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01. Mai 2016

Entzauberung durch Fakten

Wer den IS bekämpfen will, muss dessen Propaganda aushebeln

Bislang sind schon etwa 7000 Männer und Frauen aus Europa der Propaganda des Islamischen Staates gefolgt und in den Kampf gezogen. Wie aber können solche Rekrutierungsversuche erschwert werden? Dazu brauchen wir zielgerichtete Gegendarstellungen im Internet, auch von IS-Aussteigern, die die brutale Realität vor Ort beschreiben.

Seit etwa 30 Jahren wird aus soziologischer und psychologischer Perspektive erforscht, warum sich Menschen radikalisieren und zu politischen Extremisten oder Terroristen entwickeln. Denn um Radikalisierung vorzubeugen und Extremisten deradikalisieren zu können, sollte man zunächst die entsprechenden Ursachen und Motivationen verstanden haben.

Häufig spielt bei Radikalisierungsverläufen eine Mischung aus so genannten Push- und Pull-Faktoren eine Rolle. Die Push-Faktoren können zu einer generellen Empfänglichkeit für extremistisches Gedankengut führen. Hierzu zählen persönliche oder beobachtete Diskriminierungserfahrungen, (außen-)politische Ereignisse, sozioökonomische Marginalisierung, eine Opferhaltung oder auch Solidarität mit Opfern, ein Mangel an Bewältigungskompetenz sowie zu wenig Geborgenheit und Orientierung durch das Elternhaus. Für manche spielt auch die Frage, was nach dem Tod passiert, also eine religiös motivierte Angst vor der Hölle, eine gewichtige Rolle.

Extremistische Organisationen versuchen, mit ihrer Ideologie und Propaganda hier anzudocken und möglichst attraktive Angebote zu machen, um Sympathisanten und Rekruten anzulocken. Zu diesen so genannten Pull-Faktoren zählen das Versprechen von sozialer Akzeptanz, klare Regeln und die Zugehörigkeit zu einer neuen Gruppe als Familien­ersatz. Hinzu kommen Sinngebungen, wie der Schutz und die Verteidigung einer Volks- oder Glaubensgemeinschaft, oder auch Abenteuer, Heldentum, Sex und ein versprochener Zugang zum Paradies.1

Neben den offensichtlichen Grenzen der Generalisierbarkeit von Radikalisierungsverläufen eines 16-jährigen Jungen im syrischen Rakka oder eines 25-jährigen Architekturstudenten in Hamburg beantwortet die Forschung bis heute die Frage nach dem Warum nur bedingt. Denn während allein in Europa Hunderttausende und weltweit Millionen von Menschen täglich vielen ­Radikalisierungsfaktoren ausgesetzt sind, entwickelt sich doch nur eine sehr kleine Zahl von Menschen hin zum Extremisten oder gar zum Terroristen. In der Forschung spricht man deshalb von individuellen Radikalisierungsverläufen und arbeitet weiter an der Frage, warum sich zum Beispiel ein in sehr ähnlichen Lebensumständen befindlicher Daniel oder Achmed zu Extremisten entwickeln, während Michael oder Mustafa dies nicht tun.2

Warum ist der IS so erfolgreich?

Wie groß die Tragweite dieses Mangels an Erkenntnissen über Radikalisierungsursachen ist, wird anhand der Rekrutierungserfolge des so genannten Islamischen Staates deutlich: Während in den zehn Jahren des Afghanistan-Krieges von 1979 bis 1989 geschätzte 20 000 „foreign fighters“ zu den Mudschahedin und Al-Kaida ins Kriegsgebiet zogen, sind es im vom IS gehaltenen Territorium nach drei Jahren bereits etwa 30 000.Zwischen 6000 und 7000 kommen aus Ländern der EU; erstmals folgen auch Frauen in signifikanter Zahl dem Ruf einer islamistischen Terror­organisation.

Warum also zieht der IS so viel mehr Anhänger an, als es Al-Kaida je getan hat? Wieso machen sich Tausende junger Muslime, die in Europa geboren wurden, auf den Weg in ein angebliches Kalifat und reales Kriegsgebiet? Und welche Rolle spielen die Narrative und Angebote des IS dabei?

Der IS investiert in professionelle Full-HD-Propagandavideos im 16:9 Kinoformat, die online zum Teil millionenfach angeklickt werden. Wie groß der direkte Einfluss dieser Videos auf die Zuschauer ist, kann nur vermutet werden. Dabei ist vor allem unklar, ob die Propaganda Pro-IS-Ansichten und -Verhaltensweisen initiiert oder diese nur verstärkt.

Nicht nur die technische Qualität der IS-Onlinepropaganda ist auf dem neuesten Stand, auch die Inhalte sind komplex und zielgerichtet. Während in den westlichen ­Medien hauptsächlich über die ­Gräueltaten der Terrororganisa­tion berichtet wird, sendet der IS über die neuen Medien auch ganz andere Botschaften.3

Aber zunächst zur Brutalität: Bei den berüchtigten Hinrichtungsvideos gibt es immer einen Vorspann, der beispielsweise angebliche zivile Opfer eines gegnerischen Angriffs zeigt. Die oft professionell arrangierten Exekutionen von Geiseln und vermeintlichen Spionen sollen zwar Feinde terrorisieren, Stärke demonstrieren und für Medien zur Weiterverbreitung attraktiv sein. Es wird aber immer auch versucht, die Gewalt zu legitimieren und in den Kontext von Recht und Vergeltung zu stellen. Denn der IS behauptet, man verteidige den Islam und räche den Tod von Millionen sunnitischen Muslimen im Irak und in Syrien, die von einer Allianz aus so genannten Kreuzfahrern (westlichen Ländern), Zionisten ­(Israel und dessen Unterstützer) sowie Schiiten (der irakischen Regierung bzw. Armee, des Iran, der Hisbollah und des Assad-Regimes) ermordet würden.

Dieses angeblich gerechte und schariagetreue Racheargument zieht sich wie ein roter Faden durch die IS-Propaganda. Es geht zurück auf Abu Musab al-Zarkawi, der von 2003 bis zu seinem Tod 2006 die Al-Kaida-Gruppe im Irak anführte, aus der sich später der IS entwickelt hat. Zarkawi ist heute noch eine Leitfigur für den IS und hat dessen Ideologie maßgeblich geprägt. Zu Lebzeiten war er auch als „Schlächter von Bagdad“ bekannt – unter anderem, weil er so viele schiitische Muslime getötet hat, dass Osama Bin Laden ihn öffentlich zur Mäßigung aufrief. Zarkawi hatte unter Dschihadisten jedoch noch einen anderen Namen, der aus dem Arabischen übersetzt bedeutet: „jener, der viel weint“. On- und offline klagte er oft tränenreich über sunnitische Opfer, zeigte selektives Mitgefühl und rechtfertigte auch damit seine brutalen Angriffe auf schiitische Muslime.

Die brutalen Hinrichtungsvideos des IS sind jedoch zahlenmäßig der geringste Teil der Propaganda. Weitere Videos zeigen Überläufer zum IS, etwa vom Al-Kaida Ableger „Jabhat al-Nusra“, von der „Freien Syrischen Armee“ oder von Assads Truppen. Das Thema hier ist Gnade und Vergebung, denn diese ehemaligen Feinde werden angeblich mit offenen Armen aufgenommen.

Fast die Hälfte der offiziellen IS-Postings und Videos sind Berichte über angebliche militärische Erfolge. Darin wird oft versucht, die IS-Kämpfer als coole Krieger zu porträtieren, die in einem Computerspiel ähnlichen Szenario („Counter Strike“, „Call of Duty“) für die gerechte Sache kämpfen und gerne für ihren Gott und das versprochene Paradies sterben. Diese Beschreibungen werden von Bloggern im IS-Umfeld zu einer Art „Dschihadi-cool“ verdichtet, einer Jugend- und Popkultur, die Abenteuer, Sinngebung und Coolness verspricht.

Islamisches Utopia

Genau daran knüpft die andere Hälfte der IS-Propaganda an. Sie zeigt das angeblich sichere, gerechte und soziale Leben im „Islamischen Staat“, dem islamischen Utopia. Der IS verspicht neben einem gottgefälligen Leben eine soziale Absicherung durch Arbeitsplätze, kostenlose Krankenversicherung, Schulbildung, Müllabfuhr, Feuerwehr sowie Witwen- und Waisenversorgung. Und auf Nutella zum Frühstück muss man im Gottesstaat angeblich auch nicht verzichten. „Sozialismus mit Biss“ hat das eine IS-nahe Bloggerin kürzlich genannt.

Hinzu kommen Videos, die Dschihadisten bei der Freizeitgestaltung zeigen. Gemäß der IS-Darstellung findet ihr Leben in einer harmonischen Gemeinschaft statt, in der Geschichten erzählt oder zusammen Filme geschaut werden, in der man gemeinsam singt, Gedichte rezitiert, kocht oder schwimmen geht.

Theologisch gesehen spielt der Islam bei der Rekrutierung kaum eine Rolle. Zwar versucht der IS, eine direkte Linie vom Koran und den Handlungen des Propheten hin zu Abu Musab al-Zarkawi und dem IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi zu ziehen. Die meisten IS-Anhänger sind jedoch ­religiöse Analphabeten und haben weder vertiefte Kenntnis über noch gesteigertes Interesse an der Komplexität und Vielfalt der Religion. Der Baghdadi-Islam wird als religiös-politische Ideologie genutzt und dient der Indoktrinierung sowie der Legitimation der eigenen Ziele und Handlungen. Die Tatsache, dass der IS – von Al-Kaida-Vordenkern über den saudischen Großmufti bis hin zu den religiösen Autoritäten der Al-Azhar-Universität in Ägypten – als nicht­islamisch bezeichnet wird, ist für die IS-Anhänger deshalb nicht relevant.

Die Kern-Narrative und Pull-Faktoren des IS sind also:

• Der Islam werde angegriffen, sunnitische Muslime würden von Ungläubigen ermordet, es sei die Pflicht jedes Sunniten zu helfen und ins „Kalifat“ auszuwandern.

• Das „Kalifat“ sei die attraktive, menschliche und das Seelenheil versprechende Utopie und eine Alternative zur so unmenschlichen und materialistischen westlichen Gesellschaft.

• Ein neues Leben, eine neue Familie, der Kampf für eine gerechte Sache und ein direktes Ticket ins Paradies.

• Eine „Dschihadi-cool“-Jugendkultur, die insbesondere abenteuerlustige junge Männer anspricht.

Wonach genau suchen die Anhänger des IS? Basierend auf der Analyse von Aussagen und Online-Postings von 700 IS-Kämpfern lassen sich diese grob in drei Gruppen einteilen.4 Zunächst sind da die Suchenden, die eine Verbesserung ihres bisherigen Lebens möchten. Sie streben nach Aufmerksamkeit, Abenteuer und Heldentum und wollen ihre Sexualität mit mehreren Ehefrauen und Sklavinnen ausleben. Die zweite Gruppe kann man als Beschützer bezeichnen, denen es darum geht, sunnitische Muslime, insbesondere Frauen und Kinder, zu verteidigen oder zu rächen. Die dritte Gruppe besteht aus den Mit- und Nachläufern, die ihren Freunden aus Gruppe eins oder zwei folgen.

Weibliche IS-Anhänger reizt die Utopie einer gerechten islamischen Gesellschaft und das Image des rechtschaffenen, gottesfürchtigen und „echten“ Mannes, der im Gegensatz zu den materialistischen und oberflächlichen Muslimen im Westen stehen soll. Hinzu kommt, dass sich im IS-Land nicht nur Frauen, sondern eben auch Männer an die strengen Regeln halten müssen. Für einige Muslima, die zuhause von männlichen Familienmitgliedern unterdrückt werden, ist dies eine Art von Gerechtigkeit.

Fakten und Wahrheiten verbreiten

Um der IS-Propaganda wirksam begegnen zu können, sei es bei der Prävention oder der Deradikalisierung, reicht es nicht aus, den IS und seine Anhänger als barbarische Terroristen darzustellen. Gleiches gilt für Thesen, islamistische Extremisten seien psychisch labil oder krank, schwach, arm oder dumm. Für jeden Fall, auf den dies zuzutreffen scheint, gibt es Beispiele, die das Gegenteil nahelegen.

Eine pauschale Pathologisierung der IS-Unterstützer und IS-Ideologie kann deshalb zu einer gefährlichen Verkennung der Motivation der Anhänger sowie der Strategien und Ziele der Organisation führen. Denn die IS-Narrative haben bereits ein Eigenleben entwickelt. Man muss sie schon deshalb ernst nehmen, weil das die IS-Anhänger auch tun.

Was nun ist gegen diese IS-Propaganda zu tun? Positive Werbung für Demokratie, eine pluralistische Gesellschaft und den Rechtsstaat ist wichtig. Initiativen wie „Begriffswelten Islam“ der Bundeszentrale für politische Bildung, in der deutsche „YouTube Celebrities“ versuchen, Themen rund um den Islam jugendgerecht zu diskutieren, sind hilfreich im Sinne einer breiteren Präventionsarbeit. Abdullah-X („Mind of a ­Scholar, Heart of a Warrior“), ein ­Cartoon-Charakter in Form eines verunsicherten muslimischen britischen Jungen, ist ebenfalls ein interessantes Format. Auch die Graswurzelinitiative AverageMohamed.com aus den USA versucht, islamistische Propaganda zu kontern.

Die brutal-satirischen Anti-IS-­Videos des amerikanischen Außenministeriums, zum Beispiel „Wel­come to the Islamic State Land“, wurden breit kritisiert. Das dort neu gegründete Center for Global Engagement will unabhängige NGOs und Ini­tiativen fördern, statt selbst Gegen­entwürfe zu kommunizieren. Das Hacker-Netzwerk „Anonymous“ legt Webseiten von IS-Anhängern lahm, Twitter, Facebook und YouTube sperren mittlerweile in großen Umfang IS-nahe Accounts.

Das sind alles mehr oder minder wirksame Versuche, auf die Online-Offensive des IS zu reagieren. Eine fundierte, öffentliche und sowohl breit als auch auf Dauer angelegte Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Lockangeboten selbst fehlt jedoch bis heute. Gegen-Narrative sind dann erfolgreich, wenn sie auf Fakten und Wahrheiten basieren und der Überbringer der Nachricht dem Adressaten ähnlich ist. In der Konsequenz heißt das: Gegen-Narrative sollten die IS-Propaganda künftig noch stärker direkt und fakten­basiert angreifen und konkret auf dort vorhandenen Widersprüchen und Lügen aufbauen. Als Überbringer dieser Nachrichten sollten in erster Linie vom IS direkt Betroffene – Opfer, ehemalige Anhänger oder deren Familienmitglieder – auftreten.

Bei Auswertungen der Aussagen von IS-Aussteigern5 wurden beispielsweise folgende Kritikpunkte genannt:

• Der IS behaupte, gegen Assad und für die Sunniten zu kämpfen; tatsächlich töte man aber Sunniten, seien es andere Rebellengruppen oder auch Zivilisten.

• Die Brutalität im Alltag gegenüber Geiseln, Dorfbewohnern und auch unter IS-Kämpfern wird als unverhältnismäßig und ungerecht empfunden.

• Viele IS-Anführer würden sich selbst und ihren Vertrauten Privilegien gewähren und gelten deshalb als korrupt.

• Das Leben im „Kalifat“ sei sehr hart, die Versprechungen eines sorgenfreien Lebens mit Abenteuern und Heldentum seien falsch. Die Aufgaben als westliche IS-Kämpfer seien eintönig oder man werde als Kanonenfutter verheizt.

Die Schilderungen der Aussteiger sowie Berichte von Aktivisten vor Ort, beispielsweise vom Netzwerk „Raqqa is being slaughtered silently“, stehen also im Gegensatz zur IS-Propaganda. Statt eines sagenhaften, „coolen“ Lebens im islamischen Utopia verbringt man seine Zeit inmitten einer bigotten Bande von korrupten Brutalos und Mördern, die nicht für Sunniten, sondern sogar gegen diese kämpfen. Die britische Initiative Open­YourEyes.net stellt genau diese Brüche und Lügen heraus und zeigt kurze Videostatements von ehemaligen IS-Anhängern, Familienmitgliedern oder Opfern.

Forschungsinstitute, Thinktanks, NGOs und Regierungen sollten genau hier ansetzen und verstärkt die fakten- und augenzeugenbasierte Realität kommunizieren, bei der die Lügen und haltlosen Versprechungen des IS herausgestellt werden. Videoclips, Tweets, Blogs und Datenbanken mit diesen Inhalten sollten für jeden verfügbar sein, der sich auf welchem Weg und in welchem Format auch immer gegen die IS-Propaganda wenden will.

Das alles ist natürlich kein Allheilmittel gegen den IS. Aber eine faktenbasierte „Entzauberung“ der Lockangebote durch glaubwürdige Online-Gegen-Narrative könnte die Rekrutierungsversuche der Terroristen erheblich erschweren.

Alexander Ritzmann arbeitet beim Brandenburgischen ­Institut für Gesellschaft und Sicherheit und ­berät die European Foundation for Democracy in Brüssel.

  • 1Vgl. Alex P. Schmid: Radicalisation, De-Radicalisa tion, Counter-Radicalisation: A Conceptual Discussion and Literature Review, ICCT Research Paper 2013.
  • 2Vgl. John Horgan: The Psychology of Terrorism, New York 2014.
  • 3Vgl. Charlie Winter: Documenting the Virtual ‘Caliphate’, Quilliam Foundation 2015.
  • 4Mark Townsend: How a team of social media experts is able to keep track of the UK jihadis, The Guardian, 17.01.2015.
  • 5Vgl. Peter R. Neumann: Victims, Perpetrators, Assets: The Narratives of Islamic State Defectors, ICSR, King’s College London, 2015; Anne Speckhard und Ahmet S. Yayla: Eyewitness Accounts from Recent Defectors from Islamic State: Why They Joined, What They Saw, Why They Quit, Perspectives on Terrorism, 6/2015.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/ Juni 2016, S. 78-83

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