Endspurt ums aserbaidschanische Erdgas
Auf der Suche nach der idealen Pipeline
Das Pipeline-Projekt Nabucco galt jahrelang als das Synonym für die Diversifizierung der europäischen Gasversorgung. Nabucco, durch das 31 Milliarden Kubikmeter Erdgas von Aserbaidschan über die Türkei in die beteiligten Länder Bulgarien, Rumänien und Ungarn sowie ins österreichische Baumgarten geleitet werden sollten, galt als signifikanter Beitrag zu Europas Energiesicherheit. Heute stellt sich die Frage: Wäre die Trans Adriatic Pipeline die bessere Alternative?
Aufgrund hoher Projektkosten und weil unsicher blieb, wie viel Erdgas tatsächlich zum Transport zur Verfügung stünde, musste das Nabucco-Projekt einige Rückschläge hinnehmen: So stieg RWE aus dem Pipeline-Projekt aus, und der ungarische Mineralölkonzern MOL stellte seine Zahlungen für die Projektentwicklung ein.
Das Konsortium reagierte auf diese Rückschläge und die wachsende Konkurrenz kleinerer Pipeline-Projekte mit der Entwicklung einer sparsameren Alternative. Das deutlich abgespeckte „Nabucco West“ sieht zwar eine ähnliche Verlaufsstrecke wie der ursprüngliche Entwurf vor, soll das Erdgas allerdings nur von der türkisch-bulgarischen Grenze bis nach Österreich befördern. Eine skalierbare Beförderungskapazität von 10 bis 23 Milliarden Kubikmeter (Mrd. m3) pro Jahr soll es „Nabucco West“ zudem erlauben, sich an zusätzliche Gaslieferungen anzupassen, soweit diese zur Verfügung stehen.
Während Nabucco also das ursprüngliche Projekt neuen Marktbedingungen anzupassen versucht, gelang es dem Rivalen, der Trans Adriatic Pipeline (TAP), sich vor allem aufgrund eines soliden Businessplans als ernstzunehmender Konkurrent bei der Beförderung von Erdgas aus dem aserbaidschanischem Feld Shah Deniz II nach Europa zu etablieren.
Erst kürzlich trafen sich Minister aus Griechenland, Italien und Albanien, um in Athen ein Intergovernmental Agreement (IGA) für ein Gas-Pipeline-Projekt zu unterzeichnen. In diesem trilateralen Abkommen verpflichten sich die drei Regierungen – durch ihre Unterstützung für das TAP-Projekt – den südlichen Gaskorridor nach Europa zu öffnen. Das IGA ist auch ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung des TAP-Projekts, schließlich untermauert die Zustimmung durch drei Regierungen die Qualität der betriebswirtschaftlichen, technischen und strategischen Architektur der Trans Adriatic Pipeline.
Der jahrelange Auswahlprozess zur Entscheidung, welches Pipeline-Projekt nun den Zuschlag für den Transport von Erdgas aus dem Shah Deniz II nach Europa erhält, steht kurz vor seinem Ende. Bis Ende März hatte jedes Projekt ein „Decision Support Package“ vorzulegen, um das Shah-Deniz-Konsortium noch zu überzeugen, bevor Mitte dieses Jahres eine endgültige Entscheidung getroffen wird. Diese wird sich auf acht Prinzipien stützen, die sowohl finanzielle als auch technische und operative Kriterien umfassen. Weiter wird das Konsortium prüfen, welches Projekt die besten Bedingungen für den Gas-Export bietet; hierbei spielen sowohl Marktpreise als auch Zugangsentgelte und Zölle eine Rolle. Von den Projekten wird außerdem erwartet, dass sie in der Lage sind, ihre Transportkapazitäten an zusätzliche Gaslieferungen anzupassen. Nicht zuletzt wird ein entscheidendes Kriterium sein, inwieweit es den Projekten gelingt, politische Ziele wie eine Verbesserung der Versorgungssicherheit zu erreichen.
Die TAP hat bei diesem Wettstreit um die wichtige Zusage aus Aserbaidschan im vergangenen Jahr stark an Boden gewinnen können; sie ist nunmehr aus dem „Windschatten“ Nabuccos herausgetreten und geht gut positioniert in den „Endspurt“. Die kürzlich vollzogene Unterzeichnung des IGA spielte hierbei eine herausragende Rolle. Doch bereits im Februar 2012 war die TAP durch das Shah-Deniz-Konsortium als “priority southern route“ ausgewählt worden. Es folgten diverse Kooperationsvereinbarungen mit dem Shah-Deniz-Konsortium und mit der Trans-Anatolian Pipeline, Absichtserklärungen zur Kooperation mit der Ionian Adriatic Pipeline sowie ein Host Government Agreement mit Albanien. Ergänzt wurden die Vorbereitungen für die TAP durch ausgedehnte geologische Untersuchungen und Umwelt- und Sozialverträglichkeitsprüfungen in Italien und Albanien.
TAP-Kritiker führen an, dass die Energieversorgung in Italien, dem Zielland der TAP, bereits ausreichend gesichert und diversifiziert ist. Nabucco hingegen, jahrelang das Vorzeigeprojekt der EU, könne sowohl die derzeit von einem großen Lieferanten abhängigen Märkte in Südosteuropa wie Bulgarien, Rumänien und Ungarn versorgen als auch über die Drehscheibe im österreichischen Baumgarten das Shah-Deniz-Gas in andere profitable Märkte im Nordwesten Europas liefern. Nabucco sei bislang das einzige Pipeline-Projekt, das auch über diese Nordverbindungen verfügt und damit Nordeuropa versorgen kann.
Italien schaut gen Norden
Bei genauerem Hinsehen erweist sich diese Annahme jedoch als nicht so eindeutig, denn auch die TAP verfügt über das Potenzial, diese Märkte zu beliefern. Snam Rete Gas, der italienische Fernleitungsnetzbetreiber für Erdgas, hat einen massiven Investitionsplan für den Zeitraum 2012 bis 2015 angekündigt. So können sowohl die Flexibilität der italienischen Import- und Durchleitungskapazitäten verbessert als auch die Verbindungen zu anderen europäischen Ländern wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien verstärkt werden.
Zwei Aspekte dieses Vorhabens sind von besonderem Interesse für die wirtschaftliche und strategische Attraktivität der TAP: Die Investitionen in die Transportkapazitäten von Süd- nach Norditalien würden um etwa 9,6 Mrd. m3 Gas pro Jahr erhöht. Und es sollen auch die Kapazitäten für den Gastransport in Gegenflussrichtung, so genannte Reverse-Flow-Transporte, von Italien nach Deutschland geschaffen werden. Zu diesem Zweck unterzeichnete Snam kürzlich eine Absichtserklärung mit dem in Belgien ansässigen Erdgasnetzbetreiber Fluxys, der die Gasmärkte von Italien, Belgien, der Schweiz und Deutschland miteinander verbinden soll. Laut Schätzungen könnten somit ab 2018 Gasmengen in Höhe von bis zu 15 Mrd. m3 pro Jahr gemeinsam zwischen diesen Ländern gehandelt werden.
Solche Entwicklungen würden es ermöglichen, Shah-Deniz-Gas in nordeuropäische Märkte einzuspeisen. Das ist keine schlechte Perspektive, denn schließlich geht man bei diesen Märkten von einem Wachstum der Gasnachfrage aus. Im Gegenzug wird den Käufern des aserbaidschanischen Gases der Zugang zu den liquidesten Märkten in Europa eröffnet, womit sie von neuen Handelsmöglichkeiten sowie einer höheren Anzahl an potenziellen Käufern und Kunden profitieren können.
Die Baumgarten-Frage
Es ist alles andere als gewiss, ob das im Nabucco-Projekt favorisierte Verteilerzentrum Baumgarten tatsächlich ohne weitere Investitionen in das bestehende Überlandleitungsnetz zusätzliche Gasmengen in den westdeutschen Markt liefern könnte. Derzeit existieren drei Strecken, um Gas von Baumgarten nach Deutschland und Italien zu exportieren: Nach Deutschland über die Tschechische Republik oder über das österreichische Überlandleitungsnetz, sowie nach Italien über die Trans Austria Gas (TAG) Pipeline.
Die Berechnung und Vorhersage der tatsächlichen Kapazitätsnutzung auf diesen Strecken sind überaus schwierig. Zwar veröffentlichen die Übertragungsnetzbetreiber Daten über die täglich gebuchten Transportleistungen, diese entsprechen jedoch nicht zwangsläufig den tatsächlich genutzten Kapazitäten. Dennoch kann man auf Grundlage der Transparenzplattform des Verbands Europäischer Fernleitungsnetzbetreiber für Gas (ENTSOG ist die englische Abkürzung) Hinweise auf die gebuchten und verfügbaren Netzkapazitäten erhalten.
Insgesamt lässt sich dabei erkennen, dass die ungenutzten verbindlichen Beförderungskapazitäten zur Einspeisung des Erdgases in den deutschen Markt sehr begrenzt sind. Hinzu kommt, dass viele Transitpunkte an den österreichischen Grenzen mit Deutschland und der Tschechischen Republik gleichzeitig auch Einspeisungsorte von russischem Gas nach Europa sind, wodurch die freien Beförderungskapazitäten zusätzlich beschränkt werden. Die nutzbare Durchleitungskapazität ist der vor Ort vorhandenen Importkapazität somit nicht gewachsen; es stehen nur unterbrechbare Kapazitäten in bedeutenden Mengen zur Verfügung.
Im Gegensatz dazu könnte das durch die TAP beförderte Gas den österreichischen Markt über die Trans Austria Gas Pipeline sowie virtuelle und physische Reverse-Flows erreichen. Dies würde das aserbaidschanische Gas nicht nur zum Verteilerzentrum in Baumgarten liefern, sondern könnte überdies die Transportkapazität des Shah-Deniz-Gas in andere, in Bezug auf Liquidität und Nachfrage attraktivere, europäische Märkte verstärken.
Gasmarktpotenziale in Südosteuropa
Anders als Kritiker einwenden, wäre TAP auch durchaus in der Lage, Shah-Deniz-Gas in die wachsenden Märkte des Balkans und Südosteuropas einzuspeisen. Mit Investitionen in Höhe von anderthalb Milliarden Euro in Griechenland und einer Milliarde Euro in Albanien würde TAP zur Schaffung und Entwicklung neuer Märkte in dieser Region beitragen. Chancen bestehen beispielsweise auch in der Verknüpfung mit weiteren geplanten Pipelines wie der Ionian Adriatic Pipeline, der Verbindungspipeline Griechenland-Bulgarien und dem West Balkan Ring.
In Albanien, wo ein Gas-Binnenmarkt bislang völlig fehlt, könnte TAP die Isolation des Landes beenden, indem sie es an ein entwickeltes Gassystem mit einer verlässlichen Gasquelle sowie an die Gasmärkte in Italien und Griechenland anschließt. Der westliche Balkanstaat könnte dadurch nicht nur als reines Transitland eine Rolle spielen, sondern besäße zusätzlich das Potenzial, eine Drehscheibe für den gesamten europäischen Energiehandel zu werden. Auch wurden bereits verschiedene Abkommen mit Übertragungsnetzbetreibern auf dem Balkan und der südeuropäischen Region getroffen, um Verbindungen zu Ländern wie Mazedonien, Serbien, Kosovo, Montenegro, Bosnien-Herzegowina und Kroatien zu ermöglichen. Bestehende und geplante Infrastrukturprojekte der Ionian Adriatic Pipeline würden gegebenenfalls die Möglichkeit bieten, eine Verbindung zwischen den östlichen Balkanstaaten, Slowenien und Ungarn herzustellen.
Durch die geplante Verbindungspipeline Griechenland-Bulgarien oder durch Reverse-Flows könnte die TAP außerdem auch Bulgarien mit Energie versorgen. Der griechische Übertragungsnetzbetreiber Desfa ließ kürzlich das Interesse für die Reservierung von Reverse-Flow-Kapazitäten von Griechenland nach Bulgarien erfragen. Diese wurden bereits zum Ende der Gaskrise 2009 genutzt, um Erdgas aus einem griechischen Flüssigerdgas-Terminal in die Bulgarien-Griechenland-Pipeline einzuspeisen.
Eine wachsende Anzahl an geplanten Pipelines zur Verbindung von Bulgarien und Europa könnte, wenn sie verwirklicht würden, das bulgarische Netzwerk an den gemeinsamen europäischen Gasmarkt anschließen. Hierbei würde die Diversifizierung der Verlaufsstrecken und des Gastransports gesichert. Und langfristig könnte die zunehmende Interkonnektivität auch eine Preiskonvergenz zwischen der Balkanregion und dem europäischen Markt mit sich bringen.
Der Entscheidungsprozess um das Shah-Deniz-Gas nähert sich seinem Ende, die beiden Finalisten TAP und Nabucco West halten ihre Schlussplädoyers. Jenseits subjektiver Einschätzungen zeigen die Analysen, dass die TAP in den vergangenen Jahren deutliche Fortschritte gemacht hat – und mittlerweile auf Augenhöhe mit Nabucco West konkurriert. Den Konsortiumspartnern stehen einige schwierige Entscheidungen bevor, doch eine Sache bleibt klar: Der geplante südliche Gaskorridor, durch den die europäischen Märkte Zugang zum kaspischen Erdgas erhalten, wird in diesem Jahr einen großen Schritt nach vorn machen. Unabhängig davon, welches Projekt im Juni 2013 grünes Licht erhält, kann die anstehende Entscheidung als Erfolg für die EU und die Sicherheit und Diversifizierung ihrer Energieversorgung gelten.
Prof. Dr. Friedbert Pflüger ist Direktor des European Centre for Energy and Resource Security (EUCERS) am Londoner King’s College. Er berät die albanische Regierung in Fragen der Energiepolitik.