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01. März 2004

Eine unendliche Geschichte?

Der Krieg in Tschetschenien

Die russische Strategie zur Befriedung Tschetscheniens ist gescheitert; der Konflikt dauert an und
belastet die gesamte Region. Beate Maeder-Metcalf schlägt Lösungsmöglichkeiten vor.

Im Sommer 2002, drei Jahre nach dem Beginn des zweiten Tschetschenien-Krieges, verkündete der Kreml öffentlich eine neue Strategie zur Befriedung Tschetscheniens, die so genannte „Normalisierung“, die auf das schon mehrfach proklamierte Ende der Kampfhandlungen folgen sollte. Diese Strategie beinhaltete, dass zivile Regierungsfunktionen wie Polizei und Verwaltung an die Tschetschenen zurückgegeben werden sollten. Dies erforderte den Aufbau rechtmäßiger Institutionen, die die provisorische tschetschenische Verwaltung unter Achmed Kadyrow ersetzen sollten, welche noch auf einem Dekret Präsident Wladimir Putins vom Juni 2000 beruhte. Ferner sollte der Normalisierungsprozess rechtliche, wirtschaftliche und militärische Maßnahmen beinhalten wie z.B. eine Amnestie zur Demobilisierung der Kämpfer, die Finanzierung des Wiederaufbaus in Tschetschenien und die Übergabe der Leitung der Antiterrorkampagne vom Geheimdienst FSB an das Innenministerium.

Diese Strategie muss als gescheitert bezeichnet werden, denn das Versprechen einer zivilen Normalität wurde bisher nicht eingelöst. Die „Normalisierung“ hat die Gewalt zwischen den russischen Truppen vor Ort und den tschetschenischen Rebellen nicht verringert, die Situation ist kaum besser geworden und die geringen Fortschritte sind brüchig. Der Hauptgrund für das Scheitern der Strategie liegt darin, dass sie von Anfang an konzipiert war als Alternative zu ernsthaften Verhandlungen mit den realen Gegnern in Tschetschenien, vor allem mit dem 1997 gewählten Präsidenten Aslan Maschadow und mehreren Kriegsherren auf der tschetschenischen Seite. Anstatt die bewaffneten Separatisten in den Normalisierungsprozess einzubeziehen, ging der Krieg weiter, und der Kreml verhandelte mit Kadyrow, seinem eigenen Repräsentanten in Tschetschenien. Präsident Putins Eingeständnis, dass der Konflikt politisch gelöst werden müsse, wurde so gleichsam neutralisiert von seiner Überzeugung, dass Verhandlungen mit Terroristen grundsätzlich ausgeschlossen seien.

Der Aufbau ziviler tschetschenischer Institutionen im Jahr 2003 vollzog sich dementsprechend unter erheblichen Verfahrens- und Legitimationsmängeln: Bei dem Verfassungsreferendum im März 2003 wurde zwar der aus Kadyrows Umfeld stammende Entwurf mit großer Mehrheit angenommen, aber die Umstände des Referendums waren Mehr als zweifelhaft. Die Wahl zum tschetschenischen Präsidenten am 5. Oktober 2003 gewann Kadyrow, nachdem der Kreml für das Ausscheiden seiner drei wichtigsten Rivalen gesorgt hatte. Dieserist aber in Tschetschenien keine Integrationsfigur; seine Wahl war somit auch kein Schritt in Richtung Stabilität und Frieden. Auch die übrigen wirtschaftlichen und rechtlichen Maßnahmen hin zur Normalität waren bisher wenig effektiv.

Während der „Normalisierung“ haben die Gewaltakte in Tschetschenien und anderswo sogar wieder zugenommen. Im Juli 2003 sprengten sich zwei junge Selbstmordattentäterinnen am Eingang eines Rockfestivals in die Luft. Wie die Geiselnahme im Moskauer Nord-Ost-Theater im Oktober 2002 war dies ein Indiz dafür, dass der Konflikt sich nicht auf den Kaukasus begrenzen lässt, dass eine neue Kämpfergeneration, die auch Frauen einschließt, mit neuen Strategien auftritt. Selbstmordanschläge, die es im Kaukasus erstmals 2000 gab, sind inzwischen zu einem Merkmal des zweiten Krieges geworden – parallel zum Aufstieg eines importierten Islamismus. Die Terroristen zielen nicht mehr nur auf militärische Ziele, sondern versuchen möglichst viele zivile Opfer zu treffen: neue Terroristen, neue Strategien und neue Ziele sind nun auf der Tagesordnung tschetschenischer Rebellen. Diese Zuspitzungen haben den FSB am 10. Juni 2003 veranlasst, über ein Palästina-Szenario1 zu sprechen: eine Situation am Rande Europas mit einem langwierigen Konflikt über Staatlichkeit und Territorium mit Guerilla, Selbstmordattentaten und Flüchtlingslagern in der ohnehin schon instabilen Kaukasus-Region.

Der Kreml setzt indessen weiterhin auf „Normalisierung“ – auch im Kontext des nationalen Wahlkalenders 2003/2004. Der Normalisierungsprozess soll in Wahlzeiten öffentlich den Rückzug Russlands aus Tschetschenien dokumentieren, denn die sich hinziehende Antiterroroperation ist in Russland nicht mehr populär. Vor fünf Jahren hatte der damalige Ministerpräsident Putin den zweiten Krieg als kurze Antiterrormaßnahme begonnen, im Frühjahr 2000 wurde er mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt.

Aber die „Normalisierung“ hat nicht nur keine zivile Normalität vor Ort geschaffen, die Situation ist inzwischen noch schlechter als am Ende des ersten Krieges 1996/97, der immerhin zu einem Waffenstillstand und zur international anerkannten Wahl Maschadows geführt hatte. Die russische Regierung kann den Krieg militärisch nicht gewinnen, ein asymmetrischer Konflikt droht, in eine Sackgasse zu geraten, in der weder die wirkliche Integration Tschetscheniens in Russland noch die Unabhängigkeit möglich erscheinen.

Ursachen

Für die Verdüsterung der Friedensperspektive in Tschetschenien gibt es unterschiedliche, sich verstärkende Ursachen: die sich verschlechternde Lage in Tschetschenien selbst, die innenpolitische Situation in Russland und das nachlassende internationale Interesse des Westens an diesem Konflikt seit dem 11. September 2001.

In Tschetschenien hat der zweite Krieg die Bedingungen für einen Frieden erheblich erschwert. Seit 1999 ist die Zivilbevölkerung, die unmenschlichem Leid, Mord, Folter und Vertreibung ausgesetzt war und ist, deutlich geschrumpft. Die Zahlen über zivile Todesopfer – obgleich schwer verifizierbar – scheinen denen im ersten Krieg zu entsprechen, die sich zwischen 35 000 Opfern nach offiziellen russischen Quellen und 100000 Opfern nach unabhängigen Quellen bewegen.2 Russische Militär- und Antiterrormaßnahmen, die „Säuberung“ von Dörfern, haben die Zivilbevölkerung an den Rand der Erschöpfung gebracht und einen Nährboden für die nächste Terroristengeneration geschaffen. Gleichzeitig ist die tschetschenische Gesellschaft stärker zersplittert als je zuvor; islamischer Fundamentalismus und Dschihad-Ideologie, noch vor wenigen Jahren marginal, haben an Einfluss gewonnen.

Im Unterschied zum ersten Krieg, in dem es um klare Positionen ging – die Tschetschenen kämpften für ihre nationale, säkular begründete Unabhängigkeit, die russische Armee für die territoriale Integrität der Föderation – hat dieser zweite Krieg keine klaren Ziele mehr, über die wie noch 1996 verhandelt werden könnte. In diesem zweiten Krieg sind zudem Akteure auf tschetschenischer wie auf russischer Seite sichtbar geworden, die unterschiedliche politische und ökonomische Interessen verfolgen. Zu den wichtigsten tschetschenischen Rebellen gehört Maschadow als Führer der alten Exilregierung, der nationale und säkulare Ziele wie Unabhängigkeit oder zumindest eine konditionierte Souveränität anstrebt. Die Ideologie Shamil Bassajews dagegen ist fundamentalistisch, er verbündete sich 1998 mit Omar Ibn al-Chattab mit dem Ziel, aus Tschetschenien und Dagestan eine islamische Republik zu machen. Eine dritte, ideologisch neutrale Gruppe um den – Anfang März von russischen Grenztruppen erschossenen – Ruslan Gelajew operiert von Georgien aus. Dazu ist eine neue junge „unideologische“, aber gefährliche Rebellengeneration auf den Plan getreten, der die Geiselnahme in dem Moskauer Theater im Oktober 2002 und die Selbstmordattentate bei dem Rockfestival im Juli 2003 zugeschrieben werden.

Die Fragmentierung unter den Akteuren ist auch auf russischer Seite zu beobachten. Die russische Militär- und Polizeimaschinerie umfasst über 90 000 Personen in Tschetschenien;3 das Personal kommt aus dem Verteidigungs- sowie dem Innenministerium sowie den Geheimdiensten FSB und GRU.

Auf beiden Seiten sind ferner Kriegsprofiteure als weitere Akteure hinzugekommen. Eine Kriegsökonomie mit Kriegsgewinnlern, die mit Öl, Waffen und Menschenleben handeln, hat sich entwickelt – sie haben zwar keine im engeren Sinne politischen Ziele, aber auch kein Interesse an einer Beendigung des Konflikts. Mafiastrukturen und Banditentum haben sich verfestigt, auch gerade auf Seiten der russischen Sicherheitskräfte, die offiziell für Recht und Ordnung sorgen sollen.

Auf nationaler russischer Ebene waren und sind die kurzfristigen Bedingungen für echte Friedensverhandlungen wegen der Parlaments- und Präsidentenwahlen ebenfalls ungünstig. Putin könnte die Strategie der „Normalisierung“ nicht verändern, ohne ihr Scheitern einzugestehen. Disziplinarische Maßnahmen gegen die russische Armee in Tschetschenien oder gar ein Rückzug der Truppen sind in Wahlzeiten nicht denkbar.

Doch auch mittelfristig – nach den Präsidentenwahlen im März 2004 – ist mit einem Politikwechsel im Kreml wahrscheinlich nicht zu rechnen. Die Politik des Kremls in Tschetschenien ist eng verbunden mit Russlands Transformationsprozess und mit Machtfragen in Moskau. Der Antiterrorkampf rechtfertigt den verstärkten Einfluss des Militärs und des Geheimdienstes in Regierungsfunktionen während der ersten Präsidentschaft Putins: 26% dieses Personals kamen 2002 aus dem Sicherheitsbereich – im Vergleich zu 3% unter Michail Gorbatschow und bis zu 11% unter Boris Jelzin. Die Bekämpfung des Terrorismus in Tschetschenien war auch ein wichtiges Argument für die Politik der Restaurierung des russischen Rechtsraums in allen Territorien, die die Moskauer Zentralgewalt gegenüber den Föderationsstaaten stärkte. Iwan Rybkin,Jelzins Beauftragter für Tschetschenien und Präsident der Duma von 1994 bis1996, hat kritisch festgestellt, die heuchlerische Haltung gegenüber Tschetschenien behindere die Entwicklung der Demokratie in Russland.4

Auch die internationalen Beziehungen haben die äußeren Bedingungen für eine Friedenslösung erschwert. Der 11. September und die in der Folge von den USA angeführte internationale Antiterrorkoalition waren die Hauptursachen dafür.

Hatte der Westen vor dem 11. September – ungeachtet der Unterstützung der russischen Forderung nach Erhalt der territorialen Integrität – das russische Vorgehen in Tschetschenien zumindest unter humanitären Gesichtspunkten thematisiert und eine politische Lösung sowie internationales Engagement gefordert, verstummte er danach weitgehend angesichts neuer Prioritäten der internationalen Antiterrorkoalition.

Der russischen Regierung gelang es unterdessen, ihre Kampagne in Tschetschenien im Kontext und als Teil des nunmehr internationalen Krieges gegen den Terrorismus zu legitimieren. Sie begründete dies mit Aktivitäten islamistischer Gruppen im Kaukasus und deren Verbindungen zu Al Khaïda. Gleichzeitig konzedierte der Kreml erstmals die Anwesenheit amerikanischer Truppen in Zentralasien und unterstützte die amerikanische Intervention in Afghanistan. Der 11. September war eine Gelegenheit zur Neugestaltung der amerikanisch-russischen Beziehungen über das gemeinsame Thema Terrorismus.

Diese Interessenlage besteht im Wesentlichen weiterhin, auch wenn Russland in der Auseinandersetzung über den Irak-Krieg den amerikanischen Unilateralismus verwarf und sich im UN-Sicherheitsrat an die Seite Deutschlands und Frankreichs stellte. Die russische „Normalisierungsstrategie“ wurde im Westen rasch als Versuch einer politischen Lösung akzeptiert. Diese Haltung ist paradox: Während die internationale Antiterrorkoalition zumindest in Europa auf der Überzeugung fußt, dass diese ein gemeinsames multinationales Vorgehen erfordere, das sich nicht auf das Militär beschränken dürfe, scheint es andererseits akzeptabel, dass Tschetschenien – von Moskau selbst als internationaler Terrorismus deklariert – doch zu Russlands inneren Angelegenheiten gehöre. Der Mangel an öffentlich zugänglicher Information über die Vorgänge in Tschetschenien wirkt sich an diesem Punkt besonders nachteilig aus. Es gibt keine internationale Medienberichterstattung aus Tschetschenien, während die nationalen Fernseh- und Rundfunksender von der russischen Regierung effektiv kontrolliert werden.

Auch wenn die offizielle westliche Kritik an Russlands Vorgehen in Tschetschenien weitgehend verstummt ist, sollte die verbreitete Kritik in der islamischen Welt an Moskau, aber auch an westlichen „Doppelstandards“ nicht unterschätzt werden – zumal wenn dem Westen an einem Dialog mit den islamischen Ländern gelegen ist. Der sich hinziehende Konflikt gegen eine muslimische Bevölkerung hat das Potenzial, Muslime an anderen Orten zu mobilisieren. In pakistanischen Moscheen etwa wird das Schicksal der Tschetschenen regelmäßig in den Freitagsgebeten beschworen, ebenso wie das der Glaubensgenossen in Kaschmir und Palästina.

Lösungswege

Zunächst ist ein echter politischer Wille zur nachhaltigen Konfliktlösung bei den russischen Eliten in Politik und Armee und unter den tschetschenischen Warlords erforderlich. Unter Verfahrensgesichtspunkten wären Verhandlungen im Geist des Kompromisses mit allen relevanten Akteuren einschließlich der Terroristen notwendig. Die Einbeziehung aller Akteure ist wesentlich, um aus der Gewaltspirale auszubrechen.

Des Weiteren müssen all diejenigen, die auf russischer wie tschetschenischer Seite Interesse an der Fortsetzung des Krieges haben, marginalisiert werden. Ein effektiver Waffenstillstand ist notwendig. Russische Truppen müssen aus Tschetschenien abziehen, die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung muss aufhören. Marginalisierung bedeutet aber auch Vorgehen gegen die Kriegsgewinnler und gegen die externe Finanzierung islamistischer Terrorgruppen.

Darüber hinaus sind internationale Präsenz und Unterstützung während des Friedensprozesses unabdingbar. Nach einem Abzug russischer Truppen darf kein Machtvakuum entstehen. Die lang zurückliegende genauso wie die jüngste Geschichte des russisch-tschetschenischen Konflikts, seine Wurzeln in der Kolonisierung des Kaukasus in der Zarenzeit – all dies lässt allerdings vermuten, dass Russland dieses Problem allein nicht wird lösen können. Andererseits haben europäische Organisationen wie der Europarat und die OSZE, deren Mitglied Russland ist, legitime Anliegen bei der Bewältigung dieses Konflikts, der eine massive Verletzung ihrer Normen und Russlands Verpflichtungen in Europa darstellt. Beide Organisationen waren in dieser Frage bereits politisch involviert. Die OSZE war während des ersten Krieges vor Ort, vermittelte den Waffenstillstand von Chassav-Jurt und beobachtete die Präsidentschaftswahlen im Januar 1997. Die EU, Russlands strategischer Partner, hat jedoch das Thema Tschetschenien in ihrem Dialog mit Moskau nur zaghaft berührt. Sie ist andererseits in der Region engagiert als wichtigster Geber humanitärer Hilfe für Flüchtlinge. Es ist wahrscheinlich, das Russland im Falle des Wiederaufbaus Tschetscheniens finanzielle Unterstützung aus Europa anfordern würde.

Friedenswille, Marginalisierung der Kriegsgewinnler und internationales Engagement: diese drei Bedingungen sind notwendig für eine erfolgreiche Friedenslösung, die am Ende eines Friedensprozesses stehen könnte. Diese Bedingungen stellen aber noch keine hinreichende „Roadmap“ im Sinne eines stufenförmigen Friedensplans dar. Eine Reihe solcher Pläne und Initiativen wurde seit 2001 veröffentlicht, unter anderem von Jewgenij Primakow, Zbigniew Brzezinski und Alexander Haig.5 Unter ihnen ist Primakow trotz seiner Kritik an Putins Politik der einzige, der ein internationales Engagement in Tschetschenien ablehnt.

Was die Frage des Status Tschetscheniens innerhalb oder außerhalb der Russischen Föderation betrifft, so beziehen sich die meisten dieser aktuellen Friedensinitiativen nicht mehr explizit darauf. Die Frage der nationalen Unabhängigkeit, das Schlüsselthema im ersten Krieg, ist derzeit beiseite geschoben. Für die Zivilbevölkerung in Tschetschenien geht es um das blanke Überleben, nicht um die Unabhängigkeit. Und sogar traditionelle Separatisten wie Maschadow streben nicht länger nach einem unabhängigen Staat. Ilyas Achmadow, einer seiner Mitarbeiter, schlug im Jahr 2002 einen Plan für eine konditionierte Souveränität vor. Dieser Plan verbindet tschetschenische Selbstbestimmung und russische Sicherheitsinteressen und schlägt vor, den Friedensprozess über eine Struktur internationaler Kontrollen und Treuhandschaft zu gestalten.6

Wichtig für Europa

Die Entwicklung eines Palästina-Szenarios in Tschetschenien am Rande Europas mit andauernder Gewalt, Terrorismus, Menschenrechtsverletzungen und allen Anzeichen von Ordnungslosigkeit widerspricht nicht nur europäischen und westlichen Werten, sondern auch ihren Sicherheitsinteressen.

Die Intensität der Gewalt in Tschetschenien ist bereits jetzt ein Grund zur Sorge; sie ist vergleichbar mit bewaffneten Konflikten im Nahen Osten und in Afrika. Die 90 000 russischen Soldaten und Polizisten sind auf den zerstörten Mittelteil des Landes um die Hauptstadt Grosny konzentriert, auf einem Gebiet von ungefähr 1800 km2. Das hat dazu geführt, dass sie teilweise selbst zu einer Quelle von Gewalt und Terror geworden sind. Sie setzen ihre Mittel oft unverhältnismäßig ein, und Disziplinierungsversuche des Kremls haben bislang wenig Erfolg gehabt.

Der fortwährende Konflikt belastet die ganze Region. Seit 1999/2000 leben über 100 000 tschetschenische Flüchtlinge unter schwierigen Bedingungen in Inguschetien und Dagestan. Tschetschenische Rebellen sind in Georgien aktiv. Künftige Terroristen werden ihre Operationen vielleicht nicht mehr auf die Region und auf Moskau begrenzen.

Gewaltakte gegen die zivile muslimische Bevölkerung und der vom Kreml propagierte Krieg gegen islamischen Terrorismus stärken die Solidarität mit den Glaubensbrüdern in muslimischen Ländern sowie in islamischen Zirkeln in Europa. Der Westen wird wegen „Doppelstandards“ kritisiert von Muslimen und von russischen Demokraten, die zudem von den Europäern mehr Einfluss auf den Kreml erwarten.

Und schließlich: Tschetschenien ist weiterhin ein Stolperstein für Russlands innere Entwicklung, es ist Russlands größtes Problem und seine Front im Antiterrorkampf.7 Da Europa – wie der Westen insgesamt – an einem stabilen und demokratischen Russland als einem langfristigen strategischen Partner interessiert ist, sollte es die Tschetschenien-Politik mit Russland aktiv betreiben – wenn möglich gemeinsam mit den Vereinigten Staaten.

Der Beitrag beruht auf einem Arbeitspapier, das die Verfasserin am 3.10.2003 der 4. Jahrestagung der Central Eurasian Studies Society an der Harvard-Universität vorgelegt hat. Die ursprüngliche englische Fassung mit weiteren Anmerkungen ist auf der Website des Auswärtigen Amtes zu finden <http://www.auswaertiges-amt.de/www/de/infoservice/download/pdf/planungs…;. Der vorliegende Beitrag gibt ebenso wie das ursprüngliche Arbeitspapier ausschließlich die Meinung der Verfasserin wieder.

Anmerkungen

1  FSB-Chef Nikolaj Patruschew, zitiert nach Viktor Paukov, in: Wremja Nowostej, Moskau, 11.6.2003.

2  Die Zahlen stammen aus Uwe Halbach, Das Verfassungsreferendum, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin 2003; s. auch Aleksandr Proskurjakov, Tschetschenien – Krieg ohne Ende? Strategie des asymmetrischen Kampfs, in:Osteuropa, Nr. 4, April 2003, S.452–463, hier S. 454.

3  Übersicht aus Proskurjakov, ebd., S. 453.

4  So in einem Interview mit der tageszeitung, 30.6.2003.

5  Siehe die Website des American Committee for Peace in Chechnya: <http://www.peace inchechnya.org>.

6  Ebenda.

7  Jewgenij Primakow am 10. September 2002, in einem Artikel „Reviewing Counter-Terror Tactics in Chechnya“. Einzusehen auf der Website <http://www.peaceinchechnya.org/peaceplans&gt;.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2004, S. 59-65

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