der Verträge verloren die Herrschaft, und sie haben es nicht geschafft, sie durch Vertragsänderungen zurückzugewinnen.
Die Idee, diese Eigendynamik durch eine Parlamentarisierung der EU zu kontrollieren, löst das Problem für Grimm nicht, da das Parlament die Kommission weder trage noch mandatiere. Was den Grad der Legitimation angehe, reiche das Europäische Parlament eben nicht an die Staaten und ihre demokratische Ordnung heran. Sie seien so zentral für Europa, dass sie eine Art natürliche Grenze der Reichweite von Integration bildeten: Wird der Kompetenzbestand mitgliedstaatlicher Demokratien weiter ausgehöhlt, so Grimm, dann verlieren diese ihre legitimierende Kraft für Europa, denn sie büßen an Legitimation gegenüber ihren Bürgern ein.
Die offene oder schleichende Staatsbildung Europas ist es, die es Grimm zufolge zu verhindern gilt; auch das Grundgesetz trägt aus seiner Sicht eine solche Verwandlung Europas nicht. Stattdessen möchte er die Konstruktion der EU in drei Bereichen pragmatisch verbessern: zum einen in der Entwicklung echter europäischer Wahlen auf einheitlicher Rechtsbasis und dem Grundsatz der Gleichheit der Stimme, zum zweiten in der eindeutigen Abgrenzung der Zuständigkeiten von EU und Mitgliedstaaten, und drittens in der Rückführung der Verträge auf ihren Verfassungskern.
Dazu gehörten nur die Ziele, Grundrechte, Kompetenzen, Organe und Verfahren – alle übrigen Inhalte der heutigen Verträge will Grimm auf der Ebene des nachgeordneten Europarechts ansiedeln. Damit würden sie durch Entscheidungen der politischen Institutionen gestalt- und veränderbar und die Interpretationshoheit des EuGH wäre eingehegt.
Mit Austerität in den Abgrund
Wo Dieter Grimm die Grenzen von Integration zieht, fängt das Europa von Brendan Simms und Benjamin Zeeb erst an. Sie finden, dass die Politik der Staaten das Problem und nicht die Lösung ist. An den Abgrund ist Europa ihrer Ansicht nach vor allem durch die Austeritätspolitik geraten, die Deutschland und die von ihm abhängigen Mitglieder der Eurozone betrieben hätten. Sie habe die Konflikte der Staaten untereinander verschärft und die Demokratie in Europa faktisch beseitigt. Neben dem historisch verankerten Drang der Deutschen, Macht im System nicht zu bündeln, sondern zu diffundieren, sei ein immer schmerzlicher zutage tretendes Desiderat für diese Politik verantwortlich: das Fehlen einer politischen Union als Rahmen der Währungsunion.
Mittlerweile sei die Lage so ernst, dass eine „zentrale Sezession“ von Ländern wie Frankreich oder Deutschland nicht mehr auszuschließen sei. Die britische Frage spitze die Krise zu, denn ein Brexit werde in erster Linie dem Kontinent schaden; Großbritannien könne auch allein bestehen. Simms und Zeeb halten nichts weniger als die Ablösung der EU durch einen Austritt der Eurozone für notwendig, was in der Vertiefung zur politischen Union einen äußeren Ring geringerer Integrationsdichte schaffen werde.
Die deutsche Politik dagegen setze auf nationale Eigenverantwortung statt zentrale Staatlichkeit und dupliziere damit das Modell des 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reiches. Man suche eine konföderale Antwort auf Fragen, die doch nach einer föderalen Lösung verlangten. Eine Lösung, die als Ereignis und nicht als Prozess gedacht werden müsse: So wie die Bildung des Vereinigten Königreichs unter englischer Führung oder die Loslösung der britischen Kolonien durch den Zusammenschluss zu den Vereinigten Staaten Zäsuren setzten, so halten Simms und Zeeb jetzt einen Bruch mit der graduellen Integrationsentwicklung für erforderlich.
Auf Basis amerikanischer und britischer Verfassungsprinzipien würde diese Union die Staatsanleihen ihrer Mitglieder zu „Unionsbonds“ zusammenführen, deren demokratische Legitimation durch ein Unionsparlament aus Bürgerkammer und Senat (als Vertretung der Staaten) gewährleistet würde. Transferzahlungen wären über den EU-Haushalt zu organisieren. Die Regierung stünde unter Leitung eines direkt gewählten Präsidenten, der für die Außenpolitik, die Grenzsicherung und eine gemeinsame Armee im Rahmen der NATO verantwortlich wäre.
Die Umsetzung des Konzepts erfordert aus Sicht der Autoren eine neue politische Bewegung. Sie müsse vor allem die wirtschaftlichen Eliten für sich gewinnen, Kandidaten bei Parlamentswahlen auf ein „föderales Versprechen“ verpflichten und eine neue Verfassung ausarbeiten. Über diese Verfassung wäre in europaweiten, gleichzeitig stattfindenden Volksabstimmungen zu entscheiden.
Dass es zu einer solchen Föderation nicht kommen kann und wird, ist offensichtlich. Und damit werden auch die Argumentationsschwächen des Buches, die Wolkigkeit des politischen Konzepts, die Idealisierung der Britischen Union von 1707 und die Dämonisierung der Rolle Deutschlands ohne Folgen bleiben.
Von Grund auf neu denken
Während Simms und Zeeb auf die Eliten in Wirtschaft und Parlamenten setzen, hat Ulrike Guérot diese Hoffnung aufgegeben. Sie zeichnet ein Szenario, in dem der Markt und eine „neoliberale Marktordnung“ die Bürger beherrschen und die Politik in die „Postdemokratie“ geführt haben. Europa stehe „kurz vor dem Ende“, denn das Zielbild einer immer engeren Union der Völker werde von den Staaten seit Ende der neunziger Jahre ruiniert. Die EU ist zu einer legalen, aber nicht demokratischen Ordnung mit einem absurden institutionellen System degeneriert. Da die Mitte der europäischen Politik versagt, breiten sich die Ränder aus; Populismus und Nationalismus wachsen.
Statt umzusteuern, verharre die Politik in ihrer Pfadabhängigkeit, denn sie könne aus der Logik des Primats der Staaten nicht anders. So werden „uns die Nationalstaaten immer weiter zu immer falscheren Lösungen führen“, resümiert Guérot. Dieses Europa kann ihr zufolge nicht reformiert, sondern muss von Grund auf neu gedacht werden.
Neu gedacht wird viel in diesem umfangreichsten der drei Bücher. Guérot greift weit aus in Ideengeschichte und Gesellschaftsphilosophie, in Mythologie und Gendertheorie, New Age und Spiritualität. Ihr geht es um eine grundlegend andere Gesellschaft der kleinen Einheiten in großräumlicher Staatlichkeit, der Gleichheit aller und ihrer politischen wie sozialen Inklusion sowie dem unbedingten Vorrang des Gemeinwohls in Politik und Wirtschaft.
Das alles wird verwirklicht in der europäischen Republik, einer postnationalen Demokratie als Netzwerk von Städten und Regionen, in der alle Bürger gleichgestellt sind. Guérots Konzept speist sich aus der Rousseauschen Idee eines freiwilligen Gesellschaftsvertrags zur Sicherung des Gemeinwohls, dem Gedanken der „Gleichfreiheit“ der Bürger als politische wie soziale Anspruchsgrundlage. Gleichheit wird dabei in der europäischen Republik großräumig umgesetzt: gleiche Steuern, gleicher Zugang zu sozialen Rechten, gleiche Grundsicherung für alle, gleiche politische Vertretung.
Das politische System sieht eine repräsentative Demokratie mit starker Partizipation vor, in der die Kommission die Regierung bildet, das Europäische Parlament zu einem Abgeordnetenhaus mit vollen Rechten wird und der Rat als zweite Kammer zu einem Senat wird, in den die Regionen unabhängig von ihrer Größe je zwei Senatoren entsenden. Die Nationalstaaten sind zugunsten kleinerer Einheiten in der Größenordnung von sieben bis 15 Millionen Einwohnern abgeschafft.
Ähnlich wie bei Simms/Zeeb finden Finanztransfers über das Budget der Republik statt; auch Guérot denkt an einen direkt gewählten Präsidenten und sieht vor allem nach außen gerichtete Kompetenzen für die europäische Ebene: die Außen-, Handels- und Verteidigungspolitik, die Umwelt-, Energie- und Klimapolitik. Ferner will sie ein Finanz-, ein Sozial- und ein Cyberministerium, „eventuell ein Entwicklungshilfeministerium“. Große Industriekomplexe müssen wie die Nationalstaaten entflochten werden, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wird an die Provinzen zurückdelegiert.
In der Falle des Gemeinwillens
Bei der Lektüre von Guérots zahlreichen Überlegungen und Vorschlägen wird deutlich, worin der Vorzug politischer Utopien besteht: Sie müssen nicht ständig hinterfragt werden. Sie sind Entwurf in eine offene Zukunft hinein, in der alles auch wieder zur Disposition künftiger Beratungen steht. Nähme man die Utopie als Programm, müssten jedoch Antworten gefunden werden auf die verschiedenen Lücken und Klippen des Konzepts. So wird in großen Worten vom Schutz der Minderheit gesprochen, doch das Konzept ist strikt majoritär. Mit Rousseau steckt Guérot in der Falle der „volonté générale“, in der die Vorstellung legitimer Differenz keinen Raum hat. Wenn alle das Gemeinwohl gemeinsam bestimmen, dann hat die Mehrheit recht und die Minderheit etwas nicht richtig verstanden.
Fragezeichen wirft angesichts der gravierenden sozioökonomischen Unterschiede in der EU auch die unbedingte Gleichheit auf. Die Abschaffung der Nationalstaaten findet ebenfalls nicht wirklich statt, da gut zwei Drittel der heutigen EU-Staaten den Regionen in Guérots europäischer Republik entsprechen. Aufgelöst werden nur die sechs großen EU-Staaten und Rumänien.
Das Nationalitätenproblem Europas wird diese Republik nicht lösen, wie Guérot selbst anhand des Westlichen Balkans zeigt. Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens wären jeder eine Region im europäischen Zentralstaat. Das Konzept idealisiert die weitgehende Selbstregierung von Städten und Regionen, aber es vernachlässigt die zahlreichen Interdependenzen zwischen ihnen: in der Bildung, in der Infrastruktur, im Handel. Jenseits des Utopischen wäre der Bedarf an zentraler Steuerung wahrscheinlich erheblich größer als Guérot lieb ist, denn mit wachsendem Zentralismus stellte sich die Akzeptanz- und Legitimationfrage der europäischen Republik schärfer.
Kritisch zu hinterfragen wäre auch das politische Programm der Republik. Die wirtschaftspolitischen Gedanken zur „digitalen Manufaktur“ und zur Gemeinwohlökonomie tragen in Teilen merkantilistische Züge; Europas Verflechtung in die Weltwirtschaft würde drastisch zurückgefahren. Vom Binnenmarkt ist kaum die Rede – doch wenn er ebenso wie der Verbraucherschutz nicht mehr europäisch geregelt wird, werden nichttarifäre Handelshemmnisse aus dem Boden sprießen wie Pilze nach dem Regen. Dafür wird Yoga verpflichtendes Schulfach überall.
So sehr sich die Entwürfe europäischer politischer Ordnung bei Simms/Zeeb und Guérot auch unterscheiden mögen, beide basieren auf der Vorstellung europäischer Zentralstaatlichkeit. Für effektives Handeln einer europäischen Regierung lassen sich gute Gründe anführen – vor allem, wenn es auf der bei Grimm diskutierten klaren Kompetenzabgrenzung beruht –, doch Mehrheitsfähigkeit gehört nicht dazu.
Beiden Büchern haftet etwas Luftiges an; die Autoren sind nicht in der Lage, jemanden zu benennen, der die Vorschläge politisch umsetzen soll. Vielleicht, weil es die Bewegungen gar nicht gibt, die Träger solcher Ideen sein könnten? Auch wenn man kulturpessimistische Faktoren einmal ganz beiseite nimmt, so müssen sich Simms und Zeeb fragen lassen, ob ihre Analyse richtig und angemessen ist und wer die zumeist propagierte Alternativlosigkeit ihres Lösungsansatzes teilt. Das gilt auch für den Entwurf Ulrike Guérots, der mit großem Anspruch daherkommt. Denn obgleich die Autorin bemüht ist, so gut wie jede alternativpolitische Regung europäischer Zivilgesellschaft einzufangen, obgleich sie alle einschlägigen Schlüsselbegriffe irgendwo unterbringt, eines lässt sich nicht leugnen: Ihrem Entwurf fehlt schlicht die politische Basis.
Brendan Simms und Benjamin Zeeb: Europa am Abgrund. Plädoyer für die Vereinigten Staaten von Europa. München: C.H. Beck 2016, 140 S., 12,95 €
Dieter Grimm: Europa ja – aber welches? Zur Verfassung der europäischen Demokratie. München: C. H. Beck 2016, 288 S., 24,95 €
Ulrike Guérot: Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie. Bonn: J.H.W. Dietz 2016, 304 S., 18,00 €
Josef Janning ist Senior Policy Fellow beim European Council on Foreign Relations (ECFR) und leitet dessen Berliner Büro.
Internationale Politik 4, Juli-August 2016, S. 134-138