Gegen den Strich

30. Apr. 2011

Erdöl

Die Welt verbraucht 1000 Fässer Öl pro Sekunde. Während der Lektüre des folgenden Artikels werden die globalen Ölreserven um rund 600 000 Barrel schrumpfen – die Ladung eines mittelgroßen Tankers. Geht uns das Öl bald aus? Ist es uns schon ausgegangen? Und wenn ja, gibt es wirklich genügend Alternativen? Sieben Thesen, Wahrheiten und Irrtümer.

» Peak Oil liegt schon hinter uns «

Wie man’s nimmt. Die Antwort findet sich, wie so oft, im Kleingedruckten. Betrachtet man nur konventionelles Rohöl im engeren Sinn („Crude & Field Condensates“), dann stagnieren die Förderkapazitäten seit 2005. Das wird noch ein paar Jahre so bleiben. Anschließend werden diese Fördermengen unaufhaltsam schrumpfen. Aber das gesamte Ölangebot steigt immer noch an und liegt derzeit mit 89 Millionen Fass pro Tag auf einem Allzeithoch. Dazu gehören nicht nur das erwähnte eng definierte Rohöl, sondern auch die Liquids aus Erdgasfeldern (NGL), Schwerstöl aus Ölsanden, Öl aus Kohle oder Erdgas, Schieferöl und Biokraftstoffe.

Ein Maximalangebot von etwa 94 Millionen Fass pro Tag wäre heute möglich, wenn Libyen und Saudi-Arabien uneingeschränkt förderten. Bei einer Größenordnung zwischen 95 und 105 Millionen Fass pro Tag wird aber auch hier der Gipfel erreicht sein, denn konventionelle Ölfelder versiegen immer schneller, während die Alternativen nur sehr mühsam und langsam zulegen. Der Öl-Peak liegt also noch vor uns. Zwischen 2015 und 2025 wird es wohl so weit sein, je nachdem, wie schnell die großen irakischen Felder und die Tiefsee vor Brasilien erschlossen werden. Das wäre eine historische Zäsur, denn noch nie in der Menschheitsgeschichte ist ein wichtiger Rohstoff irreversibel knapp geworden.

Nach dem Peak wird es aber keinen abrupten Einbruch geben, sondern eher einen allmählichen Rückgang um ein bis zwei Prozent pro Jahr. Neue Ölfunde, technische Fortschritte bei der Förderung schwer zugänglicher Ölvorkommen (bislang verbleiben zwei Drittel im Boden), größere NGL-Mengen aus Erdgasfeldern und eine langsam steigende Produktion aus unkonventionellem Öl und Biokraftstoffen werden den Rückgang bei konventionellem Öl abmildern. Auch 2050 wird Öl im globalen Energiemix noch eine wichtige Rolle spielen.

» Peak hin, Peak her: Das Öl reicht nicht für alle «

Genau. Die Fixierung der Diskussion auf das Datum des Peaks lenkt vom eigentlichen Problem ab. In den Industrieländern stagniert der Ölbedarf zwar seit Jahren auf hohem Niveau, aber in den Schwellenländern steigt er steil an. In den Jahren 2010 und 2011 wird der globale Ölverbrauch laut Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) um 4,4 Millionen Barrel Öl steigen. Das ist mehr als die dreifache Exportmenge Libyens und der stärkste Anstieg seit 30 Jahren.

Die Ausweitung der Förderkapazitäten kann mit diesem Tempo nicht Schritt halten. Dementsprechend schnell sinken die Pufferkapazitäten der Saudis, denn überall sonst auf der Welt werden die Felder bereits mit maximaler Geschwindigkeit geleert (nur Kuwait und die Emirate verfügen noch über kleine Reserven). Wenn der Bürgerkrieg in Libyen andauert, wird der Puffer Ende 2011 nur noch bei zwei bis drei Prozent des Angebots liegen. Der Ausfall eines zweiten großen Exporteurs kann dann nicht mehr verkraftet werden. Ein extrem steiler Ölpreisanstieg wäre die Folge – und würde von manchen Ölproduzenten, denen die geologischen Reserven allmählich schwinden, wohl begrüßt werden.

Aber selbst wenn sich die Lage in Libyen beruhigt und die OPEC ihre Kapazitäten voll ausschöpft, schneiden sich die Kurven des Nachfragetrends und der maximalen Angebotskapazität voraussichtlich um das Jahr 2014. Bagdad hält den Schlüssel in der Hand: Nur bei einem unerwartet schnellen Ausbau der irakischen Felder könnte dieser Termin ein paar Jahre nach hinten verschoben werden. Nirgendwo sonst auf der Welt lässt sich das Ölangebot sprunghaft ausbauen.

» Die Abhängigkeit von Ölimporten ist ein amerikanisches Problem, kein europäisches «

Weit gefehlt. Die Europäische Union fördert nur noch 2,1 Millionen Barrel pro Tag auf eigenem Territorium. Die Produktion in der Nordsee geht seit Jahren steil zurück, sodass der Importanteil von derzeit über 80 Prozent in wenigen Jahren auf über 90 Prozent wachsen wird.

Die Produktion in den USA, dem immer noch drittwichtigsten Ölförderland der Welt (nach Russland und Saudi-Arabien), erholte sich in den vergangenen Jahren auf 7,2 (2009) bzw. 7,6 Millionen Barrel pro Tag (2010). Diese unerwartete Renaissance wird noch einige Jahre anhalten. In den USA wird die Importabhängigkeit von Öl deshalb rasch fallen, auch weil es noch große ungenutzte Einsparpotenziale und reichlich billiges Erdgas gibt. Die Versorgungssicherheit verbessert sich deutlich, zumal ein erheblicher Teil der Importe aus dem nahen Kanada stammen wird.

China ist bis heute der fünftgrößte Ölproduzent der Welt, der noch einige Jahre lang um die vier Millionen Barrel pro Tag produzieren kann. Doch dann wird voraussichtlich ein langsamer, aber stetiger Rückgang einsetzen. Schon heute muss das Land über 50 Prozent seines Bedarfs importieren. Peking will den Verbrauch daher schon bald deckeln und die Importabhängigkeit dadurch begrenzen.

In der Post-Peak-Ölwelt sind also alle drei großen Wirtschaftsblöcke energiepolitisch verwundbar, wobei die Situation der USA noch am besten ist. Die Vereinigten Staaten sind bei Gas und Kohle autark. Die Ölimporte können gedrosselt werden. China ist bei Kohle autark, verbraucht bislang nur wenig Erdgas, hängt aber immer stärker am Tropf des Weltölmarkts. Die Lage der Europäischen Union ist prekärer, denn sie verfügt nur über sehr geringe eigene Öl- und Gasmengen, selbst Steinkohle wird in großen Mengen importiert.

Diese Vergleiche sollten aber nicht überbewertet werden: Während der Libyen-Krise berichteten die Medien akribisch über die Länder, aus denen Deutschland Rohöl bezieht. Wieder einmal wurde empfohlen, Öl vor allem aus stabilen Staaten zu kaufen. Das ist bei Erdgas sinnvoll, weil die Lieferinfrastruktur relativ unflexibel ist; aber der Ölmarkt ist ein Weltmarkt und ganz überwiegend ein Tankermarkt. Öl fließt dorthin, wo der höchste Preis geboten wird.

Es spielt also keine Rolle für Deutschland, ob im Golf von Mexiko ein Hurrikan wütet, in Libyen ein Bürgerkrieg ausbricht oder in einem Ölfeld in der Nordsee technische Probleme auftreten. Es spielt sogar kaum eine Rolle, ob das Öl im eigenen Land gefördert wird oder importiert werden muss: Die Krise betrifft alle, weil sie über einheitliche Weltmarktpreise auf alle Schultern verteilt wird. Das gilt für Öl und Kohle gleichermaßen, allein der Erdgasmarkt ist noch kein integrierter Weltmarkt.

» Öl ist jetzt schon zu teuer «

Das kann man so nicht sagen. Der hochkonzentrierte Energieträger Rohöl kostet auf dem Weltmarkt 0,72 Dollar pro Liter, also weniger als manche Limonade. Insofern ist Öl billig. Aber der Preis liegt sehr weit über den Kosten, insofern ist er hoch. Der Weltmarktpreis liegt bei 117 Dollar pro Barrel während sich die durchschnittlichen Kosten für das Auffinden, Erschließen und Fördern von Rohöl bislang auf etwa 25 Dollar pro Barrel summieren. In Zukunft werden es im Schnitt um die 40 Dollar sein.

Diese enorme Gewinnspanne macht Öl zum größten Geschäft der Welt: Profite in Höhe von 2000 Milliarden Dollar warten 2011 darauf, verteilt zu werden, wenn der Ölpreis auf dem aktuellen Niveau bleibt. Die größten Profiteure davon sind nicht, wie oft geglaubt, Ölkonzerne und Finanzwelt. 80 bis 90 Prozent der Profite landen in den Staatskassen. Nach jüngsten Schätzungen werden allein die OPEC-Staaten im laufenden Jahr 1000 Milliarden Dollar durch ihre Ölexporte einnehmen. Ein großer Teil des arabischen Raums, der Iran, Russland, Teile Westafrikas und Lateinamerikas und Teile des kaspischen Raums finanzieren ihren Staatshaushalt durch Petrodollars.

Aber „Kosten“ ist wiederum ein relativer Begriff. Die meisten Ölstaaten sind autokratisch regiert. Sie müssen sich den Machterhalt und die Akzeptanz des Reformstillstands erkaufen. Die jüngsten Geschenke des saudischen Königshauses an die Bevölkerung (130 Milliarden Dollar, davon 35 Milliarden noch in diesem Jahr) haben den Ölmindestpreis weiter erhöht: Jetzt muss er über 80 Dollar pro Barrel liegen, um den Staatshaushalt im Gleichgewicht zu halten. Noch höhere Preise braucht Teheran. Das OPEC-Kartell muss also allein schon aus innenpolitischen Gründen dafür sorgen, dass der Ölpreis nicht fällt. Er ist insofern immer auch ein politischer Preis.

» Der Ölmarkt ist ein Rohstoffmarkt wie jeder andere «

Klingt nach einer Selbstverständlichkeit, stimmt aber nicht. Der Ölmarkt ist ebenso sehr eine politische Veranstaltung und vor allem ein Finanzmarkt. Ich würde ihn als Hybridmarkt bezeichnen. Sein Charakter ändert sich ständig, je nach politischer Lage, je nach Spekulationsneigung, manchmal innerhalb weniger Stunden. An den großen Ölbörsen in New York und London sowie im bilateralen Handel zwischen den Marktteilnehmern wird Öl wie ein Wertpapier gehandelt. Es handelt sich um Terminkontrakte, also Lieferansprüche zu einem bestimmten Datum. Das tägliche Volumen dieser Transaktionen ist im Schnitt um den Faktor 20 größer als die physische Ölförderung.

Ölbörsen sind historisch gesehen eine Verlegenheitslösung. Seit 150 Jahren sucht der immer wieder labile Ölmarkt nach einer stabilen Verfassung mit verlässlichen Preissignalen. Kartelle und staatliche Preismonopole wechselten sich ab. In den siebziger und achtziger Jahren übernahm die OPEC das Ruder, aber auch dieses Kartell scheiterte an den unterschiedlichen Interessen seiner Mitglieder und an der erstarkenden Konkurrenz. Das anschließende Intermezzo, in dem die physischen, aber oft chaotischen Spotmärkte Orientierung bieten sollten, blieb für alle Beteiligten unbefriedigend. Erst die Ölbörsen boten seit den neunziger Jahren eine gewisse Stabilität, hohe Transparenz und eine bessere Absicherung gegen Preisrisiken. Doch nun war der Geist aus der Flasche: Die Deregulierung der Finanzmärkte durch die Bush-Regierung, leicht verfügbares Kapital für Hedgefonds und die Einführung von Rohstoffindexprodukten ermöglichten nach dem Jahr 2000 einen Boom bei der Rohstoffspekulation.

Mitte des vergangenen Jahrzehnts schlug die quantitative Entwicklung der Finanzmärkte in eine neue Qualität um: Das Instrument der Ölbörsen wurde zum Selbstzweck. Der Ölmarkt änderte seinen Charakter. Das wäre für sich betrachtet noch kein großes Problem. Aber jetzt hat es der Ölmarkt mit sehr unterschiedlichen Protagonisten zu tun, die ihre Entscheidungen zum Kauf oder Verkauf von Ölkontrakten an Zielen und Modellen orientieren, die häufig gar nichts mit den Vorgängen auf dem physischen Ölmarkt zu tun haben. Die meisten Hedgefondsmanager kennen sich dort überhaupt nicht aus, sondern richten sich nach charttechnischen Trendsignalen nach dem Motto „was gestern und heute stieg, steigt auch morgen“. Nicht Bullen und Bären, sondern Lemminge sind die häufigste Tierart an den Ölbörsen.

Daneben gibt es große Pensions- und Staatsfonds, die recht starre Portfoliostrategien verfolgen, also beispielsweise immer einen festgelegten Prozentsatz ihres Kapitals in Öl investieren, unabhängig davon, ob physisches Öl gerade knapp oder im Überfluss vorhanden ist.

» Spekulation kann nur kurzfristig und sehr begrenzt den Ölpreis verzerren «

Irrtum. Dieser Satz aus dem Lehrbuch der VWL hält sich hartnäckig, vor allem bei Ökonomen, die sich noch nie praktisch mit dem Ölmarkt beschäftigt haben. Wie schon in der Finanzkrise 2008, als sich Banken „irrational“ verhielten, stehen die Theorien vor der Wahl, entweder ihre Lehrmeinungen der Wirklichkeit anzupassen oder Teile der Wirklichkeit auszublenden.

Der Umfang der Wetten von Hedgefonds auf steigende Ölpreise an der amerikanischen Ölbörse wird im Wochentakt veröffentlicht. Die Korrelation zwischen dieser Spekulation und dem Ölpreisverlauf 2009/2010 ist frappierend und liegt nahe 0,9 (1,0 wäre eine perfekte Korrelation). Kein anderer Indikator kann da mithalten. Finanzinvestoren kaufen immer wieder über einen längeren Zeitraum eine wachsende Zahl von Lieferansprüchen und beeinflussen damit nicht nur die Terminpreise an den Ölbörsen, sondern wegen der Besonderheiten bei der Preisbildung auf dem Ölmarkt eben auch alle anderen Preissignale. Solche Wellen können über einige Wochen laufen oder über mehrere Jahre hinweg.

Das soll nicht heißen, dass nur Finanzinvestoren den Ölpreis lenken. Es gibt Marktphasen, in denen physische Verknappungen oder geopolitische Krisen eine maßgebliche Rolle spielen, etwa 2005 oder 2008. Heute sind es drei Faktoren, die den Ölpreis weit über die 100-Dollar-Marke heben: die Libyen-Krise, ein Allzeithoch bei Spekulationswetten und der stärkste Anstieg der Ölnachfrage seit 30 Jahren. Das Scheitern der Finanzmarktregulierung in den USA und Europa hat daher weitreichende Folgen nicht nur für die Bankenwelt, sondern auch für unsere Rohstoffpreise. Die Spekulations- und Kontrollmöglichkeiten sind trotz des Finanz-Gau von 2008 nicht wesentlich verändert worden. Das Problem der langfristigen Ölverknappung lässt sich mit einer stärkeren Regulierung zwar nicht lösen, aber übermäßige Preisausschläge durch Trendverstärkungen und Marktmanipulationen werden erschwert.

» Es gibt jede Menge Alternativen zum Öl «

Wirklich? Derzeit gibt es weder national noch international Pläne, wie man mit einer globalen Ölverknappung umgehen könnte. Bislang zeichnen sich keine Alternativen ab, die rechtzeitig, massiv und mit vertretbarem Aufwand Öl ersetzen können. Fortschritte gibt es nur punktuell: Einerseits ermöglichen Nullenergiehäuser und Solaranlagen Quantensprünge bei der Gebäudeenergie, andererseits fahren fabrikneue Pkws durch die Straßen, die in punkto Spritverbrauch auf dem Niveau der siebziger Jahre liegen.

Die Elektromobilität kommt, wenn überhaupt, zu spät und zu zögerlich. Biokraftstoffe stoßen schon jetzt an Akzeptanzgrenzen. Ölsand, Schwerstöl und Kohleverflüssigung sind umwelt- und klimapolitisch unverantwortlich und könnten ohnehin nur sehr langsam ausgebaut werden. Auch ein globaler Schwenk Richtung Bus und Bahn ist nicht in Sicht. Es wird daher erst einmal auf Erdgasautos, vor allem aber auf kleinere und effizientere Hybrid-Diesel- oder Hybrid-Benzinautomobile hinauslaufen. Dadurch kann das Problem rückläufiger Ölmengen langfristig nicht gelöst werden, aber es wird zeitlich etwas gestreckt.

Vermutlich tritt die Weltwirtschaft anschließend in einen Zyklus ein, in dem die Preise erst rasant steigen, denn die Ölnachfrage kann nur teilweise bedient werden und wird in vielen Ländern subventioniert werden. Hohe Preise – 250 Dollar pro Fass oder mehr – würgen das Wachstum der Weltwirtschaft ab. Sinkt dann der Ölverbrauch, fallen die Ölpreise, und der Zyklus beginnt von vorn. Diese Instabilität birgt enorme sozial- und wirtschaftspolitische Risiken, insbesondere in ärmeren Ländern. Schon 2008 kam es vielerorts zu Protesten wegen hoher Spritpreise. Öl wird knapp und extrem teuer. Kurskorrekturen sind unvermeidlich. Nur wer rasch reagiert, kann dabei noch mitgestalten. Die Diskussion ist in den USA und China lebendiger als in der EU. Europa sollte sich daher nicht auf seiner Vorbildrolle in der Strompolitik ausruhen. Das Ölthema wird bald weitaus brisanter sein.

Dr. STEFFEN BUKOLD leitet das Forschungsbüro EnergyComment in Hamburg und ist Herausgeber des „Global  Energy Briefing“.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, April 2011, S. 84-89

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