Europa 2040 - Spielarten des Scheiterns
Big Bang, Vernachlässigung, falsche Reformen: Wie die EU untergehen könnte
Das Brexit-Chaos legt die Vermutung nahe, dass die Staaten Europas nicht mehr in der Lage sind, ihre Differenzen auf konstruktive Weise beizulegen. Im Europa-Wahlkampf 2019 erleben wir eine Renaissance der nationalistischen Rhetorik. Proeuropäische Politiker streiten darüber, welche Reformen nötig sind. Aber kann europäische Integration in einer Atmosphäre von Konflikt und Chaos gelingen? Kann die EU in einer neuen Ära von Nationalstolz gedeihen? Wie viele Krisen verträgt die EU, bevor ihr Aufgabe und Sinn verloren gehen? Und, die wichtigste Frage von allen: Zerfällt Europa?
Auf diese drängenden Fragen gibt es keine plausiblen Antworten. Das liegt zum Teil daran, dass es schwer ist, die rasch aufeinanderfolgenden Ereignisse zu verstehen. Auch sind im Prozess der europäischen Einigung die Pessimisten schon oft widerlegt worden. Europa ist aus früheren Krisen gestärkt hervorgegangen, und auch die Herausforderungen von heute werden sich früher oder später überwinden lassen.
Es ist auch deswegen schwierig, Vorhersagen über eine mögliche Desintegration der EU zu machen, weil wir über kein plausibles Narrativ und erst recht nicht über die theoretischen Grundlagen für diese Debatte verfügen. Aus unerklärlichen Gründen haben wir uns immer auf die europäische Einigung konzentriert und das gegenteilige Szenario vernachlässigt. Das ist so, als würde man über Frieden diskutieren, ohne zu versuchen, den Krieg zu verstehen. Sicherlich kann man für den Frieden sein, aber man kann ihn nicht bewahren, wenn man die Gründe und Folgen des Krieges nicht versteht. Ebenso gilt: Können wir die Demokratie verstehen, ohne über Diktatur zu sprechen?
Und doch haben sich Generationen von Intellektuellen, Kommentatoren und Politikern ausschließlich auf Integration konzentriert und die Desintegration vernachlässigt. Es ist kein Wunder, dass wir heute so verwirrt sind. Wir wissen nicht wirklich, was Desintegration verursacht und welches ihre Symptome sind. Ist Zerfall ein allmählicher Prozess oder gleicht er vielmehr dem plötzlichen Tod? Wird der Brexit die Integration der verbleibenden 27 Staaten stärken – oder schwächt er sie? Wie können wir die Desintegration aufhalten und umkehren?
Angesichts des Fehlens plausibler Theorien von Desintegration können wir versuchen, uns plausible Szenarien vorzustellen, wie die Europäische Union in den kommenden Jahrzehnten auseinanderfallen könnte. Es gibt drei Entwicklungen, die derzeit besonders gut möglich erscheinen. Im ersten Szenario verlieren die europäischen Politiker die Kontrolle über finanzielle oder politische Ereignisse. Im zweiten Fall versuchen die Regierungen gegenzusteuern, aber verschlimmern letztlich das Problem. Das dritte Szenario beschreibt eine Politik der wohlwollenden Vernachlässigung, die jedoch keine gutartigen Folgen hat.
Das Big-Bang-Szenario
Auf dem Höhepunkt der Eurokrise galt eine unkontrollierbare Lawine einer tiefgreifenden Rezession als das wahrscheinlichste Zerfallsszenario. Wenn der Euro scheitere, scheitere auch Europa, erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel mehrfach. Der polnische Finanzminister Jacek Rostowski ergänzte, ein solches Ergebnis könne durchaus in einen Krieg münden. Nichts von alldem trat ein, aber viele Beobachter argumentieren nach wie vor, es könne auf Dauer keine gemeinsame Währung ohne eine gemeinsame Fiskalregierung geben. Ob diese pessimistische Behauptung zutrifft, werden wir aber nur überprüfen können, wenn es zu einer weiteren großen Finanzkrise kommt. Solch eine Krise ist schwierig vorherzusagen. Auch ihre Auslöser lassen sich kaum lokalisieren. Der letzte Finanzschock nahm in New York seinen Anfang, nicht in Brüssel. Der nächste könnte aus Schanghai oder Rio kommen.
Finanzturbulenzen könnten aber auch durch eine Sicherheitskrise hervorgerufen werden, wie es vor 50 Jahren der Fall war. Auch eine weitere große Flüchtlingskrise kann die EU-Institutionen zusammenbrechen lassen. Eine Umweltkatastrophe oder eine Pandemie könnten eine nicht mehr kontrollierbare Spirale in Gang setzen. Keines dieser Ereignisse kann mit Sicherheit vorhergesagt werden, aber sie alle könnten geschehen – ob mit oder ohne absichtliches Zutun der Union.
In Notsituationen gehören Chaos und Konflikte zum Normalzustand. Als mächtigstes Land Europas würde Deutschland im Zentrum des Krisenmanagements stehen. Manche Länder würden sich Deutschland anschließen; andere würden versuchen, ein Gegenbündnis zu bilden. Weil jedes Chaos für populistische Parteien ein Paradies ist, würde der Nationalismus aufblühen. Die Folge wären gegenseitige Beschuldigungen, Gebiets- und finanzielle Ansprüche. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass die EU eine Lawine gegenseitiger Anklagen, Vergeltungsmaßnahmen und Vorwürfe überleben würde. Es würde zu einem kosmischen Urknall oder plötzlichen Tod kommen.
Dieses dramatische Szenario stachelt unsere Fantasie an, aber es ist schwierig, über die „unbekannten Unbekannten“ zu spekulieren, die es auslösen könnte. Nicht jede Krise führt in den Weltuntergang. Die EU hat ihre beeindruckende Widerstandsfähigkeit schon mehrfach unter Beweis gestellt. Zwar wird der Brexit der EU mehr schaden, als derzeit zugegeben wird, aber vermutlich wird auch er nicht zu ihrem Zerfall führen. Tatsächlich ist es viel wahrscheinlicher, dass das Vereinigte Königreich als Folge des Brexit zerfällt als die EU. Zudem ist es schwierig, konkrete politische Maßnahmen zur Verhütung eines europäischen Untergangs zu entwickeln, wenn dieser durch hypothetische Bedrohungen ausgelöst wird, egal wie beängstigend sie sind.
Das Gorbatschow-Szenario
Die Sowjetunion brach zusammen, nachdem Michail Gorbatschow mit der Einführung von wirtschaftlichen und demokratischen Reformen begonnen hatte. Dabei wollte Gorbatschow die Sowjetunion stärken, nicht sie zerstören. Historiker erinnern auch daran, dass sich der Niedergang des Habsburger Reiches durch Reformen beschleunigte. Ein gutes Beispiel dafür ist der so genannte österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867, durch den die Doppelmonarchie mit zwei getrennten Parlamenten und Ministerpräsidenten in Budapest und Wien entstand.
Die EU hat sich während der vergangenen 30 Jahre an keine großen Reformen gewagt, und die Reformen, die sie in Angriff nahm, erwiesen sich als höchst umstritten. Dies trifft vor allem auf den Fiskalpakt von 2012 zu. Der Pakt spaltet nach Ansicht der Kritiker die Union, weil er den Gläubigerländern eine übermäßig harte und kontraproduktive Politik aufzwingt, die manche als ungerecht empfinden. Versuche, das Schengen-System zu reformieren, haben sich für zahlreiche Staaten als genauso strittig erwiesen, vor allem für solche aus Mittel- und Osteuropa, die sich weigern, die zentrale Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU zu akzeptieren.
Im Vorfeld der Europawahlen 2019 haben Politiker eine Fülle von Reformvorschlägen gemacht, von denen viele sich allerdings eher widersprechen als ergänzen. Die Umsetzung der ehrgeizigsten Vorschläge dürfte nicht nur zu Konflikten führen, sondern auch unerwünschte und unerwartete Nebeneffekte haben. Pläne, eine ehrgeizigere wirtschaftliche und politische Union zu errichten, haben mutmaßlich die weitreichendsten Folgen.
Eine politische und wirtschaftliche Union aus zahlreichen verschiedenen Einheiten, so groß deren gegenseitige Abhängigkeit auch sein mag, wird es schwer haben, genügend gemeinsame Interessen auszumachen, an denen sie ihre Politik ausrichten kann. Sie kann nur funktionieren, wenn sie aus wenigen europäischen Ländern besteht, die ähnliche Ansichten vertreten und sich gleichen. Ein solches Kerneuropa würde aber einen neuen Graben durch den Kontinent ziehen und Angst und Misstrauen erwecken.
Manche EU-Länder würde die Sorge umtreiben, ausgeschlossen zu werden, während andere befürchten müssten, im Falle ihres Beitritts von anderen Kernstaaten dominiert zu werden. Mit anderen Worten: Der Sprung in eine ausgestaltete Union würde vermutlich die Beziehungen zwischen den europäischen Ländern destabilisieren und ihre Kooperationsvereinbarungen zerbrechen lassen. Es ist durchaus möglich, sich an einer Föderation zu versuchen, auch einer sehr losen, um die EU-Integration zu retten. Doch am Ende beschleunigt man womöglich gerade damit die Desintegration.
Selbst weniger umstrittene Reformen, zum Beispiel Maßnahmen zur Stärkung der europäischen Verteidigung gegen Cyberangriffe, können Vertragsänderungen notwendig machen – und damit in einigen Ländern Volksabstimmungen erfordern. Europäische Referenden haben sich als Festveranstaltungen für Populisten und Euroskeptiker erwiesen. Durchaus denkbar ist also, dass sie am Ende zur Desintegration beitragen.
Reformen, die darauf zielen, bestimmte Kompetenzen aus Brüssel in die nationalen Hauptstädte zurückzuholen und die Budgetzuweisungen für die EU zu verringern, können die EU ebenfalls spalten. Solche Reformen werden hauptsächlich von euroskeptischen Parteien unterstützt und nicht von den Befürwortern einer engeren Integration. Normalerweise verbindet man ja auch die Rückführung von Kompetenzen aus Brüssel in die nationalen Hauptstädte eher mit Desintegration als mit Integration.
Wohlwollende Vernachlässigung
Reformen sind eine riskante Sache. Politiker scheuen davor zurück, ihre beruflichen Perspektiven und Ressourcen aufs Spiel zu setzen für Projekte, deren Ergebnis höchst unsicher ist. Auch ist es sehr schwierig, in einem Europa, das in vielen politischen und wirtschaftlichen Fragen zerstritten ist, Reformen durchzusetzen. Das gilt erst recht, wenn sie sehr ehrgeizig sind. Proeuropäische Liberale werden sich in der Regel besonders heftig gegen Reformen wehren, die vom antiliberalen Lager vorgeschlagen werden, selbst wenn Dezentralisierung die EU flexibler und wettbewerbsfähiger machen könnte. Im Szenario der wohlwollenden Vernachlässigung kommt es zum Zerfall, weil niemand die Gefahr erkennt oder etwas unternimmt. Die Mitgliedstaaten versuchen eher, Probleme auf eigene Faust oder in einem nichteuropäischen Rahmen zu lösen, als europäische Lösungen für nationale Probleme zu finden. Sie sagen sich zwar nicht offen vom europäischen Projekt los, nutzen es aber nur noch als Instrument der Öffentlichkeitsarbeit.
Die lange Geschichte der Westeuropäischen Union (WEU) ist ein gutes Beispiel für einen solchen symbolischen Kooperationsrahmen. Die WEU bestand viele Jahrzehnte lang, aber sie wurde kaum jemals für die sicherheitspolitischen Zwecke genutzt, für die sie eigentlich gedacht war.
Die WEU-Mitglieder trafen sich in regelmäßigen Abständen und verabschiedeten Erklärungen. Auch die Verwaltungsstruktur und sogar die Parlamentarische Versammlung der WEU funktionierten scheinbar normal. Und doch – wann immer sich ernste Herausforderungen in Sachen Sicherheit und Verteidigung stellten, ignorierten die WEU-Mitglieder die WEU-Struktur und nutzten stattdessen die NATO, die EU, die UN, die OSZE oder informelle Rahmen.
Der Preis dieser Politik wurde während der Balkan-Kriege deutlich. Die Europäer standen ohne gemeinsame Sicherheitsstrategie da. Weder stimmten sie darin überein, welche Institution mit dem Krieg befasst werden sollte, noch verfügten sie über effektive militärische Fähigkeiten, die etwas Sinnvolles hätten bewirken können.
Eine Politik des Sich-Durchwurstelns und der wohlwollenden Vernachlässigung hat ihren Preis, aber sie ist besser, als auf Teufel komm raus höchst ehrgeizige und riskante Projekte voranzutreiben. In einer Zeit wirtschaftlicher Turbulenzen und ideologischer Verwirrung ist Pragmatismus eine echte Alternative zum Idealismus. Ein schrittweiser Ansatz kann besser funktionieren als ein revolutionärer. Dies erklärt vermutlich die derzeitige Politik der europäischen Regierenden. Sie scheuen offenkundig davor zurück, ihre beruflichen Aussichten und Ressourcen in Politikvorschläge zu investieren, deren Erfolg hochgradig unsicher ist. Stattdessen unternehmen sie gerade einmal das Mindestmaß, um eine finanzielle Kernschmelze und politische Kämpfe zu vermeiden, aber nicht genug, um den Prozess des schleichenden Zerfalls zu stoppen.
Die EU selbst ist offensichtlich ein Opfer dieses Ansatzes. Einige ihrer zentralen Institutionen werden immer weiter marginalisiert. Und doch ist die Halbwertszeit von Institutionen sehr hoch, was es wahrscheinlich macht, dass die EU – oder vielmehr ihre Fassade – überleben wird.
Europa wird immer mehr einem Labyrinth gleichen, in dem verschiedene Akteure sich in entgegengesetzte Richtungen bewegen, aber dabei den Anschein von Dialog und Kooperation aufrechterhalten. Informelle Arten der Entscheidungsfindung werden wichtiger werden als die dysfunktionalen Verträge. Die stärkeren Staaten, vor allem Deutschland, werden eher ungewollt als absichtlich in die Position von Königsmachern rücken. Es wird einfach so sein, dass Probleme, die auftauchen, gelöst werden müssen. Wenn sich Brüssel außerstande sieht, etwas Hilfreiches zu unternehmen, wird die europäische Öffentlichkeit von Deutschland Lösungen erwarten. Das mag sich jedoch als zweifelhafter Segen erweisen.
Keines der drei beschriebenen Szenarien verspricht Gutes für Europa und für Deutschland. Trotzdem erscheinen die Maßnahmen, die derzeit erwogen werden, um den Zerfall zu verhindern, nicht ausreichend. Ihnen fehlt es auch an breitem Rückhalt in der Bevölkerung. Womöglich ist der einzige Weg, wie sich Desintegration verhindern lässt, die vorherrschende Logik umzudrehen: Integration muss nicht allein eine Angelegenheit der Nationalstaaten sein; Städte, Regionen und Organisationen der Zivilgesellschaft könnten einen greifbaren Zugang zu den Entscheidungsprozessen und Ressourcen der EU bekommen. Die Integration könnte der Funktionalität folgen und nicht so sehr der territorialen Logik, weil verschiedene Bereiche unterschiedliche Mitgliedschaften und Formen von Governance erfordern.
Die Macht innerhalb Europas neu zu verteilen und sie näher an den Bürgern anzusiedeln, könnte mehr dazu beitragen, europäische Politiken zu legitimieren, als das derzeitige zentralisierte System. Solche Veränderungen werden nicht von oben kommen, sie müssten von unten in Bewegung gesetzt werden. Sind die Europäer bereit, ihre Zukunft in die eigene Hand zu nehmen?
Prof. Dr. Jan Zielonka ist Professor für Europäische Politik in Oxford und Ralf Dahrendorf Fellow am St. Antony’s College.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 19-23