Einfach machen!
Die „Methode Monnet“ ist am Ende, die EU in der Dauerdepression. An einem wirklich föderalen Europa führt kein Weg vorbei
Wie man es dreht und wendet: Es sieht nicht gut aus für Europa. Die vielleicht einmalige historische Chance, den Kontinent infolge der Finanz- und Währungskrise politisch zu vereinen, wurde leichtfertig verspielt. Die transatlantische Ordnung, Garant für Wohlstand und Sicherheit seit Ende des Zweiten Weltkriegs, zeigt Auflösungserscheinungen. Die Innovationskraft ist auf einen Stand gefallen, dass Debatten darum kreisen, ob kritische Infrastruktur ausschließlich aus den USA oder vielleicht doch auch aus China importiert werden darf. Dazu kommen der Brexit, eine nach wie vor fragile Währungsunion, deren Festigkeit spätestens mit der nächsten Rezession auf eine schwere Probe gestellt werden wird, das politische Versagen in der Rüstungspolitik, das moralische Versagen im Mittelmeer und eine immer konfusere politische Kultur, deren Fähigkeit zum rationalen Diskurs schwindet.
Kurz: Was noch vor wenigen Jahren als undenkbare, ja untragbare Entwicklung ins Reich der Fantasie verbannt worden wäre, ist heute mit erschreckender Selbstverständlichkeit als neuer Normalzustand anerkannt. In Berlin wie in Brüssel hat man sich mit alldem arrangiert. Fehlende Handlungsfähigkeit wird weniger schmerzlich wahrgenommen in einer Welt, in der Kompromissfähigkeit zum obersten Prinzip erhoben wurde. Der mühsam ausgehandelte Deal, der Weg des geringsten Widerstands, die Option mit den wenigsten Gegnern tritt an die Stelle widerstreitender Positionen und dem offenen Kampf um Mehrheiten. So entsteht ein nie enden wollendes Innehalten: lieber stehen bleiben, als zu riskieren, ein paar Schritte in die falsche Richtung zu gehen. Es gibt kein Wort dafür, wenn politische Gebilde derart unproduktiv und richtungslos um sich selbst kreisen. Bei einem Menschen würde man wohl von Depression sprechen.
Angesichts der Lethargie drohen die anstehenden Europawahlen zur Katastrophe zu werden. Es ist fraglich, ob die wohl auch diesmal geringe Beteiligung und die zu erwartenden Gewinne populistischer Parteien zu einem Umdenken führen werden. Wahrscheinlicher ist, dass man sich wieder auf den Standpunkt zurückziehen wird, man habe die Vorteile der EU einfach nicht hinreichend kommuniziert: Die Leute hätten noch immer nicht richtig verstanden, was sie an Europa haben. Wenn überhaupt, so seien externe Faktoren an der Unzufriedenheit schuld: globale Trends, die die Arbeitswelt vieler Europäer durcheinanderbringen und Ungleichheit fördern. Dinge allesamt, die außerhalb der Kontrolle politischen Handelns liegen. Dass Europa ein ernstes Problem mit der Demokratie und mit effektivem Regierungshandeln hat, wird nur sehr selten eingestanden, und dann nur hinter vorgehaltener Hand.
Das europäische Paradox
Wie können die Europäer, wie es Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron fordert, ihre Souveränität zurückgewinnen? Die Antwort ist ebenso einfach wie für viele immer noch schwer vorstellbar: Mit Souveränität oder Macht ist es wie mit dem Geld. Wo keines ist, kann man auch keines verteilen. Deshalb muss Europa selbst, wie der frühere Außenminister Joschka Fischer kürzlich am Rande einer Konferenz treffend formuliert hat, „zu einer Macht werden“.
Wie aber dieser Weg beschritten werden soll, ist alles andere als klar erkennbar. Die Idee einer kontinuierlich immer weiter zusammenwachsenden Konföderation, die eines fernen Tages, gewissermaßen automatisch, zu einer vollständigen politischen Union verflochten sein wird, musste früher oder später mit eng definierten staatlichen Interessen in Konflikt geraten. Die „Methode Monnet“, die schrittweise Ausweitung der Kompetenzen der Gemeinschaft unter Verzicht auf ein klar definiertes Integrationsziel, kann nur so weit funktionieren, wie es noch Projekte gibt, die sich vergemeinschaften lassen. Eigentlich hatte bereits die Währungsunion diese Methode überfordert. Wer nun eine europäische Armee fordert, die auf die gleiche Art und Weise entstehen soll, muss mit vergleichbaren Verwerfungen und „unintended consequences“ rechnen, wie sie auch die Einführung des Euro zur Folge hatte.
Das Ergebnis dieses Konflikts zwischen Gemeinschaftsprinzip und den kümmerlichen Überresten der nationalstaatlichen Souveränität führte nämlich keineswegs zu einer Teilung von Machtbefugnissen, wie dies EU-Optimisten häufig behaupten. Auch werden Hoheitsrechte nicht wirklich an Brüssel abgetreten: Die Macht diffundiert schlicht irgendwo zwischen Brüssel und den nationalen Hauptstädten und lässt keinen der beteiligten Akteure handlungsfähig zurück. Selten in der Geschichte gab es ein vergleichbares Versäumnis, ökonomisches Potenzial und schiere demografische Größe in politische Macht und Gestaltungsoptionen umzusetzen.
Besonders deutlich wird dies in der Finanzpolitik. Obgleich es in diesem Politikfeld keine nationalen Lösungen mehr gibt, gelingt es den EU-Mitgliedern nicht, ihrem jeweiligen nationalpolitischen Kontext zu entkommen. Während in weiten Teilen Europas gerade versäumt wird, dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur und Ausbildung zu tätigen, nähert sich der deutsche Haushaltsüberschuss mit 60 Milliarden Euro stetig den griechischen Gesamtstaatsausgaben (rund 90 Milliarden Euro) an. Ohne automatische Transfers kann keine Währungsunion über längere Zeit funktionieren. Das gilt für den Euro wie für andere Währungen, beispielsweise den Dollar. So besteuert der amerikanische Staat die Bürger New Yorks jährlich mit etwa 100 Milliarden Dollar mehr, als tatsächlich in New York ausgegeben werden. Der Rest wird durch Bundesprogramme wie Medicare, Medicaid, Social Security sowie Infrastruktur- und Militärausgaben neu verteilt. Florida, Michigan oder Kentucky hingegen geben jährlich Milliarden Dollar an Bundesmitteln aus, die von Bürgern anderer Staaten entrichtet werden – im Grunde ohne Klagen. Denn eine Union hat nicht nur einen wirtschaftlichen Nutzen. In Europa wehren wir uns dagegen noch immer, die Gesetze der Schwerkraft zu respektieren.
Wären solche und andere Fragen wie beispielsweise eine gemeinsame Rüstungspolitik Gegenstand entscheidender parlamentarischer Debatten, könnten sie ausgehandelt werden und in einen demokratischen Entscheidungsprozess münden. Dies lässt das Modell der EU, die zwar die Union im Namen trägt, de facto aber wie eine Konföderation agiert, nicht zu. Einer der größten Vorteile der Demokratie, unüberbrückbare Differenzen in einem Mehrheitsentscheid auflösen zu können, ist somit ausgehebelt.
Schon lange geht es für überzeugte Europäer nicht mehr darum, den Menschen zu erklären, warum Europa gut für sie ist. Es geht eher darum, deutlich zu machen, warum es in seiner momentanen Konfiguration nichts für sie tun kann, warum es nicht mehr funktioniert – gar nicht funktionieren kann – und was wir daran ändern können.
Die Vereinigten Staaten von Europa
Dabei ist es jedoch keineswegs nötig, das Rad neu zu erfinden. Es gibt in der Geschichte ein Beispiel, das erstaunlich viele Parallelen zum heutigen Europa aufweist: die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Die 13 ehemaligen Kolonien waren aus dem Unabhängigkeitskrieg gegen das Vereinigte Königreich mit enormen Schulden hervorgegangen. Gleichzeitig war die junge Union vom spanischen Florida im Süden und von den Briten im Norden bedroht, die sich in Kanada behauptet hatten. Das lose Regelwerk, das sich die ehemaligen Kolonien nach dem Unabhängigkeitskrieg gegeben hatten, war völlig ungeeignet, um die finanzielle und außenpolitische Herausforderung zu meistern. Es gab keine echte Exekutive, und der Kongress verfügte nicht über das Recht der Steuererhebung, um nationale Projekte finanzieren zu können. Sämtliche internationale Verträge mussten von jedem Mitgliedstaat einzeln ratifiziert werden, damit sie in Kraft treten konnten. Amerika befand sich damals also in einem ähnlich unhaltbaren Zustand wie Europa heute. Aus diesem Grund kam es 1787 zur Ausarbeitung der Verfassung in Philadelphia – der Rest der Geschichte ist bekannt. Die USA wurden zur mächtigsten politischen Union der Welt.
Von den USA lernen heißt keineswegs, dass man alle Fehler wiederholen muss, die im Laufe der Zeit in Washington begangen wurden. Vielmehr geht es darum, die drei zentralen Leistungen dieser Vereinigung anzuerkennen: die Ermächtigung des Unions-Parlaments, die Übertragung des Oberbefehls über die Armee an die Regierung in Washington und die Konsolidierung der Schulden der Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Staatsschuld, die durch das „volle Vertrauen und die Bonität“ der US-Regierung abgesichert wurden.
Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche und handlungsfähige Europäische Union sind im Kern dieselben wie vor 250 Jahren in Amerika. Was nur gemeinsam gemacht werden kann, muss auf die europäische Ebene gehoben, von der europäischen Exekutive gestaltet und im Europäischen Parlament legitimiert werden. Die Geschichte zeigt, dass erfolgreiche Unionen nicht aus graduellen Prozessen in ruhigen Zeiten entstehen, sondern als Konsequenz scharfer Umbrüche in Perioden, die von extremen Krisen gekennzeichnet sind. Die politische Union bedarf nun eines Moments der kollektiven Kraftanstrengung ihrer Bürger: Eine vollständige, parlamentarische Schulden- und Verteidigungsunion ist der einzige Weg, um Europas Krise zu lösen und auswärtige Gefahren dauerhaft abzuwenden. Nur so kann Europa endlich zu der positiven Kraft auf der Weltbühne werden, die es eigentlich sein müsste.
Dazu muss der Mythos der Methode Monnet überwunden werden. Wir stehen vor der Entscheidung: politische Union oder Rückfall in die Nationalismen des 19. Jahrhunderts. Bei zahlreichen Organisationen, die sich der europäischen Sache verschrieben haben, ist diese Erkenntnis noch nicht wirklich angekommen. Ein Festhalten am europäischen Multilateralismus bedeutet einen gefährlichen Irrweg, der bestenfalls in der Erstarrung der europäischen Einigung enden wird. Außerdem muss Europa kritikfähig werden. Es ist an der Zeit, die sehr realen Konstruktionsfehler der EU einzugestehen, anstatt ständig dieselben Vorteile der Gemeinschaft vorzubeten. Auch sollten wir damit aufhören, das Narrativ vom Friedensprojekt überzustrapazieren. Denn auch dieses ist nicht wirklich ehrlich, war es doch die NATO, und nicht die EU, die vor allem den Frieden in Europa gewahrt hat.
Und schließlich: Macrons Scheitern zeugt nicht nur vom Ende der Methode Monnet und der Notwendigkeit, den prozesshaften Charakter der europäischen Einigung zu überwinden. Wir müssen auch überdenken, in wen wir unsere Hoffnung setzen. Die europäischen Nationalstaaten und ihre Regierungen sind so weit gegangen, wie sie gehen konnten. Jeder weitere Schritt in Richtung Europa kommt einer Selbstaufgabe gleich und kann niemals vom Mandat einer nur im nationalen Kontext legitimierten Regierung abgedeckt sein. Zu erwarten, dass Frankreich und Deutschland diesen Schritt zusammen herbeiführen können, ist Traumtänzerei. Tatsächlich wird sich ein neues Europa nicht mit oder über den Nationalstaat errichten lassen, sondern nur gegen ihn. Dies erfordert eine massive Politisierung der europäischen Zivilgesellschaft. Die Träger der europäischen Idee müssen fortan die europäischen Regionalregierungen, Unternehmen, Interessenverbände, Parteien, Gewerkschaften, kurz: die Bürger selbst sein. Es bedarf vieler Kleiner, um dem ewigen Klein-Klein der wenigen Großen endlich ein Ende zu setzen.
Prof. Brendan Simms lehrt Geschichte an der Universität Cambridge und ist Vorsitzender des Project for Democratic Union. Benjamin Zeeb ist Geschäftsführer des PDU.
Internationale Politik 3, Mai/Juni 2019, S. 14-18