Ende einer Erfolgsgeschichte
Militärcoup, Hungersnot, Rebellion, Sezession: das malische Desaster
Der Wachmann vor der Assemblée Nationale hockt lässig auf seinem Klappstuhl und winkt freundlich. „Madame, hier geht’s rein.“ Ganz umstandslos darf man ins Parlament hineinspazieren, kein Ausweis wird verlangt, keine Metalldetektoren piepen, die Wachleute sind unbewaffnet, direkt vor dem Eingang liegt der größte Markt der Stadt, da machen sich Pistolen nicht so gut. Ich halte dem Wachmann meinen Rucksack zur Inspek-tion hin. „Mais non“, sagt er amüsiert. „Pourquoi?“ Aber nein, warum denn?
Willkommen in Bamako, Mali, einem Land, das gerade einen Krisenweltrekord aufgestellt hat: ein Militärcoup in der Hauptstadt, eine drohende Hungersnot im ganzen Land, dazu eine kombinierte Rebellion-Sezession-Okkupation im Norden unter Beteiligung Al-Kaida-naher Islamisten. All das innerhalb weniger Monate. Und dieser Kerl in seiner Uniform will noch nicht mal wissen, wer hier mit welchem Gepäck ins Parlament marschiert. Das gleiche Bild vor Ministe-rien oder Militärbasen. Eigentlich sympathisch, diese freundliche Lässigkeit. Und gleichzeitig haarsträubend.
Mali, das begreift man schon nach ein paar Tagen in diesem Land, eignet sich nicht gut für den Ausnahmezustand. „Wir sind eine Gesellschaft des Redens und des Palavers“, sagt Ousmane Sy, und das ist Wahrheit und Lebenslüge zugleich. Sy, ein baumlanger Agrarökonom und ehemaliger Minister, verkörpert ein Stück malische Geschichte. Er gehörte einst zu jener Demokratiebewegung, die 1991 die Diktatur stürzte und in monatelangen Debatten und Konferenzen eine demokratische Verfassung zimmerte.
Damit begann die viel zitierte Erfolgsgeschichte dieses Entwicklungslandes, das von nun an demokratische Wahlen abhielt, den Dauerkonflikt mit der Tuareg-Minderheit im Norden per Friedensvertrag regelte, die Auflagen von IWF und Weltbank widerspruchslos hinnahm – und für all das mit -üppiger Entwicklungshilfe bedacht wurde. „Klingt toll, nicht wahr?“, sagt Ousmane Sy mit bitterem Lächeln. „So toll, dass nie einer laut sagen wollte, was hier alles schief gelaufen ist.“
Bis dann die malische Erfolgsstory Anfang dieses Jahres ein abruptes Ende nahm. Der Konflikt im Norden war mitnichten gelöst. Ende 2011 waren malische Tuareg-Kämpfer nach erfolglosem Kriegseinsatz für ihren Sponsor Muammar al-Gaddafi aus Libyen in die Heimat zurückgekehrt, wo sie sich an die Spitze eines schwelenden Aufruhrs im Norden stellten, die überforderte malische Armee beiseite fegten und den unabhängigen Tuareg-Staat „Azawad“ ausriefen.
Malis Armee leistete den Rebellen unfreiwillig Schützenhilfe. Wütend über schlechte Ausrüstung und die unfähige Regierung meuterten einige Soldaten und stürzten dabei – eher versehentlich – den Präsidenten Amadou Amani Touré. Die vorläufigen Sieger dieses Chaos sind radikal-islamistische Milizen, mit denen sich die Rebellen unvorsichtigerweise verbündet hatten, darunter „Al-Kaida im Maghreb“. Sie jagten den Sezessionisten binnen kurzem das Territorium ab und kontrollieren seitdem die nördlichen Städte Kidal, Gao und Timbuktu. Ihnen geht es nicht um einen unabhängigen Norden, sondern darum, ganz Mali der Scharia zu unterwerfen.
So weit, sehr verknappt, das aktuelle malische Desaster. Vielleicht ist es müßig, jetzt nach den tieferen Ursachen der malischen Staatskrise zu suchen, aber Ousmane Sy meint, sie ziemlich genau verorten zu können: „Wir haben die Dezentralisierung unseres Staatswesens nicht wirklich umgesetzt.“ Das klingt zunächst etwas bizarr – als wäre die Existenz religiöser Terrorgruppen eine Frage des Föderalismus. Aber vielleicht hat er recht. Wie viel Macht und Ressourcen das Zentrum an die Peripherie abgibt, war immer schon eine Schicksalsfrage in Afrika, dessen Völker zu Kolonialzeiten willkürlich zu staatlichen Gebilden zusammengenäht wurden.
Mali ist kein Somalia, es hat staatliche Institutionen und zumindest in den Städten eine öffentliche Infrastruktur. Aber es hat mit Bamako eben auch eine aufgeblähte, gefräßige Hauptstadt. Die Peripherie trocknete in den vergangenen Jahren im übertragenen wie im wörtlichen Sinn aus – durch politisch-wirtschaftliche Vernachlässigung und Dürreperioden.
In Mali nennt man Ousmane Sy den „Vater der Dezentralisierung“. Ihn hatte die erste -demokratisch gewählte Regierung Anfang der neunziger Jahre beauftragt, eine neue Verwaltungsstruktur zu schaffen, um mehr Kompetenzen und Mittel „nach unten“ zu verteilen. Die Strukturen – Regionen, Kreise, Gemeinden – sind heute vorhanden, aber der Fluss der Mittel geriet irgendwann ins Stocken und versiegte unter dem letzten Präsidenten Touré fast ganz. Bamako wurde wieder zum Wasserkopf und zum Inbegriff der Korruption. Vor allem im Norden entstand ein staatliches Vakuum. Und ein Gebiet für Drogen- und Zigarettenschmuggler, militante Islamisten und Terroristen.
Derzeit bildet Sy junge Leute aus, die im Land mit den Bürgern diskutieren sollen, was sie von Staatsvertretern einfordern können. „Certification des citoyens“ heißt das Projekt. Das Bürgerzeugnis für den Staat. Anfang 2013 soll es losgehen. Wenn es den Staat in dieser Form dann noch gibt.
ANDREA BÖHM schreibt für das Politikressort der ZEIT. Als Korrespondentin bereist sie Afrika seit vielen Jahren.
Internationale Politik 5, September/ Oktober 2012, S. 130-131