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28. Okt. 2024

Einwurf aus der Ethik: Klimahandeln muss mindestens enkeltauglich sein

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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In „normalen“ Zeiten ist der Deutsche Ethikrat meist zu Themen in der Bio- und Medizinethik gefragt. So betrafen seine Stellungnahmen beispielsweise die Transplantationsmedizin oder den assistierten Suizid. Dass sich der Ethikrat mit ethischen Fragen des Umgangs mit den Folgen und Lasten des Klimawandels beschäftigt, zeugt davon, dass wir in einer „neuen Normalität“ leben – und ist mehreren konkreten Anlässen geschuldet.

Auf der Herbsttagung des Rates im September 2022, die eigentlich den Folgen der Corona-Pandemie für Jugendliche gewidmet war, haben Schülerinnen und Schüler dem Ethikrat ins Aufgabenbuch geschrieben, sich mit dem Thema Klimagerechtigkeit zu beschäftigen. Ein weiterer Anlass waren die auch in Deutschland bereits für viele Menschen spürbaren gesundheit­lichen Folgen des Klimawandels. Schließlich steht dieses Thema mittlerweile auf der Agenda vieler Ethikräte in Europa. 

Als unabhängiges Gremium der Politik- und Gesellschaftsberatung soll der Ethikrat laut Gesetz einerseits unliebsame Themen zur Sprache bringen, andererseits aber auch Orientierung geben. Daher sollte es weniger um ein rein wissenschaftliches Gutachten gehen, wie etwa beim Sachverständigenrat für Umweltfragen oder dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen. Stattdessen sollten normative Leitlinien entwickelt und substanzielle Empfehlungen abgegeben werden. Daher hat sich der Deutsche Ethikrat nach langer und kontroverser Diskussion mit vielen Unstimmigkeiten zu einer Stellungnahme zum Thema Klimagerechtigkeit entschlossen. In der Erarbeitung konnten nicht alle unterschiedlichen Positionen integriert werden, was zu einem Sondervotum von drei der 24 Mitglieder führte. Die Ergebnisse wurden im März 2024 in der Bundespressekonferenz vorgestellt.

Bei der Ausarbeitung der Stellungnahme waren drei Dimensionen der Gerechtigkeit leitend: die innergesellschaft­liche, die internationale und die intragenerationelle. Alle drei müssen in der Klimadebatte und der Bemessung von Maßnahmen mitbedacht werden; eine Dimension darf nicht auf Kosten der anderen erkauft werden. So darf beispielsweise Klimaschutz nicht mit vermehrter sozialer Ungerechtigkeit erkauft werden. Ebenso dürfen kurzfristige Entlastungen, wie mit verschiedenen Technologien des Climate Engineering versprochen, nicht zu unzumutbaren Lasten für zukünftige Generationen führen.

Grundsätzlich kann das Thema Klimagerechtigkeit aus mindestens drei Perspektiven betrachtet werden: erstens aus einer egalitaristischen Perspektive. Hier soll – vereinfacht gesprochen – alles gleich verteilt werden: Lasten und Schäden ebenso wie Verantwortlichkeiten. Möglich ist auch eine prioritaristische Betrachtung, bei der Schlechtergestellte bevorzugt behandelt werden, etwa im Hinblick auf zumutbare (finanzielle) Belastungen. Die dritte Perspektive fragt mit dem Ansatz der Suffizienz nach dem „Genug“: Was reicht für ein gutes Leben aus? 

Ausgehend von dieser dritten Perspektive schlägt der Ethikrat gemeinsam mit dem Grazer Philosophen Lukas H. Meyer ein „suffizientaristisches“ Schwellenwertkonzept vor, sowohl für die nationale als auch für die internationale Ebene. Für Bereiche wie Ernährung, Mobilität und Gesundheit sollen in demokratisch organisierten Aushandlungsprozessen gemeinsam Schwellenwerte als Mindestbedingungen für ein gutes und gelingendes Leben festgelegt werden. Für Schlechtergestellte dienen diese als Zielpunkt der ­Entwicklung, während Bessergestellte im Einsatz für Klimaschutz in die Pflicht genommen werden – vor allem diejenigen, die ihr Leben weit oberhalb der jeweiligen Schwellenwerte führen können.

Es ist unbestritten, dass dies ein schwieriger Prozess ist. Schon auf nationaler Ebene erweist sich die Aushandlung konkreter Klimaschutzmaßnahmen immer wieder als große Herausforderung. Schnell werden Ungerechtigkeiten diagnostiziert, was zu einer allzu raschen Ablehnung einzelner Maßnahmen führt.

Auf internationaler Ebene haben industrialisierte Länder eine eindeutige Verpflichtung, sich dezidiert und effektiv für Klimaschutz zu engagieren und dabei die ökonomisch und technisch schwächeren Länder des sogenannten Globalen Südens – die häufig besonders heftig vom Klimawandel betroffen sind – substanziell zu unterstützen. Verstärkend wirkt hier auch, dass die reichen Länder gemäß dem Verursacherprinzip stark zum Klimawandel beitragen und gleichzeitig die größten Nutznießer der Verbrennung fossiler Energieträger sind. Bisherige Zusagen an den Globalen Süden reichen nach Meinung des Ethikrats bei Weitem nicht aus.

Ein Streitpunkt im Ethikrat war die Frage, wie zügig und global abgestimmt sich die Umstellung auf klimaneutrales Handeln vollziehen soll. Eine Minderheit im Deutschen Ethikrat hat sich in einem Sondervotum dafür ausgesprochen, dass Staaten erst dann handeln sollen und Bürgerinnen und Bürger belasten dürfen, wenn international wirksame und überprüfte Klimaschutzmaßnahmen vereinbart und in Kraft gesetzt sind. Angesichts der gravierenden Auswirkungen des Klimawandels auf die Lebensgrundlagen und der damit verbundenen Ungerechtigkeiten jetzt und in Zukunft ist ein Abwarten und Verzögern von wirksamen Maßnahmen nach Auffassung der ­großen Mehrheit des Rates ethisch jedoch nicht zu rechtfertigen. Klimahandeln muss mindestens enkeltauglich sein. Es wäre unverantwortlich, auf nationale und europäische Klimaschutzmaßnahmen nur deshalb zu verzichten, weil die globale Umsetzung entsprechender Maßnahmen zur ­Begrenzung der Erderwärmung noch nicht gesichert erscheint.

Die weitaus anspruchsvollere Frage ist, wie Kinder und vor allem zukünftig Geborene, die heute noch keine Stimme abgeben können, in Entscheidungsprozesse einbezogen werden sollen. In der letzten Empfehlung seiner Stellungnahme hat sich der Ethikrat daher auf die intergenerationelle Gerechtigkeit fokussiert: „Die Perspektiven und Interessen junger Menschen und zukünftiger Generationen sollten in der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung über Maßnahmen zur Bewältigung des Klimawandels ein größeres Gewicht erhalten. Entsprechende Instrumente, die die Berücksichtigung dieser Perspektiven und Interessen politisch implementieren und institutionalisieren, müssen entwickelt beziehungsweise weiter ausgebaut werden.“

Eine Forderung, der jeder und jede zustimmen kann, schließlich ist man selbst nicht betroffen. In der Philosophie wird diese Frage als Non-Identity-Problem adressiert. Auf die Klimadebatte übertragen heißt das: Wir wissen einfach nicht, wie zukünftige Generationen leben wollen. Auch der Ethikrat konnte dieses grundlegende Problem nicht lösen. Schließlich wurde der Klimagerechtigkeit eine Pflichten­ethik zugrunde gelegt, die viele unterschiedliche Akteure in die Verantwortung nimmt. So sprechen wir von einer moralischen Mitwirkungspflicht des Einzelnen, die sich allerdings im Bereich des Zumutbaren bewegen muss. Staatliche Aufforderungen zu moralischem Heldentum in der privaten Lebensführung werden von uns zurückgewiesen.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik  Special 6, November/Dezember 2024, S. 34-35

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Prof. Dr. Armin Grunwald ist Inhaber des Lehrstuhls für Technikphilosophie 
und Technikethik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Seit 2021 ist er Mitglied des Deutschen Ethikrats und dort stellvertretender Sprecher der 
AG Klimaethik.

Prof. Dr. Kerstin Schlögl-Flierl ist Inhaberin des Lehrstuhls für Moraltheologie an 
der Universität Augsburg und seit 2020 Mitglied 
des Deutschen Ethikrats. Dort ist sie Sprecherin der AG Klimaethik.