Internationale Presse

03. Jan. 2022

Enttäuschte Liebe

Viel zu lange haben die meisten Medien in Österreich Sebastian Kurz hofiert und apportiert, erst zuletzt wendeten sie sich ab. Jetzt ist Kurz Geschichte – und sowohl seine Partei, die ÖVP, als auch das Mediensystem müssen dringend reformiert werden.

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Zeichnung Frau mit brennender Zeitung
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Also doch nicht mehr als zehn Jahre: In seiner kurzen Abschiedsrede am 3. Dezember erinnerte Sebastian Kurz noch einmal daran, dass er einst angekündigt hatte, er wolle nicht länger als eine Dekade Spitzenpolitiker sein. „Es gibt so viel Schönes abseits der Politik“, vor allem, wenn man gerade das erste Mal Vater geworden sei, erzählte er. Das Gefühl, „gejagt zu werden“, habe seine Begeisterung für die Politik zuletzt eingebremst. Deshalb zieht er sich ganz zurück. Er wolle alle Vorwürfe vor Gericht aufklären; er sei weder „ein Heiliger noch ein Verbrecher“.



Vom Wunderkind zum Paria in nicht einmal fünf Jahren: Kurz’ Karriere war so steil wie ungewöhnlich. Und wie es bei vermeintlichen Heldenfiguren wie ihm so ist, stürzen sie nicht alleine, sondern ziehen auch ihr Umfeld mit in den Abgrund.

Es gibt noch keinen einheitlichen Begriff für die Affäre, die Österreichs jungen, christlich-konservativen Bundeskanzler Sebastian Kurz Anfang Oktober zum Rücktritt als Kanzler sowie Anfang Dezember zum Abschied als ÖVP-Parteichef, Fraktionschef und aus der Politik als Ganzes brachte. Wikipedia nennt sie die „ÖVP-Korruptionsaffäre“, andere Medien sprechen von der „Chat-Affäre“ (in Anspielung auf die Tausenden von Chat-Nachrichten, die die Staatsanwaltschaft ausgewertet hat) oder von der „Österreich-Affäre“ (Österreich ist der Name jenes Gratis-Boulevardblatts, das in die Affäre involviert zu sein scheint).



Der Skandal, der Kurz zu Fall brachte, spielt sich im Bermudadreieck rechtspopulistischer Politik ab: zwischen Parteiinteressen, Staatsmacht und Medienwillfährigkeit. Es geht deshalb um mehr als um den Sturz des politischen „Wunderkinds“ aus Österreich.



Kurz galt als Prototyp dafür, wie sich konservative Volksparteien einer smarten Frischzellenkur unterziehen und sich so vor dem Fall in die Bedeutungslosigkeit retten. Er war schneidig, fesch, entschlossen, politisch klar rechts blinkend, dabei aber stets artig und manierlich – schließlich wollte man nicht nur vom Proletariat gewählt werden, sondern auch vom Bürgertum.



Zu lange an der Macht

Unter Kurz kam die ÖVP regelmäßig weit über 30 Prozent, das sind Traumwerte in einer zersplitterten Parteienlandschaft. Sein Aufstieg und Fall sollten aber eine Warnung dafür sein, was passiert, wenn konservative Parteien sich einem rechtspopulistischen Anführer unterordnen.



Es geht in Österreich auch um das Schicksal seiner Partei, der Österreichischen Volkspartei, die seit über 35 Jahren an der Regierungsmacht ist. Kurz verstand es, die alte Tante ÖVP aufzuschminken. Auf die alte Volkspartei – Parteifarbe schwarz – stülpte er seine Jungmänner-Bewegung in der Signalfarbe türkis. Den so geschaffenen Hybrid taufte er „neue Volkspartei“. Das klang modern und schick und ließ vergessen, dass die ÖVP im Bund der ewige Juniorpartner war (mit zwei Ausnahmen, 2000 bis 2006 und seit 2017). In sechs von neun sogenannten „Bundesländern“ regiert sie, in Oberösterreich, Niederösterreich, Vorarlberg und Tirol ohne Unterbrechung seit dem Zweiten Weltkrieg. So viel Machtkontinuität lädt zur Korruption förmlich ein.



Eine ungesunde Nähe

Aber es geht auch um Österreichs polit-mediales System, um die berühmte „Verhaberung“, wie man hier sagt, um die „Freunderlwirtschaft“, die ungesunde Nähe zwischen Politikern und Medienmachern und ihren Journalisten, geschmiert mit ungewöhnlich hohen Volumina an öffentlichem Inseratengeld.



Deshalb trifft der Ausdruck „Österreich-Affäre“ vielleicht am besten diese Causa, die das politische System binnen drei Jahren – nach der „­Ibiza-Affäre“ 2019 – zum zweiten Mal schwer ins Wanken brachte. Nicht nur, weil er den Namen des involvierten Boulevardblatts Österreich in sich trägt, sondern weil es deren ganze Tragweite symbolisiert. Und deshalb ist die Rolle der Medien in der „Österreich-Affäre“ derzeit eine mehrfache: Sie agieren als Aufdecker und Berichterstatter, sie sind – zum Teil und wenn, dann bis in die höchsten Chefetagen – aber auch Involvierte.



Geht man davon aus, dass Skandale eine reinigende Kraft haben, dass sie, wie der Soziologe Sighard Neckel es formuliert, die „Stellhölzchen der Macht“ durcheinandermischen und neu ordnen, dann stehen in Österreich mehr als nur Neuwahlen an. Der reguläre Wahltermin wäre 2024. Aber was man früher „italienische Verhältnisse“ nannte, trifft jetzt auf Österreich zu. Binnen vier Jahren erlebte das Land sechs Regierungschefs. Kurz’ Nachfolger, der ehemalige Innenminister Karl Nehammer, der nun einspringen musste, gilt als Mann des Übergangs. Er muss für stabile Verhältnisse sorgen.



Dabei bräuchte es eine Revolution, einen demokratiepolitischen Neuanfang, da sind sich ausnahmsweise einmal linksliberale Medien, die Sebastian Kurz immer schon kritisch gegenüberstanden – wie der Standard, die Wochenzeitungen profil und Falter –, einig mit ihren konservativen Kollegen in den überregionalen Zeitungen wie der Presse und ihren regional ver­ankerten, für die Meinungsbildung in ÖVP-regierten Bundesländern besonders wichtigen Blättern wie Kleine Zeitung, Salzburger Nachrichten, Tiroler Tageszeitung oder Vorarlberger Nachrichten.



Die staatspolitischen Defizite, die die „Ibiza-“ und die „Österreich-Affäre“ ­hervorbrachten, sind immens. In den Medien wird deshalb oft der Vergleich mit der „Mani pulite“-Bewegung Italiens herangezogen, die das Land nun auch bräuchte. Ein Antikorruptions-Volksbegehren warb bis Anfang Dezember um Unterschriften. Ganz oben auf der Agenda steht eine Reform der Parteienfinanzierung. Parteien in Österreich bekommen die vermutlich höchste staatliche Förderung in Europa; gleichzeitig konnten sie bis vor Kurzem ano­nyme Spendengelder akquirieren, ohne darüber öffentlich Rechenschaft ablegen zu müssen.



Wie viel eine Partei für ihren Wahlkampf ausgeben darf, ist zwar gesetzlich geregelt und begrenzt, aber Verstöße werden nur mit geringen Geldbußen geahndet. Unter ÖVP-Chef Kurz wurde beispielsweise das Wahlkampfbudget 2017 massiv überzogen – sein Wahlsieg wurde also auch „erkauft“ und die Öffentlichkeit darüber bewusst getäuscht.



 Ebenfalls europaweit einzigartig ist Österreichs System der öffentlichen Inseratenbewirtschaftung, für das sich in den österreichischen Medien inzwischen der Begriff „Inseratenkorruption“ eingebürgert hat.



Kontrolle und Medienlenkung

Die offizielle staatliche Medienförderung beläuft sich auf nur neun Millionen Euro im Jahr. Aber daneben hat sich eine indirekte, intransparente und vor allem völlig undemokratische zweite Geld­transferschiene ­etabliert: über Inserate, die von Ministerien, dem Kanzleramt und der Regierung über ausgelagerte Unternehmungen geschaltet werden. Rund 50 Millionen Euro wurden da pro Jahr investiert. Hauptprofiteur sind die auflagenstarken Boulevardmedien, denn wer mehr druckt, bekommt mehr Inserate. Nach dem gleichen Muster verfahren die Bundesländer. Wenig überraschend erhalten jene Medien, die den jeweiligen Regierenden nahestehen, mehr Anzeigen als kleine, kritische Publikationen. Experten fordern ein Ende dieser Praxis – stattdessen sollte die Presseförderung ausgebaut und an transparente und nachprüfbare Qualitätskriterien geknüpft werden.



Sebastian Kurz hat dieses System nicht erfunden, im Gegenteil, seine Wurzeln hat es in der von den Sozialdemokraten regierten Stadt Wien, die allein für Inserate rund 20 Millionen Euro pro Jahr ausgibt. Aus deren Stall stammte Kurz’ Vorvorgänger als Bundeskanzler, Werner Faymann, der massiv auf den Kauf von freundlicher ­Berichterstattung setzte. Aber Kurz hat dieses System perfektioniert: Er kombinierte die Inseratenkorruption mit der sogenannten „message control“, ­einem rigiden PR-Agenda-Setting. Nahestehende Medien wurden wöchentlich mit den aus Sicht der ÖVP wichtigen Themen und fertig aufbereiteten Fact Sheets versorgt, sie wurden auch zu „Hintergrundgesprächen“ geladen. Kritische Medien blieben außen vor.



Wie weit der Wunsch nach Kontrolle und Medienlenkung ging, offenbarten dann die Anfang Oktober bekannt gewordenen Chat-Protokolle, die zu Hausdurchsuchungen in der ÖVP-Parteizentrale und bei hochrangigen ÖVP-Politikern und dann letztlich zum Sturz des Bundeskanzlers führten. Aus den auf beschlagnahmten Handys rekonstruierten Gesprächen geht hervor, dass das engste Team um Kurz ab dem Jahr 2016 zuerst gefälschte, für den damaligen Außenminister Kurz vorteilhafte Umfragen erstellen ließ und diese dann im Gratisblatt Österreich platzierte.



Sie sollten mithelfen, Kurz als nächsten Parteichef einzusetzen und die damalige große Koali­tion zu destabilisieren. Bezahlt wurden diese Fake-Umfragen zweckwidrig mit Steuergeld, das von einem von Kurz’ engsten Vertrauten namens Thomas Schmid, einem hohen Finanzbeamten, im ÖVP-regierten Finanzministerium abgezweigt wurde. „So weit wie wir bin ich echt noch nie gegangen. Geniales Investment. Und Fellner ist ein Kapitalist. Wer zahlt, schafft an. Ich liebe das“, schrieb Schmid in einer Chat-Nachricht. Sie wurde zum Symbol für die Korruptheit des Systems Kurz.



Wenn auf der Hinterbühne anders gesprochen und gehandelt wird als auf der Vorderbühne, dann ist die Glaubwürdigkeit dahin. Ein Beispiel: Der ungarische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány hatte 2006 in einer internen Parteisitzung zugegeben, das Volk über Jahre belogen zu haben. Die Tonbandaufnahme gelangte an die Öffentlichkeit, es folgten gewalttätige Massenproteste, 2009 trat er zurück.



Bei Sebastian Kurz ging es rascher. Das mediale Interesse an seiner Person ist schon nach seinem Abschied aus dem Kanzleramt überraschend schnell verschwunden. Das mag nicht allein an den frech frisierten Umfragen liegen, dem strafrechtlich relevanten Tatbestand, den die Staatsanwaltschaft verfolgt. Sondern an den abgrundtiefen Sitten im Team Kurz, die durch die Chats öffentlich wurden. Sie strotzen nur so vor Fäkalsprache, Gehässigkeit, Misogynie. Da wurde unter anderem bekannt, dass Kurz seinen Vorgänger als Parteichef, Reinhold Mitterlehner, einen „Arsch“ genannt hatte. Über Medien und deren Arbeit wird ebenfalls unfein gesprochen.



Auch dass die Kurz-Partei ausgerechnet mit Österreich-Chef Wolfgang Fellner fraternalisierte, dessen Ruf in der Branche schon zuvor mehr als schlecht war, hat zum demonstrativen Desinteresse der anderen Redaktionen an Kurz’ Comebackplänen beigetragen. Fellner steht zudem wegen Belästigungsvorwürfen vor Gericht, die seinen Ruf weiter beschädigt haben. Führende Politikerinnen boykottieren seinen Privat-TV-Sender. Es waren nur noch parteinahe Portale wie die jüngst gegründete Online-Plattform „Exxpress“, die Kurz’ Entlastungsversuchen in der Österreich-Affäre Platz gaben.



Versagen in der Pandemie

Zu all dem kommt auch noch Österreichs katastrophales Pandemie-Management, für das ­Sebastian Kurz die Verantwortung trägt. Er hatte die Bekämpfung der Pandemie von Anfang an zur Chefsache erklärt, statt Experten sprachen Minister zum Volk, die Verpolitisierung des Virus weckte noch mehr Misstrauen. Jetzt bekommt das Land die Rechnung präsentiert.



Österreich hat die niedrig­ste Impfquote Westeuropas und musste Mitte November als erstes mitteleuropäisches Land erneut einen Lockdown verhängen. Kurz hatte im Sommer noch vollmundig verkündet, die Pandemie sei für Geimpfte vorbei. Aus Rücksicht auf die Landtagswahlen in Oberösterreich Ende September wartete er mit der Einführung der 3G-Regel am Arbeitsplatz und 2G in der Gastronomie. Die Impfkampagne, die im Kanzleramt von einem seiner wichtigsten Mitarbeiter koordiniert wurde, gegen den die Staatsanwaltschaft in der „Österreich-Affäre“ ebenfalls ermittelt, machte im Sommer Pause. Dabei warnte der Expertenstab der Regierung eindringlich davor, dass Österreich für die Virensaison im Herbst nicht gewappnet sein werde, wenn das Impfen nicht voranschreite.



Kein Kommentar, der Kurz rückblickend nicht Versagen und falsche Versprechungen vorgeworfen hat – in einem Atemzug mit den konservativ geführten Bundesländern, die dank des Föderalismus viel Spielraum bei den Corona-Maßnahmen und dem Impfmanagement haben.



In der Pandemiebekämpfung versagt, beim Frisieren von Umfragen und Tricksen mit Parteiförderungen ertappt: Vom „neuen Stil“, den Kurz versprochen hatte, war nicht mehr viel übriggeblieben. „Staatskrise“, ja sogar „Staatsversagen“: Die Kommentatoren fanden schon vor dem Abgang von Sebastian Kurz deutliche Worte, um den Status quo zu beschreiben.



Dr. Barbara Tóth ist Historikerin und Autorin. Sie hat zahlreiche politische Sachbücher veröffentlicht und schreibt für die Wiener Wochenzeitung Falter über die Themen Politik, Medien und Gesellschaft. 2017 erschien ihr Buch (mit Nina Horaczek) „Sebastian Kurz: Österreichs neues Wunderkind?“.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2022, S. 120-123

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